Etwa zwei, drei Monate vor dem 24. Februar 2022 wurde ich von sehr schweren Gefühlen und düsteren Gedanken geplagt. Nach 15 Jahren Forschung über Russland, seinen Einfluss in der Ukraine und in Europa hatte ich keinen Zweifel mehr, dass ein großer Krieg vor der Tür stand. Ich habe darüber in ukrainischen Medien (https://nv.ua/ukr/opinion/rosiyska-agresiya-do-chogo-potribno-gotuvatisya-ukrajini-putin-novini-ukrajini-50206367.html) und im Ausland (https://libmod.de/en/burkovskyi-european-security-russia/) geschrieben. Aber das war nicht das, was mich am meisten beunruhigte und ärgerte. Am schlimmsten trafen mich die Untätigkeit des Westens und die vorherrschende Meinung in den westlichen Medien, dass, erstens, Putin nicht angreifen wird, und, zweitens, die Ukraine im Falle eines Angriffs aufgrund ihrer Schwäche und der Stärke Russlands keine Chance hat. Unterdessen zeigten unsere Umfragen vor Kriegsbeginn, dass sich die ukrainische Gesellschaft konsolidierte (https://dif.org.ua/en/article/media-consumption-in-ukraine-change-in-media-needs-and-defeat-of-russian-propaganda), wodurch die russische Armee auf einen starken, organisierten Widerstand (https://dif.org.ua/en/article/the-threat-of-a-further-invasion-public-opinion-on-the-conflict-potential-compromises-and-resistance-to-russia) stoßen würde. Es schien, dass alles, was wir als Meinungsforscher:innen tun, sehr wenig Wirkung auf eine der wichtigen Zielgruppen hat – unsere westlichen Verbündeten.
Nun gut, nach dem 24. Februar kehrte das Vertrauen zurück, dass wir alles richtig gemacht haben. Die Realität bestätigte unsere vorsichtigen Vorhersagen. Das hat uns Kraft und Inspiration gegeben, unsere Arbeit fortzusetzen.
Jetzt konfrontierte uns aber die Realität mit einer ganzen Reihe neuer, noch nie dagewesener Herausforderungen. Millionen Menschen wurden vertrieben. Viele Wohnorte wurden zu Schlachtfeldern und waren nicht erreichbar. Große Städte wie Kyjiw, Charkiw und Mykolajiw wurden belagert und standen unter täglichem Artilleriefeuer. Die emotionale Verfassung von Millionen Ukrainer:innen hatte die Grenzen des Ertragbaren erreicht.
All dies hat ernsthafte ethische Fragen bezüglich der Angemessenheit (Sicherheit) und Zuverlässigkeit jeder quantitativen Forschung und den Erkenntnissen aufgeworfen, die sich aus ihr gewinnen lassen. Außerdem war die Finanzierung für potenzielle Projekte unklar.
In dieser Situation hatten wir das Glück, zuverlässige Partner in Großbritannien zu haben, die bereit waren, unseren mutigen Plan zu unterstützen. Im März realisierten wir so die erste groß angelegte Umfrage unter 1.000 Binnenvertriebenen, die sich in fünf westlichen Regionen der Ukraine aufhielten: Ternopil, Iwano-Frankiwsk, Lemberg, Czernowitz und Transkarpatien. Unser anderer langjähriger Partner – das Zentrum für Politische Soziologie, in dem Fachleute des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine arbeiten, sorgte für die Organisation der Umfrage mit einem Netzwerk von Interviewer:innen, die trotz des Krieges das Land nicht verließen.
Also begannen wir in relativ sicheren Regionen des Landes die Befragung von Menschen, die unter extremem Stress ihrem Wohnort verlassen hatten. Wir wollten herausfinden, was genau sie fühlten, wie Krieg und Stress ihre Wahrnehmung der Realität, ihre Hoffnungen und Ängste beeinflussten. Schon damals waren wir beeindruckt, wie stark die Ukrainer:innen sind. Dank der Umfrage haben wir verstanden, was genau getan werden muss, um sie zu unterstützen. Anschließend entwickelten wir einige Ideen für eine neue Studie unter der Bevölkerung mit ständigem Wohnsitz, um abzuschätzen, inwieweit die Gesellschaft im Krieg anpassungsfähig ist und den organisierten Widerstand unterstützen kann.
Auch hier hatten wir das Glück, nicht weniger entschlossene Kolleg:innen im Ausland zu haben, die der Ukraine helfen wollten. Eine Forscherin aus Oxford, Dr. Marnie Howlett, investierte ihr eigenes Stipendium, das sie von der Universitätsstiftung erhalten hatte, um eine Reihe unserer und ihrer eigenen Hypothesen über den Zustand der ukrainischen Gesellschaft zu testen. Wir haben gemeinsam entschieden, dass die Sicherheit der Befragten und Interviewer:innen oberste Priorität hat. Darüber hinaus verfügten wir im April und Mai kaum über Interviewer:innen, die bereit waren, die Interviews persönlich durchzuführen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns für die Option mit 1.000 Befragten in allen westlichen plus vier zentralen Regionen (Winnyzja, Chmelnyzkyj, Tscherkasy, Kropywnyzkyj) entschieden.
