Der Aufschwung des Ukrainischen 2022
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nimmt der Gebrauch des Ukrainischen zu. Ukrainisch zu lernen, war 2022 einer der populärsten Trends, wie der »Duolingo Language Report« von 2022 feststellt. In der Ukraine hat sich eine Wiederbelebung des Ukrainischen vollzogen, begleitet von einem starken Rückgang des Russischen, insbesondere im Südosten des Landes.
Eine landesweite Umfrage vom Dezember 2022 (siehe dazu die Analyse von Kulyk in dieser Ausgabe) zeigt eine massive Zunahme beim Gebrauch des Ukrainischen. Der Sprachgebrauch in den verschiedenen Teilen der Ukraine wurde dadurch in einem Maße homogen wie noch nie zuvor. Der Wandel in der Alltagssprache wird sogar als »drastischer Wechsel« vom Russischen zum Ukrainischen beschrieben. In der Ukraine hat der Gebrauch des Ukrainischen insgesamt im Vergleich zu 2017 (48,7 Prozent) um 8,7 Prozentpunkte zugenommen. Das Ukrainische wird nun von 57,4 Prozent der Befragten als wichtigste Kommunikationssprache angegeben. Der Gebrauch des Russischen hingegen ging um 11 Prozentpunkte zurück: Während 2017 noch 25,8 Prozent der Befragten angaben, primär diese Sprache zu gebrauchen, waren es 2022 nur noch 14,8 Prozent. Im Südosten der Ukraine, die traditionell als eher russischsprachig gilt, ist ein starker Rückgang des Russischen zu beobachten. Dort stützten sich 2017 noch 50,4 Prozent der Befragten auf das Russische. 2022 dann, nach Beginn der großangelegten russischen Invasion, nannten 27,2 Prozent der Befragten das Russische als primäre Kommunikationssprache. Es könnte zwar angenommen werden, dass diese Zahlen in einem gewissen Maße eher das gewünschte Ergebnis als die tatsächliche Lage der Dinge belegen sollen. Doch zeigen qualitative Studien, dass es in der Ukraine eine Vielzahl von Gründen gibt, zum Ukrainischen zu wechseln.
Dieser Beitrag basiert auf qualitativ erhobenen Daten aus einem dreijährigen ethnographischen Forschungsprojekt, das von 2020 bis 2023 durchgeführt wurde. Teil der Forschung war eine teilnehmende Beobachtung von Personen, die Ukrainischkurse in Cherson besuchten, der Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets im Süden der Ukraine (von 2020 bis Anfang 2022), sowie aus 11 Interviews mit Anbieter:innen und Lehrer:innen von Ukrainischkursen in Kyjiw, Tschernihiw, Saporischschja, Cherson, Odesa und Lwiw (die von 2020 bis 2023 durchgeführt wurden und weiterhin werden) sowie 30 Interviews mit Teilnehmer:innen von Sprachkursen in Kyjiw, Tschernihiw, Saporischschja, Dnipro, Cherson, Nowowolynsk sowie in Moskau (die von 2020 bis 2023 durchgeführt wurden und weiterlaufen). Die Namen der Interviewten, die in diesem Beitrag zitiert werden, sind zu ihrem persönlichen Schutz pseudonymisiert.
Motivation zum Erlernen des Ukrainischen und für einen Wechsel zum Ukrainischen
Nach dem Euromaidan und dem Beginn der russischen Aggression auf der Krim und in den östlichen Gebieten der Ukraine hatte bereits ein merklicher Wechsel zum Ukrainischen eingesetzt. Diese Ereignisse wurden als ein Wendepunkt wahrgenommen, der nun viel mehr Menschen dazu brachte, Ukrainisch zu lernen, oder im Falle von Bilingualen im Alltag zum Ukrainischen überzugehen. Die wichtigste Motivation war hier persönlicher Patriotismus und der Beitrag zur Nationenbildung, was die Verbindung zwischen Sprachpraxis und nationaler Zugehörigkeit unterstreicht. Das Narrativ »›echte‹ Ukrainer:innen sprechen Ukrainisch« wurde als zentrale Motivation für einen Sprachwechsel identifiziert, während der Gebrauch des Ukrainischen zum symbolischen Merkmal für eine ukrainische nationale Identität wurde.
Neben jenen, die durch die Ansicht motiviert wurden, dass das Ukrainische ein Ausdruck ihrer ukrainischen Identität sei, kristallisierte sich eine weitere Gruppe heraus, die Ukrainisch lernen und sprechen, allerdings nicht aus politischen Motiven. Dieses Bild vom Ukrainischen vor allem als Kommunikationsmittel wurde auch in den ersten Netzwerken von kostenlosen Ukrainischkursen gefördert, die 2013 als Freiwilligeninitiativen gestartet wurden.
