Es wird verhandelt
In Reaktion auf den andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine werden regelmäßig Verhandlungen gefordert. Bevor hier die zentralen Herausforderungen für solche Verhandlungen zusammengefasst werden, muss erst einmal festgestellt werden, dass nicht etwa der »Gesprächsfaden abgerissen ist«. Im Rahmen internationaler Organisationen, vom UN-Sicherheitsrat bis zur G20, wird regelmäßig mit hochrangigen Vertretern Russlands gesprochen. Im Vorfeld des russischen Angriffs, von Dezember 2021 bis Februar 2022, gab es über 40 bilaterale Gespräche auf der Ebene von Ministern oder Regierungschefs westlicher Staaten mit Russland. Auch aktuell gibt es noch Telefonate etwa des deutschen Bundeskanzlers oder des französischen Staatspräsidenten mit dem russischen Präsidenten. Die Ukraine verhandelte mit Russland in den ersten Kriegswochen über ein Friedensabkommen. Es gab Verhandlungen über das Getreideabkommen, zuletzt im November. Es gibt regelmäßig Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen. Vermittelt über die Internationale Atomenergie-Organisation wird über den Status des Atomkraftwerks Saporischschja verhandelt.
Einzige greifbare Ergebnisse all dieser Verhandlungen sind das Getreideabkommen, das auch russische Interessen berücksichtigt, und der Austausch von Kriegsgefangenen. Forderungen nach Verhandlungen meinen also nicht, dass endlich mal geredet werden muss, sondern dass endlich Ergebnisse erzielt werden sollen. Das ist derzeit aber nur möglich, wenn Russland Zugeständnisse gemacht werden. Russland hat ein Viertel des ukrainischen Staatsgebietes für annektiert erklärt und kontrolliert de facto derzeit etwa 18 % der Ukraine. Ein Rückzug ist von russischer Seite offensichtlich nicht vorgesehen. Territoriale Zugeständnisse an Russland müssten also Teil der Verhandlungen sein. Völlig unabhängig von der Frage, wer unter welchen Umständen solche Zugeständnisse machen könnte, ergeben sich dabei drei zentrale Probleme, auf die bei jeder Forderung nach Verhandlungen eine Antwort gegeben werden muss.
Terrorregime in den besetzten Gebiete
Der Bevölkerung in den von Russland besetzten Gebieten bringt eine Verhandlungslösung keinen Frieden. Sie würde auf Dauer von russischen Besatzern terrorisiert. Diebstahl und Enteignung durch russische Armeeangehörige sind an der Tagesordnung. Es gibt umfangreiche Kontrollen auf pro-russische Einstellung (»Filtration«), willkürliche Erschießungen und Hinrichtungen, Foltergefängnisse und massenhafte Verschleppung von Kindern, die in Russland zwangsadoptiert werden. Da die besetzten Gebiete von Russland abgeschottet werden – der freie Zugang von internationalen Organisationen, unabhängigen Beobachtern oder Journalisten ist nahezu unmöglich –, wird der ganze Umfang russischer Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen nur dort deutlich, wo die russischen Truppen abgezogen sind.
Sicherheitsgarantien für die Ukraine
Russland hat die territoriale Integrität der Ukraine mehrfach anerkannt. Bereits der Vertrag zur Auflösung der Sowjetunion garantierte 1991 die territoriale Integrität. Im Budapester Memorandum bestätigte Russland 1994 nicht nur die territoriale Integrität der Ukraine sondern auch den Verzicht auf militärischen oder wirtschaftlichen Zwang als Gegenleistung für die Übergabe der ukrainischen Atomwaffen an Russland. Im 1999 in Kraft getretenen russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag wurde erneut die Unverletzbarkeit der Grenzen bestätigt. 2003 unterzeichnete der russische Präsident Wladimir Putin persönlich den internationalen Vertrag, der den genauen Verlauf der russisch-ukrainischen Grenze festlegte.
