Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte

Von Gustav Gressel (European Council on Foreign Relations, Berlin)

Der Ukraine steht ein schwieriges Jahr bevor

2024 wird eines der schwierigsten Jahre für die Ukraine seit dem Rückzug der russischen Truppen aus den Regionen Kyjiw und Sumy im März–April 2022. Viele Versäumnisse der internationalen Unterstützer, etwa die Produktion von Munition und Ersatzteilen viel zu spät hochzufahren und keine Beschaffungsprogramme für diverse Waffensysteme und Gefechtsfahrzeuge einzuleiten – um Gerät für die Ukraine freizumachen – werden sich dieses Jahr besonders bemerkbar machen. Die Knappheit an Material und Munition wird es der Ukraine 2024 kaum erlauben, neue substanzielle Gegenoffensiven zu unternehmen. Vielmehr wird man in der Defensive bleiben und dort die Voraussetzungen für neue Offensiven im Jahr 2025 schaffen: Dazu gehört erstens, die russischen Streitkräfte so weit wie möglich abzunutzen; zweitens die eigenen Kräfte zu konsolidieren, zu erfrischen und den Ausbildungsstand und die Leistungsfähigkeit auf einen gemeinsamen, höheren Stand zu bringen; und drittens, Lehren aus der gescheiterten Gegenoffensive von 2023 in technischen und taktischen Belangen zu ziehen und diese in neue Systeme wie Streitkräftestrukturen einzubauen. Dafür braucht die Ukraine Zeit.

Allerdings ist aus ukrainischer Sicht ein defensives Jahr militärisch leicht zu erklären, politisch aber umso schwieriger zu rechtfertigen. In den USA stehen Wahlen an und Donald Trump wird allem Anschein nach erneut der Rivale von Joe Biden. Die Republikaner und allen voran Trump werden den US-Präsidenten unter Druck setzen, die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen. Ähnliche Stimmen gibt es auch in der Demokratischen Partei. Genauso werden in Europa Putinversteher:innen trommeln, der Konflikt sei längst eingefroren und ein Sieg der Ukraine illusorisches Gerede. Sie werden Verhandlungen fordern, und die Einstellung der militärischen Unterstützung als Druckmittel einsetzen wollen, um den angeblich nicht kompromissbereiten Selenskyj an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Russland ist nicht bereit, von seinen Kriegszielen abzurücken

Diese Annahme ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, weil sie die russische Taktik, Verhandlungen als Mittel zur Unterbindung von Waffenlieferungen an die Ukraine einzusetzen – und somit die eigenen militärischen Siegesaussichten zu verbessern – aufgehen lässt. Der Ruf nach Verhandlungen ist einfach zu erheben, aber schwer umzusetzen. Denn erstens will Russland nicht mit der Ukraine, sondern rein mit dem Westen verhandeln. Dem Westen soll ein Tauschhandel unterbreitet werden – etwa die Ukraine gegen Venezuela zu tauschen, wie Fiona Hill ein früheres russisches Angebot beschrieb – von seinen ursprünglichen Kriegszielen rückt der Kreml aber keinen Millimeter ab. Würde der Kreml davon absehen, die Ukraine als Ganzes zu unterwerfen, sich große Teile in das eigene Imperium einzuverleiben und den Rest als Marionettenstaat im Unionsstaat über einen eingesetzten Statthalter zu verwalten, würde Putin auch von seiner lang gehegten Strategie abrücken, Russland wieder zur Weltmacht, vor allem aber zu der Europa militärisch dominierenden Macht zu machen. Ein Russland, dass sich noch mit den anderen 80 % der Ukraine herumschlagen müsste, wäre eine Regionalmacht. Ein Russland, dass die Grenzen der Sowjetunion de-facto wiederherstellt, wäre hingegen eine Weltmacht. So eine einschneidende Zäsur in die eigenen imperialen Pläne zuzulassen, ist der Kreml noch nicht Willens.

Zudem will Russland den Westen in Verhandlungen taktisch binden, nicht um einen Frieden auszuhandeln, sondern um dessen Waffenlieferungen an die Ukraine einzuschränken. Ein offener Verhandlungsprozess, der zu nichts führt, den Krieg und die russische Rüstungsproduktion nicht unterbricht, aber im Westen den Druck erzeugt, die Verhandlungen nicht »durch Eskalation zu gefährden« wären ganz nach Moskaus Geschmack. Ähnlich wurden die Minsker Verhandlungen durch die deutsche Politik als Alternative zu Waffenlieferungen gesehen, und haben so dazu beigetragen, dass die Ukraine in diesen Krieg mit einer erheblichen materiellen Unterlegenheit ging. Man kann es drehen wie man will: ernsthafte, zu Waffenstillstand oder gar Frieden führende Verhandlungen wird es 2024 nicht geben. Die Zukunft der Ukraine, und damit auch der europäischen Sicherheitsordnung, wird auf dem Schlachtfeld entschieden werden. Und dort wird 2024 ein extrem schwieriges Jahr.

Die andere bestimmende Größe in diesem Jahr ist die US-amerikanische Innenpolitik. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten fuhren ihre Munitionsproduktion so spät hoch – und das Hochfahren der Produktion von gepanzerten Fahrzeugen und komplexeren Waffensystemen steht noch aus – dass es 2024 nicht möglich sein wird, ein Ausfallen der USA zu kompensieren. Nur im Verbund mit den Vereinigten Staaten kann die Ukraine mit einem lebenserhaltenden Minimum an Nachschub versorgt werden. Eine Substitution der USA durch Europa – allerdings erneut am äußersten defensiven Minimum – ist frühestens 2025 möglich.

Unter den aktuellen Bedingungen sind drei Szenarien möglich, die im Folgenden kurz skizziert werden.

Das positive Szenario: Erfolgreiche Vorbereitung für neue Erfolge

Sollte Donald Trump aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung aus dem US Wahlkampf ausscheiden und die Ukraine-Unterstützerin Nicky Haley die Republikanische Präsidentschaftskandidatin werden, würde sich nicht nur der Ton im Wahlkampf, auch das Auftreten der republikanischen Partei in beiden Häusern ändern. Biden würde dann unter Druck geraten, mehr für die Ukraine zu tun und die amerikanische Rolle in der Welt durch militärische stärke zu unterstreichen. Das innenpolitische Klima wäre weit permissiver für Lieferungen modernerer F-16C/D aus US-Beständen mit entsprechender Bewaffnung, ATACMS, und einer aktiveren Unterstützung der ukrainischen Rüstungsindustrie.

Dies würde es der Ukraine ermöglichen, nicht nur in der Verteidigung den russischen Truppen erhebliche Verluste zuzufügen. Die ukrainische Armee kann unter einer besseren Materialdecke auch neue Systeme und Verfahren testen, um wieder in den Bewegungskrieg zu kommen. Das Material, diese Verfahren auch im größeren Stil anzuwenden, wird freilich auch unter optimistischen Bedingungen erst 2025 verfügbar sein. Die Ukraine nutzt das Jahr in der Defensive auch, um interne Probleme anzugehen: Überalterung, fehlende Rotationen der in der Front eingesetzten Kräfte, uneinheitlicher Trainings- und Ausbildungsstand vor allem im Offizierskorps, Schwächen bei der operativen Planung, und Kohäsionsprobleme bei neu aufgestellten Verbänden. Damit schafft die Ukraine 2024 die Vorbedingungen, eine Verbesserung ihrer materiellen Lage 2025 entscheidend nutzen zu können und eine Wende im Krieg hin zur russischen Niederlage einzuleiten.

Das mittlere Szenario: durchwursteln

Auch wenn Donald Trump der Herausforderer Bidens wird, könnten sich die Republikaner im Repräsentantenhaus und Senat taktisch verhalten und die Unterstützung der Ukraine an Zugeständnisse in Migrationsfragen und anderen Themen knüpfen. Damit würde die amerikanische Militärhilfe weiterlaufen, allerdings wird es keine qualitative Steigerung zum bisher geleisteten geben.

Die Ukraine wird damit die Front halten und größere Durchbrüche der russischen Armee verhindern können. Das schließt nicht aus, dass die Front sich hier und dort leicht verschiebt, um dem Druck standzuhalten. Exponierte Positionen, wie jüngst Awdijiwka, müssen geräumt werden, aber ohne den russischen Kräften weiter Durchbrüche in die ukrainische Tiefe zu erlauben. Keine dieser Rücknahmen hat aber operative Bedeutung. Russland gewinnt nur marginal neuen Raum.

Ältere, von Europäern zur Verfügung gestellte F-16A/B Kampfjets übernehmen die Rolle, die zuvor von Flugzeugen sowjetischer Bauart ausgeführt wurden: sie halten die russische Luftwaffe dem ukrainischen Luftraum fern. Luft-Boden Einsätze können aber aufgrund mangelnder Munition und der veralteten bordeigenen Störsender nur sporadisch oder unter riskanten Bedingungen geflogen werden.

Die Rada ringt sich zu einem neuen Gesetz zur weiteren Mobilmachung durch und ermöglicht den ukrainischen Streitkräften, Teile ihrer Brigaden von der Front zu ziehen, um sie zu regenerieren und zu trainieren. Einige der unterbesetzten neu aufgestellten Brigaden werden aufgelöst und Kräfte umverteilt, um wieder leistungsfähige Verbände zu schaffen. Während die Ukraine die personellen Probleme ihrer Streitkräfte selbst korrigieren kann, bleibt die materielle Situation angespannt: für Systeme aus sowjetischen Beständen ist die Munition äußerst knapp, während Systeme westlicher Herkunft nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind und für viele ältere Systeme chronischer Ersatzteilmangel herrscht. Das Hochfahren der ukrainischen Rüstungsproduktion schreitet zwar voran, die Produktionszahlen sind 2024 aber immer noch zu gering, um die Ausfälle an der Front wettzumachen. Dieses zwingt die Ukraine, kostbares Material zu schonen und höhere Personalverluste in Kauf zu nehmen. Das wirkt sich negativ auf die Moral und Freiwilligenmeldungen aus.