»Kostenlose ukrainische Sprachkurse« (ukr.: »Beskoschtowni kursy ukrajinskoji mowy«) hat sich seither zu einer landesweiten Graswurzelinitiative entwickelt, die die gewachsene Nachfrage nach günstigen Möglichkeiten bedient, Ukrainisch zu lernen. Diese Nachfrage hatte schon seit 2014 erheblich zugenommen; inzwischen gibt es die Kurse in mehr als 25 Städten. Sie boten und bieten darüber hinaus einen Raum, in dem sich Binnengeflüchtete von der Krim und aus dem Donbas in die neuen Gemeinschaften vor Ort integrieren konnten bzw. können. Die zunehmende Nachfrage bei russischsprachigen Einwohner:innen der Ukraine brachte einige der Kursleiter:innen dazu, Materialien für einen Online-Unterricht auszuarbeiten und ein weiteres Projekt zu starten, nämlich die Plattform »Je-mowa« (dt.: »E-Sprache«), von der aus online das Ukrainische unterrichtet werden kann. Während der großangelegten russischen Invasion wurde weiterhin online und auch in Präsenz unterrichtet. Die Kurse wurden von vielen russischsprachigen Ukrainer:innen als ein Weg betrachtet, den Invasoren aus Russland in dem anhaltenden Krieg die Stirn zu bieten.
Der Ausbruch des vollumfänglichen Krieges ließ eine weitere große Freiwilligeninitiative entstehen, das Netzwerk »Jedyni« (dt.: »Vereint«), das im April 2022 gestartet wurde. Das Projekt hat seither 70.000 Menschen zusammengebracht und 307 Ukrainisch-Clubs in 25 Städten veranstaltet, und zwar über die Ukraine verteilt sowie in Polen, Litauen, den Niederlanden und der Tschechischen Republik. Das Projekt hat Teilnehmer:innen aus allen Teilen der Ukraine zusammengebracht, auch solche, die in den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine oder auf der Krim wohnen. Deren Teilnahme wird durch die Online-Komponente von »Jedyni« ermöglicht, wobei Unterrichtsmaterialien über populäre Messenger-Dienste wie Telegram verteilt werden. Das Projekt fördert das Ukrainische als Instrument zur Konsolidierung. Es will jene unterstützen, die zu Kriegszeiten vom Ukrainischen zum Russischen übergehen wollen. Das Ziel ist dabei, eine Million russischsprachige Ukrainer:innen zu einem Sprachwechsel zu bewegen. Potenziell könnte ein Publikum von landesweit neun Millionen Menschen erreicht werden.
Das Ukrainische als Identitätsmarker
Die Motivation zum Erlernen des Ukrainischen, das seit dem Euromaidan auch als Identitätsmarker gesehen wird, hat sich mit dem vollen Ausbruch des Krieges nicht nur intensiviert, sondern auch diversifiziert. Qualitative ethnographische Forschung zu den Motiven für die Teilnahme an den »Kostenlosen ukrainischen Sprachkursen« und am Projekts »Jedyni« hat ergeben, dass der Wechsel vom Russischen zum Ukrainischen immer noch vor allem von der Identifizierung mit der Nation angetrieben wird, wobei Ukrainisch zu sprechen die Zugehörigkeit zur ukrainischen Nation und ihrem Staat symbolisiert. Das Ukrainische wird nicht mehr nur als Muttersprache (ukr.: »ridna mowa«) bezeichnet, und es kann sogar vorkommen, dass eine andere Sprache als das Ukrainische zur Muttersprache erklärt wird. Dahinter steht die Vorstellung, dass man, wenn man in der Ukraine lebt, ganz unabhängig von der Muttersprache in der Lage sein sollte, Ukrainisch zu sprechen. Teilnehmer:innen mit nichtukrainischer ethnischer Herkunft bezeichnen diese Motivation als den Wunsch, sich von einer russischen Identität zu distanzieren, die sie als »beleidigend« empfinden. Sie sind nicht unbedingt selbst Russ:innen, wollen aber nicht mit »Moskau« assoziiert werden. Sie besuchen Ukrainischkurse, um die Sprache gut sprechen zu können
Die Zugehörigkeit zum Nationalstaat wird oft von der Wahrnehmung begleitet, dass Sprache eine »Waffe« darstellt; das ist eine vom aktuellen Krieg hervorgerufene Motivation. Diese Wahrnehmung rückt die Identität des »Verteidigers der Ukraine« in den Vordergrund. Das Ukrainische wird als eine »geistige Waffe« aufgefasst, während die fehlende Präsenz des Ukrainischen auf der Krim und im Donbas als »Entwaffnung« empfunden wird und als einer der Gründe gilt, warum diese Gebiete 2014 besetzt werden konnten.
