Verändert ein Krieg die geopolitischen Einstellungen? Die Antwort scheint offensichtlich: ja! Aber die Frage ist komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint. Im Dezember 2014 gaben John O’Loughlin und ich eine Umfrage (n=2033) in Auftrag, die von KIIS (dem Kyjiwer Internationalen Institut für Soziologie), einem angesehenen Meinungsforschungsinstitut, in sechs der acht Oblaste (Regionen) im Südosten der Ukraine durchgeführt wurde. Ziel der Umfrage war es zu untersuchen, inwieweit der Krieg die geopolitischen Einstellungen in diesem Gebiet nach dem Einmarsch Russlands in den Donbas verändert hatte (die Oblaste Donezk und Luhansk wurden aufgrund der Kämpfe, die im April 2014 begannen, nicht befragt). Als Ausgangsbasis haben wir die Ergebnisse mit einer früheren Umfrage verglichen, die von KIIS im April 2014 durchgeführt wurde, also am Vorabend der Kämpfe, die später den Donbas erfassen sollten (n=3.232). Es handelte sich zwar nicht um eine Panelerhebung (bei der dieselben Personen erneut befragt werden), aber wir erhielten so einen ziemlich deutlichen Unterschied zwischen den Stichproben kurz vor und nach Kriegsbeginn. Allerdings konnten wir den Donbas nicht in die Befragung aufnehmen, was bedeutete, dass wir Regionen in der Nähe der Kampfzonen und nicht entlang der Frontlinien befragten.
Wir hatten erwartet, eine deutliche Veränderung der Einstellungen zu beobachten. Stattdessen stellten wir fest, dass die Unterschiede in den Einstellungen recht bescheiden ausfielen, wohingegen die »weiß nicht«-Antworten deutlich zunahmen. Im April 2014 stimmten beispielsweise 10,2 Prozent der Befragten in den sechs vergleichbaren Oblasten einer möglichen Stationierung russischer Truppen »voll und ganz zu« oder »stimmten zu«; diese Zahl fiel im Dezember auf 5,6 Prozent. Im Gegensatz dazu lehnten 61,7 Prozent im April und 63,7 Prozent im Dezember die Stationierung russischer Truppen entschieden ab. Der Prozentsatz der »weiß nicht«-Antworten auf die Frage nach russischen Truppen hat sich von April bis Dezember unter denjenigen, die sich selbst als ethnische Russen in der Ukraine bezeichnen, fast verdoppelt (von 11,7 auf 20,4 Prozent). Der Unterschied zur ukrainischen Bevölkerung, die ebenfalls mit »weiß nicht« antwortete, stieg von 1,5 Prozent im April auf 9 Prozent im Dezember. Der Krieg hat in Teilen der Bevölkerung dazu geführt, dass strategische Kalkulationen bei der Beantwortung von heiklen Fragen eine größere Rolle spielen. Der Krieg führte auch zu einem geringen Effekt, der als »Scharen-um-die-Flagge« bezeichnet wird. Im Dezember 2014, nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen der letzten acht Monate im Donbas, war die Unterstützung für den Einsatz russischer Truppen sowohl bei den sich als ethnisch russisch identifizierenden als auch bei den ukrainischen Befragten deutlich geringer als im April.
Seit 2014 hat sich viel verändert. Mit der großflächigen Invasion im Februar 2022 hat Russland seinen Krieg auf die ganze Ukraine ausgedehnt und eine neue Stufe der Brutalität erreicht. Millionen Ukrainer:innen haben sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet und unterstützen die Kriegsanstrengungen des eigenen Landes nach Kräften. Etwa acht Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, sind ins Ausland geflohen, während weitere sechs Millionen Menschen innerhalb des Landes zu Binnenvertriebenen geworden sind. Der Krieg ist hässlich, grausam und ungerecht. In der Ukraine dominiert die patriotische Stimmung, aber auch das menschliche Leid ist groß. Sind öffentliche Meinungsumfragen in einem derart aufgeladenen Umfeld aussagekräftig und zuverlässig? Die kurze Antwort auf die erste Frage lautet: Ja: Meinungsumfragen erlauben es uns auch in Kriegszeiten, wichtige Erkenntnisse zu treffen. Aber dennoch ist hinsichtlich der Repräsentativität erhebliche Skepsis angebracht, insbesondere wenn es um mögliche Veränderungen der geopolitischen Einstellungen geht.
Zunächst einmal sollten wir bedenken, dass die öffentliche Meinung in diesem wie in anderen Kriegen eine zentrale Rolle spielt. Die öffentliche Meinung ist dabei ein Konzept, das mit den Idealen der Volkssouveränität und einer wahren Identität verbunden ist. Putins Fantasie von der »Rettung« von Russ:innen stellt Russland als Vertreter derjenigen dar, die nie nach ihrer Meinung gefragt wurden und die keine Stimme haben. Putin rettet eine »authentische Ukraine« vor »faschistischen« Westlern, die diese »entführt« haben. Im Gegensatz dazu berufen sich die ukrainische Führung und ihre euro-atlantischen Unterstützer regelmäßig auf öffentliche Meinungsumfragen, um ihr politisches Bestreben zu rechtfertigen, die Ukraine in die EU und die NATO zu integrieren. Die Ukraine will sich von Russland »befreien« und endgültig Teil des Westens werden. In der ersten Projektion kommt die »wahre Ukraine« nie zu Wort, es sei denn, sie wird von Russlands Propagandaapparat durch manipulierte vox populi in Fernsehsendungen oder bei inszenierten Volksabstimmungen gesteuert. In der zweiten Projektion ist die »wahre Ukraine« die Nation, die sich ständig danach sehnt, sich dem Westen anzuschließen.
Die von Interessengruppen und staatlichen Stellen finanzierte Meinungsforschung kann als Polittechnologie fungieren, die nicht nur Informationen darüber sammelt, was die Menschen denken; sie eröffnet auch Möglichkeiten, bestimmte Themen durch gefühlsbetontes Framing in eine bestimmte Richtung zu lenken. Themen können in den Vordergrund gerückt werden, andere verschwinden wiederum im Hintergrund. Einige Meinungsumfragen sind auch eher als sogenannte »push polls« zu bezeichnen, bei denen Befragten bestimmte Ansichten bewusst aufgedrängt werden, die für diese Befragten davor vielleicht nicht vorrangig im Bewusstsein verankert, oder als nicht relevant eingestuft wurden, aber dennoch von bestimmten Gruppen gezielt beworben werden. Ein Beispiel dafür sind die seit vielen Jahren durchgeführten Umfragen in Bezug darauf, ob die Ukraine der NATO beitreten sollte. Seid ihr besorgt über Armut und Korruption? Der Beitritt zur euro-atlantischen Gemeinschaft ist die Antwort!
Der Krieg und die Verbrechen Russlands versetzen die Ukrainer:innen zu Recht in Aufruhr. Die Durchführung von Umfragen in Kriegszeiten ist zwangsläufig politisch. Geldgeber sind selten neutral, während die Leiter:innen und Mitarbeitenden von Meinungsforschungsinstituten unter Druck stehen, Patriotismus an den Tag zu legen. Die Teilnahme an Umfragen an sich ist auch schon ein politischer Akt. Hinzu kommt die Logistik der Umfragen. Angesichts der Kriegsbedingungen werden die meisten Umfragen per CATI (computergestützte Telefonbefragung) und nicht persönlich (mit der sog. Face-to-face-Methode) durchgeführt. Diese CATI-Umfragen werden zwar mit Zufallsstichproben durchgeführt und bei bester Ausführung auf mehrere Mobilfunkanbieter verteilt (was wichtig ist, wie wir aus der Meinungsforschung im Donbas gelernt haben). Aber der Akt, ans Telefon zu gehen und dann zuzustimmen, an einer Umfrage von ungewisser Dauer im Gespräch mit einer/m Fremden in Kriegszeiten teilzunehmen, ist wahrscheinlich nur für bestimmte Menschen reizvoll. Diejenigen, die ohne Mobiltelefone auskommen, was vor allem ältere und verarmte Menschen betrifft, bleiben ohne Stimme, obwohl sie gleichzeitig ein Teil jener Ukraine sind, die jetzt auf furchtbare Weise Opfer des Krieges und seiner Schrecken geworden ist. Diejenigen, die zurückhaltend, skeptisch und ängstlich sind, werden eher nicht gehört oder wollen sich nicht äußern. Aber jene, die sich durch starke Meinungen und Emotionen auszeichnen, werden eher von der Stichprobe erfasst. Die persönliche Befragung kann einige der Unzulänglichkeiten von CATI durch Zufallsstichproben und persönliche Gespräche, Überzeugungsarbeit und Beruhigung ausgleichen. Professionelle Meinungsforscher:innen wissen all dies, und diejenigen, die integer sind, geben methodische Einschränkungen für ihre Arbeit in Kriegszeiten an (https://kiis.com.ua/?lang=ukr&cat=reports&id=1110&page=1).
Kriege sind auf gewaltsame Weise polarisierend. So ist es nicht überraschend, dass sich Gruppenzugehörigkeiten verfestigen und Meinungen verhärten. Der Krieg erfordert patriotische Performanz, die die Menschen auch dazu bringt, Positionen zu vertreten, von denen sie wissen, dass sie gesellschaftlich und geopolitisch akzeptabel sind. So erklären beispielsweise immer mehr Menschen, dass sie Ukrainisch und nicht Russisch sprechen, da dies in den von der Regierung kontrollierten Regionen gesellschaftlich erwünscht ist. Außerdem haben die Menschen das Bedürfnis, Zuversicht und Siegesgewissheit an den Tag zu legen und gleichzeitig Zweifel zu verschleiern. So stellte KIIS im Dezember 2022 fest (https://kiis.com.ua/?cat=reports&id=1175&lang=ukr&page=1), dass mehr Menschen die Wirtschaft vor dem Krieg schlecht einschätzten als zehn Monate nach Kriegsbeginn, als die Lage objektiv schlechter war. »Dieser paradoxe Wandel in der öffentlichen Meinung«, so KIIS, »lässt sich durch die Konsolidierung und das nationale Hochgefühl während des Krieges erklären.« Das könnte man auch als soziale Erwünschtheit hoch zehn bezeichnen. Aufgrund der Notlage, die der Krieg über das Land bringt, übertrumpft Geopolitik tatsächlich die Armut. Zumindest für den Augenblick.
Der Krieg wirkt sich darauf aus, welche Aussagen Ukrainer:innen bereit sind, gegenüber Meinungsforscher:innen preiszugeben. Zahlreiche Umfragen in der kriegsversehrten Ukraine haben beispielsweise ergeben, dass die Zahl der Ukrainer:innen, die sich für einen NATO-Beitritt der Ukraine aussprechen, gestiegen ist. Die Unterstützung für die außenpolitische Neutralität ist zurückgegangen. Unsere jüngsten Meinungsumfragen, bei denen wir teilweise auf früher befragte Personen zurückgreifen (persönliche Befragung im Jahr 2019 und telefonische Befragung im Jahr 2022), bestätigen dies. Eine solche Schlussfolgerung erfordert, dass gewisse Einschränkungen gemacht werden, die normalerweise ausgelassen werden, wenn die Ergebnisse in kurzen Artikeln präsentiert werden. Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dass vorsichtige Interpretationen oft von Redakteur:innen gestrichen werden. Denn erwünscht sind eine klare Botschaft und auch ein provokativer Titel (»bringt Klicks«), die von den Befürworter:innen im Fernsehen, in den Parlamenten und bei öffentlichen Debatten als Soundbites wiederverwendet werden. Es herrscht ein allgemeines Vertrauen in Zahlen, und diejenigen, die sie verwenden, erscheinen kompetent. Es ist von großer Bedeutung, wie die Fragen formuliert sind. Bei einer einfachen binären Frage beispielsweise befürwortet die Mehrheit der Ukrainer jetzt die NATO-Mitgliedschaft, weil sich die Ukraine im Krieg befindet und die NATO ihr wichtigster Verbündeter ist. Diese Position ist derzeit geopolitisch richtig; die Gegner:innen schweigen und geben ihre Position nicht freiwillig preis. Und was ebenso wichtig ist: die derzeit umkämpften Teile der Ukraine werden in der Umfrage nicht berücksichtigt. Werden mehr Antwortmöglichkeiten angeboten, so ergibt sich eine größere Komplexität (https://dif.org.ua/en/article/results-2022-under-the-blue-yellow-flag-of-freedom). Inwieweit der Krieg die geopolitischen Einstellungen verändert hat, lässt sich mitten im Krieg somit nicht beantworten.
Die Standardwährung bei der Zusammenfassung der öffentlichen Meinung sind Phrasen wie »die Mehrheit der Ukrainer:innen« oder Ausdrücke wie »die Ukrainer:innen glauben…« und »die Ukrainer:innen wollen…«, die noch viel stärker homogenisieren. Wir sind derzeit in einer heiklen Lage, in der Umfragen als repräsentativ für die gesamte Ukraine angesehen werden, die tatsächlich nur in Teilgebieten durchgeführt wurden. Regionen wie die Krim und in geringerem Maße der Donbas werden gleichzeitig als Ukraine angesehen, aber in der öffentlichen Meinungsforschung in der Ukraine nicht gesehen und nicht gehört.
Umfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten sind aussagekräftig und aufschlussreich. Aber wenn man aus den Ergebnissen von Telefonumfragen, die von Interessengruppen aus dem von der Regierung kontrollierten Teil der Ukraine finanziert werden, einen transzendenten ukrainischen Allgemeinwillen in Kriegszeiten ableitet, ist Skepsis angebracht. Diese ist ohnehin eine wichtige Tugend inmitten der Flut von Desinformationen in demokratischen Gesellschaften. Wir können es besser machen, mit unseren Umfragemethoden und -strategien, mit unserem Mitgefühl für die Notlage derer, die in einem brutalen Krieg gefangen sind, und mit unserem Beharren darauf, dass die Grenzen dieser Form der Sozialwissenschaft anerkannt werden. Die Ukraine ist ein sehr großes und vielfältiges Land, und das Mindeste, was wir inmitten des massiven Traumas der russischen Invasion tun können, ist, ihre soziokulturelle und geografische Komplexität anzuerkennen und zu respektieren.