Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine

Von Seongcheol Kim (Universität Bremen)

Zusammenfassung
Dieser Beitrag präsentiert die Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Studie über die Kommunikationsmuster des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gegenüber den Bürger:innen Russlands im ersten Jahr des russischen Angriffskriegs. Dabei werden insbesondere zwei Phasen identifiziert: In der ersten appellierte Selenskyj an Antikriegsdissens innerhalb Russlands als Teil einer gemeinsamen Sache mit der ukrainischen Verteidigung gegen die russische Invasion; in der zweiten Phase – nach der Aufdeckung russischer Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Orten – thematisierte er die kollektive Verantwortung der russischen Bevölkerung aufgrund deren kollektiven Schweigens.

Einleitung

Am Vorabend der russischen Vollinvasion am 24. Februar 2022 trat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einem »Appell an die Bürger der Russischen Föderation« auf. Die knapp neunminütige Rede hatte eine klare Botschaft, die zudem in russischer Sprache gehalten war: »Das Volk der Ukraine will Frieden. Die Regierung der Ukraine will Frieden« – wohingegen »eure Staatsführung« sich mit ihren Drohgebärden auf dem Weg zu einem großen Kriegsausbruch befinde. Jetzt müssten »einfache, gewöhnliche Menschen« innerhalb Russlands die Stimme ergreifen, so Selenskyj, um die eigene Regierung daran zu hindern, einen Krieg über die Köpfe der Bürger hinweg anzuzetteln. Denn es seien gerade »die Menschen« beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze, die von einem Krieg zwischen den Nachbarländern am meisten zu verlieren hätten: »Wer wird am meisten darunter leiden? Die Menschen. Wer will das am wenigsten? Die Menschen. Wer kann das verhindern? Die Menschen.« Es seien genau diese Menschen in Russland – »Männer, Frauen, ältere Menschen, Kinder, Väter und vor allem Mütter« –, die die letzte Hoffnung für den Frieden darstellen würden. Ob es tatsächlich zu einem Krieg kommt, »hängt nur von euch ab, Bürger der Russischen Föderation«.

Selenskyjs Videoauftritt, der in den frühen Morgenstunden vor Invasionsbeginn viral ging und schnell über eine Million YouTube-Aufrufe erzielte, war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Das ukrainische Staatsoberhaupt wandte sich an das russische Publikum »nicht als Präsident«, sondern auf Augenhöhe »als Bürger der Ukraine«, und appellierte an ein gemeinsames Antikriegsinteresse der Menschen in beiden Ländern, ohne allerdings das Kreml-Narrativ einer historischen Einheit der russischen und ukrainischen Völker zu reproduzieren. Er verzichtete auf jegliche Bezugnahme auf kulturelle oder historische Nähe zwischen den beiden Ländern und betonte stattdessen den Stellenwert des Friedens für alle Menschen überall sowie die Rolle der russischen Staatsführung als gemeinsame Bedrohung des Friedens. Nach Invasionsbeginn stellte sich die Frage, inwiefern Selenskyj eine solche Ansprache fortführen und somit weiterhin an ein gemeinsames Antikriegsinteresse über die Frontlinie hinweg (auf der Ebene der ›einfachen Bürger:innen‹ beider Länder) appellieren würde – oder aber eine gemeinsame Verantwortung der Bürger:innen Russlands und deren Staatsführung für den Angriffskrieg ausmachen würde. Beide Varianten waren angesichts der Vorabendrede denkbar: Schließlich hatte Selenskyj betont, dass die Frage von Krieg oder Frieden »nur von euch« kollektiv entschieden werden wird.

Zur Beantwortung dieser Frage wurden zwölf Reden Selenskyjs mit Appellen an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs diskursanalytisch ausgewertet. Im Rahmen der Studie wurden die relevanten Textstellen manuell kodiert, um die Sinnrelationen zwischen einzelnen Begriffen nach dem Instrumentarium der postfundamentalen Diskursanalyse (PDA) einzuordnen. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Studie in der komprimierten Form einer Periodisierung vorgestellt: Phase I, in der Selenskyj an eine gemeinsame Sache zwischen der ukrainischen Verteidigung gegen die Invasion und russischem Antikriegsdissens appellierte; das Bekanntwerden der russischen Kriegsverbrechen in Butscha und anderen befreiten Orten als Wendepunkt hin zur Zuschreibung kollektiver Verantwortung der Bürger:innen Russlands; und schließlich Phase II, in der Selenskyj das kollektive Schweigen der Bürger:innen Russlands bei jeder neuen Eskalationsstufe kritisierte und vor den Konsequenzen dieses Schweigens warnte.