Ethnolinguistische Identifizierung als Motivation für einen Sprachwechsel steht oft im Zusammenhang mit einem Krieg. Für viele stellte sich die Wahrnehmung, Ukrainer:in zu sein, verstärkt mit dem Beginn der russischen Aggression 2014 ein (siehe Umfragen auf S. 14–19). Bei anderen entwickelte sich dieses Bewusstsein erst später, mit Beginn des großangelegten Krieges.
In den meisten Fällen sind die Motivationen für einen Übergang zum Ukrainischen untereinander verwoben, wie bei einem Teilnehmer der Online-Kurse aus Russland: »Niemand will mehr Russ:in sein«, meint der 55-jährige Nikita aus Moskau. Für ihn ist der Spracherwerb auch ein Weg, seine russische Identität in eine ukrainische zu verwandeln. Diese Motivation wird durch den Wunsch verstärkt, ukrainische Nachrichten verfolgen zu können. »Ich habe seit Kriegsbeginn angefangen, ukrainische Sender zu hören […] weil wir keine Informationen hatten, keine Informationen in Russland […] und ich wollte besser verstehen was sie sagen«, erklärte er.
Für einige Kursteilnehmer:innen in der Ukraine, insbesondere für jene, die im Land aufgewachsen sind, war das Ukrainische die Sprache ihrer Kindheit, bevor sie es zugunsten des Russischen vernachlässigten, das in den ukrainischen Großstädten gesprochen wurde. »Ich musste zum Russischen übergehen, als ich zum Studium nach Charkiw ging«, sagt die 46-jährige Ljudmyla, die in einem Dorf im Gebiet Saporischschja aufwuchs. Sie wechselte im März 2022 zurück zum Ukrainischen. Diese Menschen gewinnen nun, da sie erkennen, dass die Sprache ihrer Kindheit nicht mehr eine »Sprache zweiter Klasse« ist, ihr kulturelles Erbe wieder.
Das Ukrainische wird jetzt zunehmend als Sprache der Jugend, der Gegenwart und der Zukunft wahrgenommen. »Ukrainisch ist die Sprache der Jugend und der Kultur«, sagt die 14-jährige Katja, die vor Kriegsbeginn in Cherson an den »Kostenlosen ukrainischen Sprachkursen« teilgenommen hatte und die Kurse jetzt online belegt. Vor 2014 wurde der Gebrauch der ukrainischen Sprache selten mit jüngeren Menschen in Verbindung gebracht, sondern eher auf die kommenden Generationen projiziert, als eine wünschenswerte Perspektive, die die zukünftigen Ukrainer:innen irgendwie erfüllen würden. Heute jedoch »ist es Mode, Ukrainisch zu sprechen«, sagt die 61-jährige Olena aus Tschernihiw. Damit meint sie, dass Ukrainisch die Sprache ist, die eine junge, coole Person sprechen würde.
Während einige der Kursteilnehmer:innen den Gebrauch des Russischen noch beibehalten, äußerten sie mitunter das Gefühl, dass Russisch jetzt nicht »zeitgemäß« sei. Zu der Frage, ob in den »russischsprachigen Bereichen« irgendein Rückgang zu bemerken ist, berichtet die 57-jährige Olha aus Cherson, dass es Veränderungen gibt: »Je mehr von uns, den älteren Menschen, sterben, desto mehr gibt es die ukrainische Sprache«, sagt sie. Mit der Wahrnehmung, dass Russisch jetzt veraltet ist, kommt eine Assoziation der Zukunft mit der ukrainischen Sprache, die sogar ältere Menschen dazu bewegt, sie zu beherrschen. »Ich hatte angesichts meines Alters, so kurz vor der Rente, die Idee, dass ich in der Rente als Lektorin arbeiten könnte. Heute gehen aber alle zum Ukrainischen über. Das ist der Grund, warum ich beschloss, sagen wir, mit einer Wiederbelebung meiner [ukrainischen] Schreibfähigkeiten zu beginnen«, sagte Olha, die an Ukrainischkursen in Cherson teilnahm, bevor die groß angelegte Invasion begann.
Ukrainisch als Kommunikationsmittel
Solche praktischen Beweggründe für das Erlernen der ukrainischen Sprache sind bei den Teilnehmer:innen der Sprachkurse recht häufig. Sie belegen, dass die Sprache neben der Bedeutung für die Identität auch als wertvoller Teil des eigenen kulturellen Kapitals und als nützliche Ressource wahrgenommen wird. Der praktische Bedarf an einer Beherrschung des Ukrainischen entspringt wiederum der Notwendigkeit, bei der Arbeit Ukrainisch zu sprechen, was 2019 durch das Gesetz »Über die Gewährleistung des Gebrauchs des Ukrainischen als Staatssprache« festgelegt wurde. Kommunikation bei der Arbeit ist einer der Aspekte von Sprache als Kommunikationsmittel. Ein anderer ist die Wahrnehmung von Sprache als einem Schlüssel für ein Verständnis für und die Kommunikation mit anderen Kulturen.