In diesem Szenario kann die Ukraine zwar das schwierige Jahr 2024 meistern, aber nur in ungenügendem Maße Voraussetzungen schaffen für erfolgreiche offensive Vorhaben in 2025. Die Präsidentschaftswahl in den USA entscheidet mit darüber, wie es in der Ukraine weitergeht.

Das negative Szenario: der Anfang vom Ende

Die Republikaner wollen Biden in erster Linie scheitern sehen und verhalten sich daher ausschließlich destruktiv. Jeder Kuhhandel wird ausgeschlagen, oder an innenpolitisch für Biden unvertretbare Forderungen geknüpft. Das Ausbleiben amerikanischer Lieferungen wird sich besonders in der ersten Hälfte des Jahres 2024 stark bemerkbar machen, da die EU, selbst wenn sie wollte, nicht für amerikanische Lieferungen einspringen kann. Dazu wurden die Produktionskapazitäten zu spät hochgefahren, wie die Verzögerungen beim EU-Munitionsplan belegen.

Dadurch gerät die ukrainische Armee zunehmend unter Druck. Russische Einbrüche sind kaum zu vermeiden, und um sie nicht zu Durchbrüchen ausweiten zu lassen muss die ukrainische Armee die Front signifikant zurücknehmen. Damit erreicht Putin sein Zwischenziel, die Donezker und Luhansker Oblast zu erobern, und kann weitere Offensiven Richtung Charkiw, Saporischschja und Dnipro vorbereiten.

Die angespannte Lage erlaubt es der Ukraine nicht, Verbände von der Front zu nehmen und zu erfrischen, geschweige denn, die Mängel im Bereich Training und Kohäsion systematisch zu beheben. Ende des Jahres sind die meisten Brigaden abgekämpft und personell wie materiell erschöpft.

Lieferungen nordkoreanischer und iranischer ballistischer Raketen erschöpfen den Vorrat an Patriot Raketen, die ohne die USA nicht in erforderlicher Quantität nachgeliefert werden können. Die Intensität der russischen Luftangriffe steigt über das Jahr stetig an, auch die wenigen alten F-16, die aus Europa geliefert werden, können diesen Druck nicht lindern. Die russische Luftwaffe dringt öfter und tiefer mit Kampfflugzeugen in den ukrainischen Luftraum ein, um die ukrainische Rüstungsindustrie anzugreifen. Somit kann diese auch wenig Nachschub für die Front produzieren.

Am Ende des Jahres gewinnt Donald Trump die US Präsidentenwahl. Seine Ankündigung, US-Streitkräfte aus Europa unverzüglich abzuziehen, löst Panik unter den europäischen Regierungen aus. Aus Furcht, von Amerika im Stich gelassen zu werden sowie vor einer russischen Bedrohung, wird den eigenen Streitkräften im Zulauf neuer Munition und Gerät absolute Priorität zugemessen. Lieferungen an die Ukraine kommen damit zum Erliegen.

In der Ukraine setzt eine neue Fluchtwelle ein, da viele einen russischen Sieg fürchten und ihre Familien außer Landes schicken. Die Aussicht auf »Entnazifizierung« – also die Auslöschung der intellektuellen, kulturellen, politischen und administrativen Elite des Landes – und russische Besatzungsgräuel machen die Entscheidung zur Flucht alternativlos. In der EU werden die Kosten für die Absorption von Millionen neuer Geflüchteter die Kosten für die militärische Unterstützung Kyjiws bei weitem übersteigen. Die Ukraine selbst versucht noch mit allen Mitteln den militärischen Widerstand weiter zu führen, ohne internationale Unterstützung scheint dies aber als aussichtsloses Unterfangen.

Fazit

Die Szenarien stellen drei unterschiedliche Entwicklungen vor, die auch in abgewandelter Form durchaus möglich sind. Ein weiteres Ereignis, das in den Szenarien nicht behandelt wurde, aber durchaus realistisch ist, ist eine erneute russische Mobilmachung nach den Präsidentschaftswahlen. Dazu könnte Russland schreiten, wenn es nicht gelingt, durch Anreize und Druck genügend »Freiwillige« zu generieren. Allerdings liegt allen drei Szenarien zu Grunde, das Moskau genügend Menschenmaterial hat, in 2024 weitgehend offensiv vorzugehen. Das Material (Kampf-, Schützen- und Mannschaftstransportpanzer) könnte knapp werden, wenn Russland es nicht schafft, seine Materialverluste einzugrenzen. Denn auch wenn Russland noch über größere Lagerbestände an Altgerät aus dem Kalten Krieg verfügt, sollte es nicht mehr Gerät verlieren, als es davon pro Jahr wieder instand setzten kann. Und seine diesbezüglichen Kapazitäten sind begrenzt.

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