Phase I: Aufruf zu einer gemeinsamen Sache

Während seiner Erklärung vor Pressevertreter:innen am späten Vormittag des 24. Februar 2022 richtete Selenskyj einen kurzen Appell in ukrainischer Sprache an »das russische Volk« (eigene Übersetzung):

Der russische Staat befindet sich auf dem Pfad des Bösen. Aber vieles hängt noch vom russischen Volk ab. Die Bürger Russlands werden selbst bestimmen, auf welchem Pfad jeder Einzelne von ihnen sich befindet. Es ist Zeit für all diejenigen in Russland, die ihr Gewissen nicht verloren haben, hinauszugehen und gegen diesen Krieg zu protestieren, gegen den Krieg mit der Ukraine.

Die Botschaft im Anschluss an seine Vorabendrede war deutlich: Noch sei es nicht zu spät; die »Bürger Russlands« könnten aufstehen und ihre Stimme gegen den Krieg erheben; ob die russische Staatsführung ihren Angriff weitertreiben kann, hänge nicht zuletzt von ihrem Volk ab. Anschließend rief Selenskyj seine ukrainischen Mitbürger:innen dazu auf, alle Kommunikationskanäle mit Freund:innen, Verwandten und sonstigen Kontakten in Russland auszuschöpfen, damit die Russ:innen die Wahrheit über den Krieg erfahren würden. So wurde der Ton für die erste Phase von Selenskyjs Appellen an russische Bürger:innen bis Ende März gesetzt, in der Selenskyj während seiner täglichen Lageberichte zum Stand der ukrainischen Verteidigung gegen die Invasion auch periodische Aufrufe in russischer Sprache zum Widerstand im Innern des Aggressorstaats machte. In seinem Auftritt am 26. Februar bekräftigte er (und wechselte an dieser Stelle vom Ukrainischen ins Russische): »Je schneller ihr eurer Regierung sagt, dass der Krieg umgehend beendet werden muss, desto mehr von euch werden am Leben bleiben.« Dabei bedankte er sich persönlich für »die Aktionen eurer Bürger gegen den Krieg« und rief zu mehr Protest auf: »Stoppt einfach die, die euch belügen, uns belügen, die ganze Welt belügen«.

In dieser ersten Phase appellierte Selenskyj an eine gemeinsame Sache zwischen der ukrainischen Verteidigung gegen die russische Invasion einerseits und dem Antikriegsdissens innerhalb Russlands andererseits. Hierzu gehörte ein bemerkenswerter Appell am 6. März, in dem er erklärte, dass die Ukrainer:innen heute um die Wahl »zwischen Freiheit und Sklaverei« kämpfen und dass die Russ:innen mit genau derselben Entscheidung konfrontiert seien:

Die Bürger Russlands sind gerade dabei, genau dieselbe Wahl zu treffen. In diesen Tagen. In diesen Stunden. Zwischen Leben und Sklaverei. Heute. Morgen. Nächste Woche. Das ist die Zeit, wo man das Böse ohne irreversible Verluste noch besiegen kann. Wo für eure Haltung Entlassungen oder Polizeiwagen drohen und nicht Gulag. Materielle Verluste und nicht Erschießung. […] Wenn ihr jetzt schweigt, dann wird für euch nur noch eure Armut sprechen. Und der wird nur noch mit Repression geantwortet werden. Schweigt nicht!

Hier akzentuierte Selenskyj den Handlungsdruck für Antikriegsproteste in Russland, indem er diese als Teil ein und desselben Kampfes wie jener der Ukraine und als letzte Hoffnung vor einer düsteren Zukunft für Russlands Normalbürger:innen bezeichnete. Auch am 11. März warnte Selenskyj die Russ:innen vor einer Rückkehr »in die 1990er-Jahre«, die der russische Staat mit seiner Kriegsführung und der bevorstehenden ökonomischen Verelendung bewusst in Kauf nehme.

Genauso wie in seiner Rede am Vorabend der Invasion appellierte Selenskyj an ein gemeinsames Antikriegsinteresse der Normalbürger:innen in beiden Ländern, ohne dabei auf historische oder kulturelle Gemeinsamkeiten zu rekurrieren; vielmehr fungierte die Kriegsführung durch den russischen Staat als gemeinsame Bedrohung, gegen die gekämpft werden müsse. Als Höhepunkt dieser Kommunikationsstrategie diente das Online-Interview mit russischen (größtenteils oppositionellen) Journalisten am 27. März, das seine Offenheit für Dialog mit der russischen Öffentlichkeit zur Schau stellte und seine in den vorherigen Wochen artikulierte Botschaft abermals zutage brachte. Zum wiederholten Male rief Selenskyj zu Antikriegsaktionen in Russland als Voraussetzung für das Ende des Krieges auf – hierfür brauche es einen gesellschaftlichen Konsens innerhalb Russlands, dass »der Krieg ein großer Fehler war, der dem russischen Volk eine Katastrophe gebracht hat« – und hob den Stellenwert des Friedens als unschätzbares Gut »für die Kinder« hervor, auch wenn erwachsene Menschen auf beiden Seiten der Frontlinie sich nie vergeben würden.

Wendepunkt Butscha: Die Frage der kollektiven Verantwortung

Mit der öffentlichkeitswirksamen Entdeckung russischer Kriegsverbrechen in Butscha und weiteren Orten der befreiten Gebiete um Kyjiw fand eine Verschiebung in Selenskyjs Ansprachen gegenüber den Bürger:innen Russlands statt. In seinem Auftritt am 3. April stellte Selenskyj den Russ:innen eine Reihe einfacher Fragen: »Warum wurden einfache friedliche Menschen in einer einfachen friedlichen Stadt zu Tode gefoltert? […] Was hat Butscha eurem Russland getan? Wie wurde das alles möglich?« Er wandte sich an »russische Mütter« und »alle Führungskräfte der Russischen Föderation«, die doch hätten erahnen können, »was in ihren Kindern steckt« bzw. »wie ihre Befehle vollstreckt werden«. Die Logik seiner Botschaft war simpel: Die systematische Brutalität einfacher russischer Soldaten gegen einfache ukrainische Zivilist:innen hätte kaum ohne Duldung von oben sowie entsprechender Erziehung und gesellschaftlichen Sozialisierung stattfinden können. Das Gesamtbild des russischen Staates sei fortan von diesen Gräueltaten geprägt, so dass all jene innerhalb Russlands, die immer noch schweigen, »lebenslang mit Nazismus assoziiert« werden würden, wie Selenskyj am 6. April formulierte.

»Butscha« wurde im öffentlichen Diskurs in der Ukraine zu einer Chiffre für russische Gräueltaten sowie einem Wendepunkt in Selenskyjs Ansprachen gegenüber den Bürger:innen Russlands. Vor dem Hintergrund verschwindend geringer Proteste in Russland im Kontext erhöhter Repressalien sowie einer dichten Reihenfolge von Eskalationsereignissen – die brutale russische Eroberung von Mariupol, der Zusammenbruch der von der Türkei vermittelten Friedensverhandlungen sowie tödliche russische Bombardierungen ziviler Objekte, beispielsweise in Krementschuk und Winnyzja im Sommer 2022 – ließ sich Selenskyjs Ausgangsfrage an die Russ:innen nach deren Bereitschaft zum Antikriegsdissens zunehmend leicht mit »nein« beantworten. Somit wurde die zweite Phase eingeleitet, die von Selenskyjs Vorwurf des kollektiven Schweigens an die Bürger:innen Russlands sowie Mahnungen vor den Konsequenzen dieses Schweigens gekennzeichnet ist.

Phase II: Die Konsequenzen des kollektiven Schweigens

Ein erster Kristallisationspunkt für die Kritik des kollektiven Schweigens war Selenskyjs Forderung nach Visumseinschränkungen auf EU-Ebene für russische Staatsbürger:innen im August 2022. Der ukrainische Präsident begründete diese Forderung in seinem Auftritt am 14. August, indem er »das Schweigen der Menschen« in Russland mit »Komplizenschaft« gleichsetzte: »Wenn ihr die russische Staatsbürgerschaft habt und schweigt, heißt das, ihr wehrt euch nicht, das heißt, ihr unterstützt damit« die Kriegsführung des russischen Staates. Hier zeigt sich, dass diese Verschiebung von der ersten zur zweiten Phase dennoch innerhalb der Logik von Selenskyjs Ausgangsappellen an russische Bürger:innen stattfindet: nämlich die Botschaft, dass »ihr« von Anfang an die Verantwortung – und die Möglichkeit – für die Verhinderung bzw. Beendigung des Krieges gehabt und euch stattdessen für Schweigen entschieden habt, obwohl mit jeder neuen Eskalationsstufe die Gräueltaten der Invasoren immer sichtbarer wurden.

Am Tag nach der Verkündung der sog. Teilmobilmachung in Russland am 21. September 2022 wandte sich Selenskyj an betroffene Russen mit der Botschaft, dass dieser Schritt aus ihrem kollektiven Schweigen resultiere und nun die Entscheidung bevorstehe, sich endlich gegen den Krieg zu wehren oder in diesem zu sterben:

Ihr seid Mitbeteiligte an all diesen Verbrechen, Ermordungen und Folterungen an den Ukrainern. Weil ihr geschwiegen habt. Weil ihr schweigt. Und jetzt ist für euch der Moment der Wahl. Für Männer in Russland heißt die Wahl: sterben oder leben. […] Wollt ihr mehr [Tote]? Nein? Dann geht protestieren. Wehrt euch. Rennt weg. Oder begebt euch in ukrainische Gefangenschaft.

Gleichzeitig bezog er sich auf vereinzelte Protestaktionen von »Menschen in Dagestan, in Burjatien, in anderen nationalen Republiken und Oblasten Russlands«, die die Sinnlosigkeit des Sterbens in einem von »einem Menschen« (d. h. Putin) angezettelten Krieg verstanden hätten und insofern aussichtsreiche Quellen für Antikriegsprotest darstellen würden. Vor dem Hintergrund von Protesten gegen die Teilmobilmachung in Dagestan und anderen Regionen richtete Selenskyj am 29. Septembereinen Sonderappell »an die Völker des Kaukasus«. Vor einem Kyjiwer Denkmal für den kaukasischen Unabhängigkeitskämpfer Imam Schamil rief Selenskyj alle »indigenen Völker« Russlands dazu auf, gegen einen Krieg aufzustehen, der ihnen gegen ihren Willen aufgezwungen worden sei und sich genauso gegen sie richte wie gegen die Ukraine: »eine Spezialoperation der Verlogenheit, des Terrors, der Vernichtung der indigenen Völker«. Dieser Appell folgte einer ähnlichen Logik wie Selenskyjs Aufrufe zu Antikriegsprotesten an alle russischen Staatsbürger:innen in der ersten Phase – mit dem Unterschied allerdings, dass Selenskyj diesmal ethnische Minderheitengruppen innerhalb Russlands als besondere Widerstandsquelle (angesichts ihrer überproportionalen Betroffenheit von der Teilmobilmachung sowie ihrer augenscheinlichen Protestbereitschaft) ansprach. Mit dem Abebben auch dieser Proteste blieb es allerdings bei einem einmaligen Appell, dem keine weiteren Auftritte ähnlicher Art folgten.

Im Kontext der gezielten und vermehrten Angriffe Russlands auf die zivile Infrastruktur der Ukraine ab Herbst 2022 richtete Selenskyj mahnende Appelle an die Bürger:innen Russlands und warnte vor den Konsequenzen ihres kollektiven Schweigens. So erklärte er: »Niemand wird euch den Terror verzeihen« (31. Dezember) und »Euer feiges Schweigen, euer Versuch, das, was passiert, auszusitzen, wird nur damit enden, dass diese Terroristen eines Tages auch euch holen werden« (15. Januar 2023). Auch diese Botschaft reihte sich in die Logik seiner Anfangsappelle ein: In diesem Krieg steht auch euer Schicksal auf dem Spiel, dabei hattet ihr von Anfang an die Wahl zwischen Widerstand und Schweigen, habt euch aber für Letzteres entschieden.

Fazit

Im Anschluss an Selenskyjs viral gewordene Rede am Vorabend der Invasion stellte sich grundsätzlich die Frage, wie er unter den Bedingungen eines russischen Angriffskriegs die Bürger:innen Russlands ansprechen und insbesondere deren Verhältnis zur russischen Kriegsführung deuten würde. Die Ergebnisse der hier in kompakter Form vorgestellten Studie zeigen, dass sich Selenskyjs Appelle an eine gemeinsame Sache mit russischen Normalbürger:innen auf die Anfangsphase des Aggressionskriegs bis Ende März beschränkten. Nach der Aufdeckung russischer Kriegsverbrechen in Butscha sowie anderen Orten der befreiten Gebiete um Kyjiw verschob sich Selenskyjs Kommunikation hin zur Zuschreibung einer kollektiven Verantwortung der größtenteils schweigenden Bevölkerung Russlands für die Schrecken der Invasion. In der darauffolgenden zweiten Phase richtete er vor allem Warnungen vor den Konsequenzen dieses kollektiven Schweigens, appellierte aber auch im Namen eines gemeinsamen Antikriegsinteresses an die »indigenen Völker« insbesondere des Kaukasus vor dem Hintergrund der letztlich kurzlebigen Proteste gegen die Mobilmachung in Russland.

Im Kontext der Kommunikationspraxis Selenskyjs während der russischen Invasion im Allgemeinen sind seine Appelle an russische Bürger:innen aufgrund deren Positionalität als Bürger:innen des Aggressorstaats und der gelegentlichen Einbeziehung solcher Appelle in seine täglichen militärischen Lageberichte an die ukrainische Bevölkerung von besonderem Interesse. Trat Selenskyj gerade in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn mit Videobotschaften vor zahlreichen nationalen Parlamenten Europas, Asiens und Nordamerikas auf, so wandte er sich bereits mit seiner Rede am Vorabend des Krieges explizit an die ‚Normalbürger:innen‘ Russlands. Während Selenskyj in seine Reden vor den nationalen Parlamenten explizite Bezugnahmen auf historische Gemeinsamkeiten integrierte – beispielsweise mit seinem Vergleich zwischen Bachmut und Saratoga vor dem US-Kongress –, verzichtete er in seinen Appellen an die Russ:innen auf kulturell-historische Botschaften und appellierte (in Phase I) ausschließlich an ein gemeinsames Antikriegsinteresse gegen die russische Staatsführung. Solche Unterschiede (sowie Verschiebungen über die Zeit) müssten in einer Gesamtbetrachtung der transnationalen Kommunikation Selenskyjs unter Kriegsbedingungen berücksichtigt werden.


Dieser Beitrag basiert auf dem folgenden Aufsatz des Autors: Towards an Antiwar Transnational Populism? An Analysis of the Construction of “the Russian People” in Volodymyr Zelensky’s Wartime Speeches. In: Government and Opposition, DOI:10.1017/gov.2023.40 (2023). Der dazugehörige Datensatz ist bei DiscussData archiviert: https://doi.org/10.48320/03A7E751-7DC4-4E1A-8986-20EE2C8658E5

Lesetipps / Bibliographie

  • Kim, Seongcheol: Towards an Antiwar Transnational Populism? An Analysis of the Construction of »the Russian People« in Volodymyr Zelensky’s Wartime Speeches. In: Government and Opposition, DOI:10.1017/gov.2023.40 (2023).
  • Onuch, Olga/Hale, Henry: The Zelensky Effect. London: Hurst, 2022.
  • Viedrov, Oleksii: Back-to-normality outsiders: Zelensky’s technocratic populism, 2019–2021. In: East European Politics, Jg. 3, H. 3, S. 478–501 (2023), https://doi.org/10.1080/21599165.2022.2146092.

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