Im Rückblick sind wir überzeugt, dass die Ergebnisse (https://dif.org.ua/en/article/how-the-war-changed-the-way-ukrainians-think-about-friends-enemies-and-the-countrys-strategic-goals) diese Entschlossenheit rechtfertigen. Im Mai wurde im Donbas heftig gekämpft. Die Lieferung westlicher Waffen wurde durch die Angst vor einer »russischen Eskalation« und einem »Atomkrieg« gebremst. Dabei wurden in den USA und Europa immer noch Rufe nach einem »Kompromiss für den Frieden« laut. Unsere Forschung, so unvollkommen und unvollständig sie auch sein mag, hat jedoch gezeigt, dass es in der Ukraine bereits zu einer Wende im öffentlichen Bewusstsein gekommen war. Wir haben gesehen, dass die Menschen trotz aller Schwierigkeiten an ihre Stärke und Siegeskraft glauben. Wir haben die ersten Beweise dafür erhalten, dass die Ideologie der »russischen Welt«, die die Themen der russischen Sprache und Kultur, der orthodoxen Religion und der Idee einer »gemeinsamen Nation von Russen und Ukrainern« manipulierte, für immer gestorben ist.
Und wir setzten unsere Arbeit natürlich fort. Da klar war, dass genaue Statistiken und demografische Daten [die für eine repräsentative Stichprobe der gesamten Bevölkerung erforderlich sind – Anm. der Übersetzerin] bis zum Ende des Krieges nicht verfügbar sein werden, beschlossen wir, ein weiteres Experiment durchzuführen – eine Umfrage in großen Städten und Gemeinden mit jeweils unterschiedlicher Sicherheitslage. Wir wollten sehen, wie sich die öffentliche Meinung unter dem Einfluss verschiedener Sicherheitslagen, besonders unter bedrohlichen Umständen verändern würde. Wir wollten die Umfrage auch in Charkiw durchführen. Doch die verschlechterte Sicherheitslage aufgrund des Beschusses der Stadt durch die russische Armee machte dies unmöglich. Dank der Entschlossenheit unserer Kolleg:innen vom Kyjiwer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) gelang es uns jedoch, von Juli bis September Umfragen in Saporischschja durchzuführen, das gelegentlich beschossen wurde, und in Mykolajiw, wo der Beschuss täglich fortgesetzt wurde. Der gesamte für die Umfrage vorgesehene Stadtteil von Mykolajiw, der Stadtteil Korabelnyj, war aufgrund der russischen Bombenangriffe völlig unzugänglich. Also haben wir uns kurzerhand entschieden, die Stichprobe auf andere Stadtteile umzuverteilen.
Auch dieses Mal haben sich unsere Erwartungen erfüllt. Dank dieser Umfrage fanden wir heraus, was die Regierung im Falle eines massiven Raketenangriffs tun sollte und wie die Gesellschaft insgesamt reagieren würde. Es wurde deutlich, dass die hybride Taktik des Feindes unter bestimmten Bedingungen scheitern würde. Genau das ist auch passiert. Das ist der größte Lohn für uns als Forschende.
Allerdings haben die Folgen der Raketenangriffe ab Oktober 2022, die noch andauern, unseren gesamten Arbeitsprozess erheblich erschwert und verlangsamt. Für Berichte, die wir früher innerhalb einer Woche erstellten, haben wir wegen Strom- und Internetausfällen mehr als drei Wochen gebraucht. Die Kommunikation mit unseren Kolleg:innen in der Ukraine und im Ausland war stark beeinträchtigt. Daher sind wir allen sehr, sehr dankbar, die Verständnis für diese Hindernisse bei der Arbeit und unsere langsamen Reaktionen auf verschiedene Anfragen hatten.
Ich möchte noch anmerken, dass der Vorschlag unseres langjährigen Partners, Prof. Heiko Pleines, sehr hilfreich war, einen Antrag auf deutsche Hilfsgelder zu stellen, um die technischen Voraussetzungen für unterbrechungsfreie Strom- und Internetversorgung zu schaffen. Wir hoffen, dass wir erfolgreich sind und unsere Arbeit unter diesen schwierigen Bedingungen erleichtert wird.
Ein weiterer sehr schwieriger Aspekt: der Status von wehrpflichtigen Männern. Viele junge Wissenschaftler meldeten sich in den ersten Kriegsmonaten freiwillig zum Militärdienst. Viele Forscherinnen gingen ins Ausland. Dieser Faktor wirkt sich bereits aus und ist deutlich bei der Arbeit zu spüren. Wir können nur hoffen, dass sich der Krieg nicht über Jahre hinzieht und das intellektuelle Potenzial des Landes nicht zerstört wird.
Dennoch blicke ich mit vorsichtigem Optimismus in die nahe Zukunft. Die russische Invasion hat viele Menschenleben gekostet und wird sie weiterhin fordern und das Schicksal von Millionen von Ukrainer:innen zerstören. Wir werden aber nicht aufgeben. Wir spüren die starke Unterstützung aller Menschen guten Willens in Europa. Glauben Sie mir, es ist auch inspirierend. Ich danke Ihnen!
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines