Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet

Von James Sherr (International Centre for Defence & Security, Tallinn/Chatham House, London)

Eine Allianz fault, wie ein Fisch, vom Kopfe her. 2023 haben die USA viel von ihrem Selbstbewusstsein verloren. Angesichts der näher rückenden amerikanischen Präsidentschaftswahlen besteht eine ernste Gefahr darin, dass eine zweite Trump-Amtszeit dieses Selbstvertrauen auf einer üblen, nativistischen Grundlage wieder aufleben lassen könnte. Und zwar entgegen den Kerninteressen des Westens insgesamt wie auch entgegen denen der Vereinigten Staaten. Die zweite Gefahr ist, dass dieser Verlust des Selbstvertrauens – und des Glaubens – sich auf die Ukraine überträgt, auf das Gravitätszentrum dessen, was Dmitrij Trenin als »totalen, bislang noch hybriden Krieg« gegen den Westen bezeichnete.

Dieser Verlust des Selbstvertrauens wurzelt weder im Militärischen noch im Materiellen, sondern ist vielmehr moralischer, psychologischer und intellektueller Natur. 2019 hatte Putins Berater Wladislaw Surkow erklärt, Russland unternehme etwas viel Ernsteres, als sich in Wahlen im Westen einzumischen, denn es nehme sich »dessen Kopf vor«. Die immer noch unterschätzte Reichweite von Russlands hybridem Krieg ist aber nicht die einzige Quelle der Desorientierung des Westens. Die Erinnerung an einen langwährenden, intensiven Krieg von industriellem Ausmaß ist in weiten Teilen des Westens verschwunden, ebenso wie die Überraschungen des Krieges, seine Nöte und Rückschläge. Mehr noch: Unter dem Eindruck der heutigen Herausforderungen und Sorgen (Klimawandel, Migration etc.) ist das Wissen über das 20. Jahrhundert, über ein Jahrhundert der großen Kriege, auf ein beängstigendes Niveau gesunken. Also sollten wir nicht erstaunt sein, dass die Enttäuschung über die bescheidenen Ergebnisse der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer eine Flut von Untergangsprognosen ausgelöst hat, einschließlich ahistorischer Warnungen über die Unmöglichkeit, Russland zu besiegen.

Weisheit beginnt damit, sich von Irrtümern zu befreien. Statische Analysen bieten keine Grundlage für langfristige Prognosen. Es gibt jetzt viele, die mit fadenscheinigen Begründungen ultimative Schlüsse aus der gegenwärtigen Phase eines Stellungskrieges ziehen. Es trifft zwar zu, dass Russland über beeindruckende Stärken verfügt und – entgegen der Erwartungen vieler – auf Fehler reagiert sowie sein Vorgehen geändert und angepasst hat. Heute ist offensichtlich, dass bei einer Reihe wichtiger militärischer Fähigkeiten der Unterschied zu Gunsten Russlands ausfällt. Und diese Diskrepanz könnte sich im Laufe dieses Jahres sehr wohl verschlimmern; selbst dann, wenn die US-Gelder freigegeben werden sollten.

Diesen ernsten Nachteilen steht gegenüber, dass Russland die Hälfte der Gebiete, die es 2022 erobert hatte, wieder verlor. Und trotz der Erneuerung und Aufstockung seiner Streitkräfte und dem Übergang zu einer Kriegswirtschaft hat es nur sehr wenig davon zurückgewonnen. Die russische Luftoffensive vom Winter 2022/23, die die strategische Infrastruktur der Ukraine zerstören, wie auch deren Widerstandskraft brechen sollte, scheiterte. Ohne Hilfe von außen wäre Russlands vielbeschworener Vorteil bei der Artillerie nicht ausreichend, um das gegenwärtige Niveau seiner Operationen aufrechtzuerhalten. Zwar sind jetzt 38 Prozent des Staatshaushalts den Bereichen Verteidigung und Sicherheit gewidmet. Doch ein beträchtlicher Teil davon wird durch Inflation, Verschwendung und Buchungstricks aufgezehrt. Im Schwarzen Meer hat die Ukraine den Spieß zum Teil umgedreht und könnte dies vollenden, obwohl sie über keine nennenswerte Marine verfügt.

Was das Kräfteverhältnis ändert ist der externe Faktor: durch die Shahed-Drohnen aus dem Iran, durch Raketen und eine Million Artilleriegranaten aus Nordkorea, und durch den Krieg in Gaza, der für Russland eine »strategische Ablenkung« der Aufmerksamkeit und der Anstrengungen der USA mit sich bringt. Diese Anstrengungen waren schon durch die selbst auferlegten Beschränkungen der Biden-Administration lahmgelegt worden. 2022 hatten die USA die Mittel und den Konsens in beiden politischen Lagern, die russischen Streitkräfte in die Defensive zu bringen und sie dort zu belassen. Stattdessen hat die Furcht der Biden-Administration vor einer russischen (nuklearen) Eskalation das strategische Denken erstickt, die Abschreckung geschwächt und Russland ermöglicht, die Regeln des Konflikts zu bestimmen. Dieses moralische Zögern hat Putin die nötige Atempause verschafft und den Trumpschen Nihilisten ein bequemes Angriffsziel geboten.

Ungeachtet all dieser Faktoren, womöglich aufgrund derselben, ist Europa nicht mehr der wunde Punkt der Allianz. Die Klarheit darüber, was in der Ukraine auf dem Spiel steht, ist jetzt nicht mehr nur auf die Ostflanke der NATO beschränkt. Diese Klarheit ändert aber nichts daran, dass die Fähigkeiten Europas, die Kapazitäten und die Entschlossenheit der USA zu kompensieren, unzureichend sind, zumindest in den nächsten Jahren. Wenn das entschlossene US-Engagement nicht wieder verstärkt wird, dürfte das Ergebnis wohl weniger in Verhandlung und Kompromissen bestehen, sondern vielmehr in einer Mutation des Krieges zu einem Partisanenkrieg von ungeahnter Grausamkeit. Sollte es dazu kommen, könnte es nichts mehr zu entscheiden geben.

Bislang wurde der Wille der Ukraine nicht in Frage gestellt. Trotz der Rationierung und Einsparung ihrer schwindenden Munitionsvorräte, hat die ukrainische Armee es vermocht, allein in diesem Jahr für 30.000 russische Verluste zu sorgen. Wie bei den Waffen und beim Personal gibt es allerdings auch bei der Willensstärke Grenzen. Die Uneinigkeit und die Unentschlossenheit im Westen stellen diese Grenzen in der Ukraine aktuell auf die Zerreißprobe.

Russland hat der Ukraine stets abgesprochen, über eigene Handlungsmacht zu verfügen. Für die Menschen in der Ukraine ist es daher keine große Überraschung, dass dies immer noch so ist. Was aber, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit leugnet? Das ist die Frage, mit der die Ukrainer:innen nie gerechnet haben – aber es ist genau die Frage, vor der wir alle jetzt stehen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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