Infolge der großangelegten Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 erlitt die ukrainische Wirtschaft kaum überraschend einen schweren Schock. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes fiel[1] 2022 um satte 29 Prozent. Seither haben der ukrainische Staat und seine Bevölkerung jedoch enorme Schwierigkeiten überwunden und einen außergewöhnlichen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt[2], auch wenn die massiven Angriffe Russlands anhalten. Die Weltbank schätzt[3], dass das ukrainische BIP im Jahr 2023 um 4,8 Prozent gestiegen ist, und prognostiziert für 2024 ein weiteres Wachstum von 3,2 Prozent. Doch so ermutigend dies auch sein mag bleibt es eine enorme Aufgabe, die ukrainische Wirtschaft wieder auf das Vorkriegsniveau zu bringen: Rund 486 Milliarden US-Dollar sind dafür bereits erforderlich[4] – eine Zahl, die angesichts der weiter anhaltenden Kämpfe noch weiter steigen wird.
In Anbetracht dieser Aussichten kommt unsere Analyse zu zwei erfreulichen Ergebnissen. Erstens zeigen die verfügbaren Wirtschafts- und Investitionsdaten, dass die gegenwärtige größere räumliche Neuorientierung der Produktion eine wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Erholung der Ukraine spielt. Die ukrainischen Betriebe und Unternehmer:innen haben sich darauf eingestellt, indem sie einen Teil der Produktion und Dienstleistung von den militärisch am stärksten gefährdeten Regionen (siehe Karte 1) im Süden und Osten der Ukraine in strategisch sicherere Gebiete in der Mitte und im Westen des Landes verlagert haben. Neue Kapitalinvestitionen aus dem In- und Ausland werden ebenfalls in erster Linie in den Westen der Ukraine gelenkt. Zweitens haben sich die ukrainischen Unternehmen als ziemlich anpassungsfähig an die Kriegsbedingungen erwiesen und in einigen Fällen zumindest teilweise die Produktion in stark von den Kampfhandlungen betroffenen Gebieten wiederhergestellt, so dass diese weiterhin eine wichtige – wenn auch reduzierte – Rolle in der ukrainischen Nachkriegswirtschaft spielen könnten.
Auftakt zum Aufschwung: Die regionale Dimension
Wie wir früher erörtert haben[5], hat sich die ukrainische Wirtschaft bereits vor der russischen Invasion im Jahr 2014 deutlich vom Osten, wo die alten und oft veralteten Produktionskapazitäten der Schwerindustrie stagnierten, auf die westlichen und zentralen Regionen des Landes verlagert. Wie wir erläutert haben, sind solche räumlichen Verschiebungen in großen Ländern mit unterschiedlichen regionalen natürlichen und menschlichen Ressourcen üblich. Infolge der illegalen Annexion der Krim 2014 durch Russland sowie der russischen de facto Kontrolle über einen großen Teil der Oblaste Donezk und Luhansk (zusammen als Donbas bezeichnet), beschleunigte sich die Verlagerung aus dem Osten. In einem neueren Beitrag[6] und einem damit zusammenhängenden Blogpost[7] haben wir (zusammen mit Matthew Lantzy) beschrieben, wie durch die größten russischen Angriffe nach Februar 2022 einige der produktivsten Regionen des Landes im Osten und Süden besonders schwere Schäden erlitten, wodurch die relative Bedeutung des Westens und des Zentrums der Ukraine im Zuge der Kontraktion der Volkswirtschaft zunahm. Der Verlust wertvoller Produktionskapazitäten war ein wesentlicher Faktor für den starken Rückgang des BIP.
Das räumliche Muster der Zerstörung durch russische Angriffe ist in den Daten, die das Projekt Violent Incident Information from News Articles (VIINA) erfasst[8], deutlich erkennbar (siehe Karte 2, Stand: 31.12.2023). Die Ereignisse, z. B. Raketen-, Langstreckenartillerie- und Luftangriffe, stimmen sehr gut mit früheren monetären Schätzungen von materiellen Verlusten nach Oblast überein (Spearman’s rho = .888, N=25), die von der Kyiv School of Economics (KSE) durchgeführt wurden. Wir sind daher zuversichtlich, dass die regionalen wirtschaftlichen Auswirkungen eng mit den Kriegsschäden übereinstimmen. Andere Daten, die vom Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED)[9] zusammengestellt wurden, zeigen, dass sich die Zerstörungen in einigen stark betroffenen Oblasten (z. B. Cherson, Mykolajiw, Luhansk, Charkiw und Saporischschja) auf bestimmte Gebiete konzentrieren, von denen einige von den ukrainischen Streitkräften befreit wurden, während andere Gebiete in derselben Oblast relativ wenig betroffen sind. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass einige einmalige Ereignisse, wie die Zerstörung[10] des Kachowka-Staudamms in der Oblast Cherson im Juni 2023 durch russische Streitkräfte oder Angriffe[11] auf Getreidespeicher in Odesa und anderen Häfen im Jahr 2023, in wirtschaftlicher Hinsicht von überdurchschnittlicher Bedeutung sind, so dass sie nur schwer als einfache »Ereignisse« an sich bewertet werden können. Und schließlich wollen wir keinesfalls den Eindruck erwecken, dass vereinzelte russische Angriffe auf – relativ betrachtet – weniger beschädigte Regionen unwichtig oder nicht erwähnenswert sind, weil sie keine größeren wirtschaftlichen Schäden zur Folge hatten. Alle Angriffe auf die Zivilbevölkerung – einschließlich in Winnyzja[12] im Juli 2022 und in Lwiw[13] im Juli 2023 – sind mit enormem menschlichem Leid verbunden und müssen als eines der vielen Kriegsverbrechen angesehen werden, die von den russischen Streitkräften in diesem Krieg begangen wurden.
Die Wirtschaft zieht westwärts
Detaillierte offizielle Daten über die regionale Wirtschaftsentwicklung in der Ukraine nach 2021 sind verständlicherweise nicht öffentlich zugänglich. Außerdem ist der inländische Rüstungssektor aus offensichtlichen Gründen und im Zuge der allgemeinen wirtschaftlichen Erholung erheblich gewachsen[14] und hat mit großer Wahrscheinlichkeit die zivilen Bereiche übertroffen. Es gibt nur sehr wenige ortsspezifische Informationen über solche Aktivitäten, und in den seltenen Fällen, in denen man auf Standorte von Rüstungsbetrieben schließen könnte, haben wir uns dazu entschieden, diese nicht zu berücksichtigen. Auch haben viele Unternehmen, die zuvor nicht im Verteidigungsbereich tätig waren, ihre Geschäftstätigkeit auf die Belieferung des Militärs umgestellt, aber wir sind nicht in der Lage, diese Daten zu analysieren. Außerdem sind einige Schlüsselunternehmen, die an der Kriegswirtschaft beteiligt sind, räumlich ungebunden und wegen ihrer spärlichen Präsenz schwer zu erfassen, insbesondere im Bereich des IT-Sektors[15] und bei der weit verstreuten Produktion von Militärdrohnen[16], die es den ukrainischen Streitkräften ermöglicht haben, die territorialen Gewinne, die Russland zu Beginn des Krieges erzielt hat, zu begrenzen und sogar rückgängig zu machen.
Unter Berücksichtigung dieser Vorbehalte verwenden wir vier Datensätze, um die regionalen Verschiebungen der Wirtschaftstätigkeit in der Ukraine zu beschreiben. Erstens betrachten wir die Nettoveränderungen der Oblaste bei den Unternehmenslizenzen, und zwar anhand der offiziellen Zahlen für den Saldo zwischen neugegründeten und geschlossenen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Zweitens analysieren wir die Entwicklung in der Zahl der Einzelunternehmer (ukrainisch: fisytschna osoba-pidprijemez, FOP) im ganzen Land. Drittens vergleichen wir auf regionaler Ebene die Entwicklung des Anteils der staatlichen Hypothekenfinanzierung zwischen 2021, dem letzten Kalenderjahr vor der Großinvasion, und 2023, dem ersten vollen Kalenderjahr nach der Invasion. Schließlich stellen wir viertens auf der Grundlage von Wirtschaftsnachrichten Meldungen[17] über neue und expandierende Projekte in jeder Oblast bis 2023 zusammen, die sowohl inländische als auch ausländische Investitionen angezogen haben. Auch wenn keiner dieser Indikatoren für sich allein genommen aussagekräftig ist, sollte die Kombination der vier Indikatoren zumindest einen Hinweis auf die regionale Wirtschaftsentwicklung geben.
Die Daten über neue und abgelaufene KMU-Unternehmenslizenzen (siehe Karte 3) deuten darauf hin, dass sich die ukrainische Wirtschaft seit dem Beginn der Vollinvasion im Februar 2022 tatsächlich nach Westen verlagert hat – und zwar weg von den Gebieten, die an die Kriegsfront angrenzen. Die Oblaste Lwiw, Winnyzja, Kyjiw und Dnipropetrowsk sowie die Stadt Kyjiw verzeichneten in dieser Hinsicht die größten Zuwächse, während die Regionen Charkiw, Cherson, Donezk, Luhansk, Saporischschja und Mykolajiw, wo die schwersten Kämpfe stattgefunden haben (siehe Karte 2), erhebliche Einbußen verzeichneten.
Die regionale Verteilung neuer Lizenzen für Einzelunternehmen (siehe Karte 4) stimmt sehr genau mit der Verteilung der neuen Lizenzen für KMU überein (Spearman’s rho = .887, N=25), was darauf hindeutet, dass sich die ukrainische Wirtschaft nach Westen orientiert hat. Die Oblaste Dnipropetrowsk, Lwiw, Odesa und Kyjiw sowie die Stadt Kyjiw sind auf der positiven Seite am stärksten vertreten, während die Oblaste Donezk, Luhansk und Mykolajiw am stärksten eingebrochen sind.
Die veränderte Verteilung der staatlichen Hypothekenfinanzierung nach Regionen zwischen 2021 und 2023 (siehe Karte 5) spiegelt wiederum die relative Verlagerung der Investitionen nach Westen wider, wobei die Oblaste Wolyn, Winnyzja und Kyjiw die größten Zuwächse verzeichneten und die Regionen im Osten sowie die Stadt Kyjiw an Boden verloren. Neuinvestitionen wurden in allen Regionen getätigt – die landesweite Gesamtzahl stieg in diesem Zeitraum sogar an. Aber wir vermuten, dass dieser besondere Trend auf lokale Marktbedingungen (die von Ort zu Ort unterschiedlich waren) sowie auf das Sicherheitsempfinden und die regionale Bevölkerungsentwicklung zurückzuführen ist.
Schließlich konnten wir durch die Auswertung von Wirtschaftsnachrichten 32 konkrete Investitionsprojekte ermitteln, die in der Ukraine vom 1. März 2022 bis zum 31. Dezember 2023 realisiert wurden. Obwohl unsere Liste mit Sicherheit unvollständig ist, stimmt das allgemeine räumliche Muster der uns bekannten Vorhaben (siehe Karte 6) weitgehend mit den Daten über KMU und FOP überein, wobei der Großteil der Investitionen in den zentralen und westlichen Regionen getätigt wurde. Insbesondere die Oblaste Lwiw, Kyjiw, Iwano-Frankiwsk, Dnipropetrowsk, Wolyn und Tscherkassy sind führend bei der Anzahl neuer Projekte, wobei in den Oblasten Ternopil und Schytomyr jeweils besonders große Einzelinvestitionen getätigt wurden. Die Regionen, die Russland und der Frontlinie am nächsten liegen, waren für Investoren hingegen nicht attraktiv.
Fazit: Chancen und Herausforderungen des regionalen wirtschaftlichen Wandels in der Ukraine
Wie wir zeigen konnten, lassen die verfügbaren Wirtschafts- und Investitionsdaten erkennen, dass eine laufende umfassende geografische Neuausrichtung der Produktion eine wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Erholung der Ukraine spielt. Sowohl die unternehmerischen Aktivitäten als auch die Kapitalinvestitionen haben sich von den frontnahen Regionen weg auf strategisch sicherere Gebiete im Zentrum und im Westen des Landes verlagert. In einigen Fällen ist es ukrainischen Unternehmen auch gelungen, die Produktion in stark betroffenen Gebieten zumindest teilweise wiederherzustellen.
Im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der Ukraine bringt die Verlagerung der Wirtschaft in den Westen des Landes – um die Vulnerabilität der Unternehmen zu verringern und günstigere Standorte für neue Investitionen zu nutzen – sowohl positive als auch negative Veränderungen gegenüber dem Status quo ante bellum mit sich. Wenn sich die regionale Wirtschaftsstruktur, wie wir in unserer früheren Arbeit gezeigt haben, aus Gründen der Effizienz und/oder Rentabilität bereits in diese Richtung bewegte, dann verstärken die neuen kriegsbedingten Veränderungen diesen Trend, der für die Zukunft ein robusteres Wachstum verspricht – ein Wachstum, das wiederum von entscheidender Bedeutung für die nationale Sicherheit des Landes ist. Diese neuen und expandierenden Unternehmen bieten zudem Perspektiven für die rund 3,7 Millionen Binnenvertriebenen. Einem kürzlich erschienenen Bericht der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge[18] sind 39 Prozent der Binnenvertriebenen zweimal umgezogen – hauptsächlich in zentrale und westliche Regionen wie Wolyn, Winnyzja, Lwiw, Schytomyr, Iwano-Frankiwsk und die Stadt Kyjiw – aus Sicherheitsgründen und um Arbeit zu finden. Die erzwungene Zuwanderung birgt jedoch eine Reihe von Problemen, die die lokalen Verwaltungen vor Herausforderungen stellen und bei der ansässigen Bevölkerung negative Gefühle hervorrufen können. Dies ist[19] in der sich im Kriegszustand[20] befindenden Ukraine definitiv der Fall. Auf längere Sicht jedoch kann diese Zuwanderung die für das Wachstum von Unternehmen benötigten Arbeitskräfte und Qualifikationen liefern. Dies führt zu einer zusätzlichen Nachfrage nach lokalen Produkten, Wohnraum, Bildung und Gesundheitsdienstleistungen, was wiederum einen zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften schafft.
Gleichzeitig sollten aus Gründen der Gerechtigkeit und der politischen Stabilität zumindest einige größere Wiederaufbauprojekte in den schwer beschädigten Gebieten im Osten und Süden des Landes gefördert und durchgeführt werden, um die Wirtschaftsentwicklung zu stärken. Wie wir (zusammen mit Cynthia Buckley) bereits vor der russischen Vollinvasion feststellten[21], war der ukrainische Staat nur unzureichend in der Lage, grundlegende soziale Leistungen zu erbringen, was zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der Regierung führte und – im Extremfall – die staatliche Legitimität in Frage stellte. Die oben erwähnte IOM-Studie stellte außerdem fest, dass eine große Zahl von Binnengeflüchteten innerhalb ihrer jeweiligen Region lebte, insbesondere in der Oblast Charkiw, die im Jahr 2021 hinsichtlich ihres regionalen Anteils am BIP landesweit an dritter Stelle stand. Das in diesen Regionen vorhandene Sach- und Humankapital spricht für einen zumindest teilweisen Wiederaufbau[22] der lokalen Wirtschaft als Teil eines langfristigen nationalen Wiederaufbauplans, der die sozioökonomischen Kapazitäten der Ukraine unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Bürger:innen verbessern würde.
Übersetzung: Dr. Eduard Klein
Der Artikel erschien am 09.04.2024 unter dem Titel »Ukraine’s Economy Moves Westward: Implications for Rebound and Reconstruction« bei PONARS Eurasia und ist frei zugänglich unter https://www.ponarseurasia.org/ukraines-economy-moves-westward-implications-for-rebound-and-reconstruction/.
Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt den Autor:innen und PONARS Eurasia für die Erlaubnis zur Veröffentlichung der deutschsprachigen Übersetzung.
Verweise
[1] https://www.reuters.com/world/europe/ukraines-gdp-fell-291-2022-during-russias-invasion-2023-04-13/
[2] https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraines-wartime-economy-is-performing-surprisingly-well/
[3] https://www.worldbank.org/en/publication/global-economic-prospects
[4] https://twitter.com/OlKubrakov/status/1758099415565205828
[5] https://www.ponarseurasia.org/rebuilding-ukraine-pre-war-trends-and-post-war-priorities-should-inform-the-process/
[6] https://www.ponarseurasia.org/the-spatiality-of-war-and-challenges-in-restoring-ukraines-economy/
[7] https://warontherocks.com/2023/10/rebuilding-ukraines-economy-starts-now/
[8] https://github.com/zhukovyuri/VIINA
[9] https://acleddata.com/ukraine-conflict-monitor/
[10] https://www.wilsoncenter.org/blog-post/aftermath-kakhovka-dam-collapse
[11] https://www.reuters.com/world/europe/russias-air-attack-odesa-injures-one-damages-infrastructure-ukraine-official-2023-09-25/
[12] https://www.bbc.com/news/world-europe-62163071
[13] https://www.hrw.org/news/2023/07/19/ukraine-russian-missile-strike-lviv-possible-war-crime
[14] https://www.voanews.com/a/ukraine-gets-eu-membership-boost-but-no-new-european-aid-/7399178.html
[15] https://www.wired.com/story/ukraine-startups-resilience-tech-sector/
[16] https://www.cfr.org/article/how-drone-war-ukraine-transforming-conflict
[17] https://ubn.news/
[18] https://dtm.iom.int/ukraine
[19] https://www.businessperspectives.org/index.php/component/zoo/internal-migration-during-the-war-in-ukraine-recent-challenges-and-problems
[20] https://www.ilo.org/budapest/whats-new/essential-questions/WCMS_852649/lang--en/index.htm
[21] https://warontherocks.com/2019/12/how-to-stabilize-ukraine-long-term-securitize-well-being/
[22] https://reliefweb.int/report/ukraine/path-recovery-rebuilding-hope-kharkiv