All diese Garantien der ukrainischen Grenzen hat Russland bereits 2014 mit der Annexion der Krim gebrochen. Außerdem hat Russland seit 2014 über den Einsatz der eigenen Armee in der Ukraine immer gelogen. So wurde behauptet, die russische Armee sei nicht an der Annexion der Krim beteiligt gewesen. Ein Jahr später gab Putin den russischen Einsatz in einer Fernsehdokumentation zu. Russland bestreitet bis heute die Verantwortung für den Abschuss eines zivilen Flugzeugs über der Ostukraine im Sommer 2014, obwohl mittlerweile rechtskräftige Verurteilungen durch das zuständige niederländische Gericht vorliegen. Ebenso hat Russland bestritten, die eigene Armee vor 2022 in den Separatistengebieten in der Ostukraine stationiert zu haben, obwohl es regelmäßig Beweise für die Anwesenheit russischer Truppen gab. Noch wenige Tage vor dem Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 leugnete Russland vehement entsprechende Vorwürfe und bezeichnete sie als westliche Panikmache und Propaganda.
Wenn es jetzt eine Verhandlungslösung geben sollte, wäre es naiv zu glauben, dass sich Russland nun an alle Vereinbarungen hält. Wenn die Ukraine sicher sein will, dass sie nicht wieder wie im Februar 2022, in einem unerklärten Krieg von Russland überfallen wird, braucht sie Sicherheitsgarantien. Ansonsten gibt eine Verhandlungslösung Russland nur Zeit, wieder aufzurüsten, um einen neuen Angriff zu starten.
Präzedenzfall erfolgreicher Eroberung
Es geht aber nicht nur um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Eine Verhandlungslösung mit Russland würde der ganzen Welt demonstrieren, dass Kriege wieder für Gebietsgewinne genutzt werden können. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Eroberungskriege nicht nur durch internationales Recht verboten, sondern Kriege zwischen Staaten sind tatsächlich zu einer Ausnahme geworden. Versuche, durch Annexionen Staatsgrenzen zu verschieben, werden international nicht anerkannt.
Jede aktuell realistische Verhandlungslösung mit Russland müsste aber russische Eroberungen akzeptieren. Das wäre ein globales Signal, dass Eroberungen möglich sind, und eine bessere militärische Vorbereitung die Kosten für solche Eroberungen reduziert. Folge wäre nicht nur ein stärkeres Wettrüsten in vielen Weltregionen, sondern der vermeintliche Frieden in der Ukraine würde Eroberungskriege in der Welt wahrscheinlicher machen.
Resümee
Im Ergebnis gilt, was der Russland-Experte und ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, jüngst auf Twitter prägnant formulierte: “No one I know is against diplomacy with Putin to end his invasion of Ukraine. And no one I know has a workable, realistic strategy for achieving or even starting that process. Shouting‚ ‘more diplomacy’ is not a strategy. It is not ‘realism’ ”.
Die oft wiederholte Aussage, dass jeder Krieg durch Verhandlungen endet, verstellt den Blick dafür, dass in vielen Fällen – vom Zweiten Weltkrieg bis zum Abzug der USA aus Afghanistan – dabei keine Lösung ausgehandelt wurde, sondern das Ergebnis durch den Krieg vorgegeben war. Umgekehrt bringen echte Verhandlungslösungen keinen Frieden, wenn sich eine Seite nicht verpflichtet fühlt, sich auch dann noch an das Verhandlungsergebnis zu halten, wenn eine erneute militärische Eskalation Erfolge verspricht oder wenn die Verhandlungslösung sabotiert werden kann, wie Russland das bereits im Fall der Minsker Abkommen praktiziert hat.
In einer globalen Perspektive geht es vor allem darum, dass verhindert werden muss, dass das Verschieben von Staatsgrenzen durch einen Angriffskrieg und massenhafte Kriegsverbrechen wieder dauerhaft Teil von Außenpolitik werden können. Es geht um sehr bescheidene Mindeststandards für die friedliche Koexistenz von Staaten. Diese werden von Russland im Krieg gegen die Ukraine jeden Tag systematisch, massiv und von menschenverachtender Propaganda begleitet gebrochen. Das sollte nicht verhandelbar sein.
Der Kommentar ist zuerst erschienen in den Russland-Analysen 427 vom 08.12.2022.