Die großangelegte russische Invasion der Ukraine im Jahr 2022 brachte die ernüchternde Erkenntnis, dass Russland selbst 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer noch ein brutales Imperium ist. Gleichzeitig war die Welt, nachdem sie erwartet hatte, dass Kyjiw in drei Tagen fallen würde, erstaunt über den ukrainischen Widerstand und die Resilienz. Wie konnte sich die internationale Gemeinschaft in Bezug auf Russland und die Ukraine so irren? Wir denken, dass diese Fehlannahmen auch darauf zurückzuführen sind, wie Russland, die Ukraine und das übrige Osteuropa im Westen studiert werden, und fordern deshalb eine umfassende Überprüfung sowohl der Quantität als auch der Qualität der Osteuropastudien.
In einem ersten Schritt haben wir Daten über das Lehrangebot der Studienjahre 2021/22 und 2022/23 an den 13 führenden privaten und öffentlichen US-Universitäten gesammelt. Wir konzentrierten uns auf die Osteuropa-, Russland- und Eurasienstudien (einschließlich sowjetischer und postsowjetischer Studien). Wir haben nur Kurse ausgewählt, die von Bachelor-Studiengängen angeboten wurden (da sie viel mehr Studierende erreichen als Master-Studiengänge), und nur solche Kurse, die auch tatsächlich gelehrt wurden (d. h. eine ausreichende Anzahl von Studierenden hatte sich für diese Kurse angemeldet). Zur Berechnung der Gesamtstatistiken haben wir die Kurse in fünf Fachbereiche (Sprache, Literatur, Kultur, Geschichte und Politik) sowie in verschiedene zeitliche und geografische Gruppen eingeteilt, z. B. sowjetische und postsowjetische, osteuropäische, ukrainische, polnische, baltische usw. Anschließend haben wir die Anzahl der in den letzten zwei Studienjahren angebotenen Kurse berechnet und den Anteil der Kurse untersucht, die sich nur mit Russland, mit Russland und anderen Ländern sowie mit der Ukraine befassen.
Grafik 1 zeigt den Kern unserer Ergebnisse. 82 Prozent der Kurse in »Slawischer Literatur« sind in Wirklichkeit Kurse zur russischen Literatur (der Anteil ist sogar noch höher, wenn wir sowjetische und postsowjetische Literatur mit einbeziehen). Wir sind uns bewusst, dass Russland ein großes Land ist, aber es macht nicht mehr als 82 Prozent der Menschen oder der Literatur in Osteuropa aus. In anderen Fachbereichen sieht die Situation besser aus, aber dennoch dominiert Russland klar. Zum Beispiel konzentriert sich etwas mehr als ein Drittel der Lehre in Geschichte ausschließlich auf Russland, aber wenn wir Kurse hinzunehmen, die Russland zusammen mit anderen Ländern behandeln (z. B. » Osteuropa und Russland« – orange- und hellblaugestreifte Balken in Grafik 1), wird die russische Hegemonie wieder deutlich. In einigen Kursen wird die UdSSR tatsächlich als Russland behandelt (z. B. »Russland: Geschichte der Sowjetunion«). Darüber hinaus folgen einige Kurse gänzlich den russischen Geschichtsnarrativen und verorten beispielsweise sowohl die Ostslawen als auch die UdSSR als Teil der »russischen« Geschichte (obwohl einige osteuropäische und zentralasiatische Nationen von Russland besetzt waren, unterscheidet sich deren Geschichte deutlich von derjenigen Russlands).
Diese Statistiken sind nicht auf eine bestimmte Universität oder eine Gruppe von Universitäten beschränkt. Die Grafiken 2a und 2b unten zeigen, dass dies ein allgemeines Muster ist. Obwohl beispielsweise der Anteil der russischen Literatur von satten 100 Prozent an der Cornell University bis zu »bescheidenen« 52 Prozent an der University of Chicago divergiert, liegt der Durchschnittswert bei fast 90 Prozent.
Jede Klassifizierung unterliegt einer subjektiven Einordnung, und wir haben versucht, den russischen Anteil so eindeutig wie möglich zu bestimmen, um eine konservative Einschätzung zu erhalten. Es ist weiterhin aufschlussreich, Studiengänge zu untersuchen, die einen Russland-Bezug haben und Russland mit anderen Ländern zusammenfassen. Die Grafiken 2a und 2b zeigen auch, dass diese Lehrangebote die russische Dominanz in allen Bereichen weiter verstärken, mit Ausnahme der Literatur, wo der Anteil Russlands bereits fast ausgeschöpft ist.
Wenn man sich die einzelnen Kursbeschreibungen genauer ansieht, stellt man fest, dass sich Russlandstudien oft die Leistungen der von Russland dominierten Nationen angeeignet haben. So wird beispielsweise Gogol als russischer Autor behandelt, obwohl er sich selbst als Ukrainer ansah (Gogol schrieb zwar auf Russisch, doch sei daran erinnert, dass auch Oscar Wilde sich als Ire identifizierte, obwohl er auf Englisch schrieb). Die mittelalterliche Rus‘ wird als russische Geschichte aufgefasst, obwohl sie ebenfalls Teil der ukrainischen, litauischen und polnischen Geschichte ist und sich jahrhundertelang im Krieg mit dem Großfürstentum Moskau (»Moskowien«) befand. Um zu verstehen, wie absurd diese Logik ist: Stellen Sie sich vor, Sie würden die Geschichte Großbritanniens als Teil der französischen Geschichte behandeln, nur weil die Normannen in England eingefallen sind (im Jahr 1066, Anm. d. Übers.). Ein Kurs über »Russische Literatur« behandelt Isaac Babel (einen jüdischen Autor aus Odesa), Swetlana Alexijewitsch (eine belarusische Autorin) und Andrij Kurkow (einen ukrainischen Autor aus Charkiw). Wir denken, dass Herr Kurkow sehr überrascht wäre, wenn er erfahren würde, dass US-Universitäten ihn als russischen Autor bezeichnen, während die russische Armee seine Heimatstadt zerstört.
Zum Vergleich zeigt Tabelle 1 den Anteil der Lehre zur Ukraine. In der Tabelle zeigen sich viele Nullen. Das heißt, dass die Ukraine in der akademischen Lehre praktisch kaum vorkommt. Hinzu kommt, dass selbst dieses Bild noch positiv verzerrt wird durch die Tatsache, dass die Daten für zwei akademische Jahre aggregiert wurden und die Universitäten im akademischen Jahr 2022/23 begannen, mehr ukrainebezogene Kurse anzubieten (vgl. Tabelle 2), wobei der University of Michigan, die den Kurs »Let Ukraine speak« eingeführt hat, eine besondere Anerkennung gebührt. Ironischerweise wurden im Studienjahr 2022/23 aber nicht nur mehr Kurse über die Ukraine angeboten als im vorherigen Studienjahr, sondern auch mehr Kurse zu Russland. Vielleicht geschah dies aus der Logik heraus: »Wenn wir mehr über die Ukraine lernen, sollten wir, um fair zu bleiben, auch mehr über Russland lernen«. Aber dieser »Bothsidesism« macht die Dinge weniger ausgewogen.
Wir wollen nicht darüber diskutieren, ob Aleksandr Puschkin besser ist als Lesja Ukrainka oder Adam Mickiewicz, aber die Zahlen belegen eindeutig eine unverhältnismäßige Konzentration auf Russland. Ist diese Moskau-zentrierte Sichtweise ein Problem? Wir denken: ja.
Denn der Fokus auf Russland führt dazu, dass Generationen von US-Studierenden über Russland hinaus kaum etwas über Osteuropa wissen. Im Ergebnis sagen Samuel Charap und andere Ukraine-»Expert:innen«, die oft Absolventen der Osteuropastudien sind, den Untergang der Ukraine voraus und betrachten die Ukraine durch eine russische Brille. Das Gleiche gilt für die Medienberichterstattung zur Ukraine. Die New York Times schreibt beispielsweise über Andrew Kramer, den Leiter des neuen New York Times-Büros in Kyjiw, der ebenfalls in Osteuropastudien ausgebildet wurde, dass dieser »… jahrelang … der wichtigste Reporter war, der von seinem Moskauer Büro aus über die Ukraine berichtete.« Die berüchtigte »Chicken Kiev«-Rede von US-Präsident George H.W. Bush (die Rede wurde von Condoleeza Rice geschrieben, die an der Staatlichen Lomonossow-Universität in Moskau Russisch studiert hatte) ist ein Musterbeispiel für das große Missverständnis der Ukraine. Wie kann man die Ukraine richtig verstehen, ohne Ukrainisch zu sprechen, die ukrainische Geschichte zu kennen oder in der Ukraine gewesen zu sein? Der Mangel an Fachwissen und Ausbildung zur Ukraine hat zu kolossalen Fehlern geführt.
Wir sind uns dessen bewusst, dass die akademische Welt sich kaum von heute auf morgen ändern kann und dass nun einmal Tausende von Professor:innen einen großen Teil ihrer Zeit in das Erlernen der russischen Sprache und Kultur investiert haben. Aber die Notwendigkeit eines ausgewogeneren Ansatzes für die Osteuropastudien liegt auf der Hand. Es sollten mehr Mittel für ukrainische, polnische, bulgarische, tschechische, slowakische und andere Studien bereitgestellt werden, insbesondere im Bereich der Literatur. Wie viel Geld wird benötigt? In seiner Rede auf dem Kyiv Security Forum sagte Michael McFaul, er benötige einige Millionen US-Dollar, um die Zahl der Ukrainistik-Kurse in Stanford zu erhöhen. Angesichts des 8,6-Milliarden-US-Dollar-Budgets und des 36-Milliarden-US-Dollar-Stiftungsvermögens von Stanford sind die erforderlichen Mittel eher eine Frage der Prioritäten als der finanziellen Zwänge.
Zusammengefasst: Wissen ist Macht. Dazu gehört auch die Macht, Kriege zu verhindern, indem man weiß, wer wozu fähig ist, was zu erwarten ist und was auf dem Spiel steht. Der größte Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine ist auch eine Folge bzw. der Preis für die Ignoranz. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Menschenleben in der Ukraine hätten gerettet und viele Milliarden US-Dollar, mit denen die westlichen Regierungen heute die Ukraine unterstützen, hätten eingespart werden können, wenn in den vergangenen Jahren angemessene Mittel in die Ukraine- und andere osteuropäische Studien geflossen wären, anstatt in russlandzentrierte Studien. Der tragische Krieg sollte die Universitäten anspornen, ihre Lehrpläne zu Osteuropa zu überarbeiten, ihren Studierenden eine bessere Ausbildung zu ermöglichen und die Welt hoffentlich sicherer zu machen.
Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein
Der Text erschien am 21.06.2023 unter dem Titel »Why Russian studies in the West failed to provide a clue about Russia and Ukraine« auf der Website von VoxUkraine und ist frei zugänglich unter https://voxukraine.org/en/why-russian-studies-in-the-west-failed-to-provide-a-clue-about-russia-and-ukraine. Wir danken den Autor:innen und VoxUkraine für die Erlaubnis zum Nachdruck der deutschsprachigen Übersetzung.