In den ukrainischen Sprachkursen und in den Interviews sprachen die Teilnehmer:innen oft die Notwendigkeit an, dass auf der Arbeit Ukrainisch gesprochen werden muss, gepaart mit dem Wunsch, sich diese Sprache als Symbol der eigenen Identität anzueignen. »Ich bin Lehrerin an einer Kunstschule, [und unterrichte] Malerei, Design und Zeichnen. Das ist notwendig, das [Ukrainische] ist für eine Lehrerin und eine Patriotin vonnöten«, sagt die 70-jährige Anna aus Cherson, als sie ihre Gründe erklärt, warum sie die ukrainische Sprache lernt. Anna ist eine jener Teilnehmer:innen, die nie Ukrainisch gelernt hat. Sie war nach ihrem Studium aus Russland in die Ukraine gezogen. »Am Anfang hatte ich ein Ziel: Ukrainisch zu lernen, damit ich es sprechen kann, weil ich immer russischsprachig war. Und jetzt brauche ich [die Sprache] sehr, weil es bei meiner Arbeit sehr viel um Kommunikation geht«, sagt Anna, die nach den Ereignissen von 2014 mit ihrer Familie in die Ukraine gezogen war.
In den Sprachkursen gibt es viele Migrant:innen aus Russland oder anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die sagen, dass sie nach Inkrafttreten des Sprachgesetzes von 2019 vor der Notwendigkeit standen, Ukrainisch zu sprechen. Sie erzählen oft, dass sie in der Ukraine viele Jahre gut mit Russisch zurechtgekommen seien, dass nun aber die Zeit gekommen sei, auch auf Ukrainisch kommunizieren zu können. Einige dieser Personen nehmen das Ukrainische als Bereicherung für ihr sprachliches Repertoire wahr. Sie wollen dadurch auch eine bessere Kommunikation mit anderen Kulturen erreichen; einige betrachten das Ukrainische als eine Brücke, um ihre Russisch-Kenntnisse zu verbessern. Eine krimtatarische Teilnehmerin, die Krimtatarisch und Ukrainisch lernt, beschreibt ihre Motivation zum Sprachenlernen folgendermaßen: »Also, es gibt so viele Anreize, Krimtatarisch [zu lernen], denn wenn du Krimtatarisch kannst, dann verstehst du auch andere turksprachige Völker. […] Aber es gibt auch die Staatssprache, die wir alle können und sprechen sollten. Ich lebe in einem Staat und es gibt eine Staatssprache. Und es gibt meine Muttersprache, die ich auf keinen Fall vergessen darf.« Für sie gehen, wie für die meisten »neuen Ukrainischsprachigen«, die Motivationen Kommunikation und Identifikation Hand in Hand.
Fazit
Der russische Krieg gegen die Ukraine mag vielleicht der offensichtlichste direkte Grund sein, jetzt Ukrainisch zu sprechen. Er ist aber nicht der einzige. Und selbst wenn es der wichtigste Grund ist, so ist es selten der einzige. Die Analyse der ethnographischen Daten legt nahe, dass für Ukrainischlernende eher eine Kombination aus verschiedenen Gründen als Motivation ausschlaggebend war. Während der Krieg die Verbindung zwischen Sprache und Patriotismus, zwischen Sicherheit und dem Aufbau einer Nation in den Vordergrund rückt, stellt sich heraus, dass auch andere Faktoren wie etwa Sprachgesetze dazu beitragen, dass vermehrt Ukrainisch gesprochen wird.
Die großangelegte Invasion scheint für den Sprachwechsel, der seit der Unabhängigkeit der Ukraine allmählich erfolgt, wie ein Katalysator zu wirken. Während jedoch in den ersten Jahren der Prozess der Ukrainisierung vor allem von oben vorangetrieben wurde, erfolgt er seit 2014 auch von unten, also getragen von der Graswurzelarbeit gewöhnlicher Menschen. Wie nachhaltig dieser Prozess sein wird, dürfte davon abhängen, wie beharrlich die Kombination von zwei Motivationen wirkt, nämlich der Wahrnehmung des Ukrainischen als Identitätsmarker, und dessen Bedeutung als Kommunikationsinstrument. Das könnte durch die Vorstellung verstärkt werden, dass das Ukrainische die Sprache der jungen Generation ist, eine Verbindung zur Gegenwart und zur Zukunft darstellt und es zudem im Trend liegt, Ukrainisch zu sprechen.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder