Einleitung
Die Frage von Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine stellte sich bereits in den ersten Tagen des Krieges. Paradoxerweise erscheint die Möglichkeit, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden umso schwieriger und problematischer, je länger der Krieg andauert.
Es hat bereits seit 2014 die Erfahrung von Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine gegeben. Diese bezogen sich auf eine Beendigung des Krieges im Donbas (in den zwei östlichen Regionen der Ukraine) und fanden im sogenannten Normandie-Format statt (beteiligt waren Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine). Daneben gab es Verhandlungen zum Abschluss und zur Umsetzung des ersten und zweiten Minsker Abkommens und Treffen der Trilateralen Kontaktgruppe. Russland betrachtete sich seinerzeit allerdings nicht als Konfliktpartei und versuchte, formal als Vermittler zu agieren. Der Krieg war damals noch begrenzt und hybrider Natur. Die ambivalente Erfahrung jener Verhandlungen dürfte gleichwohl Einfluss auf zukünftige Verhandlungen zur Beendigung des Krieges haben. Wie damals schon könnte Russland den Verhandlungsprozess durch militärischen Druck beeinflussen. Und in der Ukraine erinnert man sich an das Scheitern der Minsker Abkommen und fürchtet ein »Minsk 3«.
Wenige Tage nach Beginn der russischen Vollinvasion setzten direkte Verhandlungen zur Beendigung des Krieges ein. Die aktiven Verhandlungen (direkte Gespräche zwischen offiziellen Vertreter:innen Russlands und der Ukraine) dauerten rund einen Monat, bis Ende März 2022. Anfänglich fanden sie online statt und wurden im April 2022 fortgesetzt, allerdings ohne große Hoffnung auf konkrete Ergebnisse. Ende März und Anfang April standen die Seiten kurz vor der Unterzeichnung eines Friedensabkommens. Bei den Unterredungen in Istanbul legte die ukrainische Seite das Konzept eines Friedensabkommens vor,[1] das eher einem Kompromissansatz glich. Die russische Seite behauptete später, dass die beiden Seiten angeblich sogar eine gewisse Einigung erzielt hätten. Allerdings gab es seinerzeit keine Belege für derlei Übereinkommen und es gibt sie auch heute nicht. Die Entwürfe, die von der New York Times veröffentlicht und von Sergey Radchenko und Samuel Charap in »Foreign Affairs« analysiert wurden,[2] enthielten auch den russischen Vorschlag für einen Friedensvertrag vom 15. April 2022, der von der ukrainischen Seite nicht akzeptiert wurde.
Warum scheiterten Russland und die Ukraine im März/April 2022 bei dem Versuch, ein Abkommen zu erreichen? Hauptsächlich, weil die kriegführenden Parteien bei diesen Verhandlungen unterschiedliche Ziele verfolgten. Der Kreml hatte es zwar nicht geschafft, Kyjiw innerhalb von drei Tagen einzunehmen, doch standen russische Truppen in der Nähe der Hauptstadt. Moskau hatte gehofft, dass es während der Verhandlungen möglich werden würde, die ukrainische Führung dazu zu zwingen, sich tatsächlich zu ergeben und die meisten russischen Forderungen zu erfüllen. Dabei ging es u. a. um eine »Entmilitarisierung« und »Entnazifizierung« der Ukraine, also einen Machtwechsel.
Die ukrainische Armee hatte den Feind vor Kyjiw und Charkiw aufgehalten, doch fehlte es ihr an Waffen und Munition, und es war unklar, ob sie in der Lage sein würde, sich den russischen Angriffen langfristig zu widersetzen. Daher war die ukrainische Führung seinerzeit zu einem breiten Kompromiss bereit. Unter anderem wäre sie bereit gewesen, ihr Streben nach einer NATO-Mitgliedschaft im Gegenzug für eine Einstellung der russischen Kampfhandlungen und eine Rückkehr zur Situation vor dem 24. Februar 2022 aufzugeben. Eine Kapitulation gegenüber Russland – selbst eine halboffizielle – war jedoch für die ukrainische Regierung, die Streitkräfte der Ukraine und die meisten Ukrainer:innen grundsätzlich ausgeschlossen.
Ende März 2022 gab es in Istanbul die theoretische Chance für einen Kompromiss. Allerdings war Russland zu jener Zeit nicht bereit, einen solchen Kompromiss einzugehen. Die Antwort Russlands auf die Vorschläge der Ukraine erfolgten erst in der zweiten Aprilhälfte 2022 (und wurden dann auch nur hinter verschlossenen Türen unterbreitet); die Chance für einen Kompromiss war zu diesem Zeitpunkt allerdings längst vorbei. Denn nachdem die Tragödien von Butscha und Irpin bekannt wurden, zwei Kyjiwer Vororten, wo Russen Hunderte von Zivilist:innen getötet hatten, änderte sich die Einstellung von Präsident Selenskyj und der Bevölkerungsmehrheit zu Verhandlungen drastisch. Der emotionale und moralische Schock durch diese Tragödien führte dazu, dass die Ukrainer:innen jedweden Kompromissen mit Russland sehr kritisch gegenüberstanden. Außerdem wurde in jener Zeit deutlich, dass die Ukraine der russischen Invasion widerstanden hatte und westliche Partner begannen, Kyjiw mit Waffen, Material und Geld zu unterstützen. In der Ukraine regte sich die Hoffnung, den russischen Angriffskrieg gewinnen zu können.
Die offiziellen Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine wurden zwar praktisch im Mai 2022 eingestellt, doch gab es immer wieder Versuche, den Verhandlungsprozess wieder in Gang zu bringen. Einige dieser Versuche brachten konkrete Ergebnisse, zwar nicht für eine eigentliche Friedenslösung, aber wenigstens bei der Lösung von einigen dringlichen kriegsbedingten Problemen. Es gab 2022 relative (mitunter vorübergehende) Verhandlungserfolge wie das Getreideabkommen (engl.: »Black Sea Grain Initiative«; off.: »Initiative für den sicheren Transport von Getreide und Lebensmitteln aus ukrainischen Häfen«) sowie Abkommen über einen Austausch von Kriegsgefangenen. Das ist ein Beleg, dass Verhandlungen immer noch möglich sind.
Lehren aus Getreideabkommen und Gefangenenaustausch
Die Erfahrungen aus dem Getreideabkommen, das von der Türkei und den Vereinten Nationen vermittelt und am 18. Juli 2022 von Russland und der Ukraine unterzeichnet wurde,[3] sind tatsächlich gemischt. Der anfängliche relative Erfolg endete binnen Jahresfrist in einem Scheitern, da Russland aus der Initiative ausstieg. Die kurze und kontroverse Geschichte des Getreideabkommen gibt uns positive wie negative Lehren für zukünftige Friedensverhandlungen an die Hand.
Positiv und vielversprechend ist das Format von parallelen Verhandlungen mit der Hilfe von Vermittler:innen und die parallele Unterzeichnung von Abkommen (separat mit Russland und separat mit der Ukraine). Dieses Format kann helfen, psychologische und politische Barrieren zu überwinden, wenn ukrainische und russische Offizielle nicht willens sind, sich auf direkte Verhandlungen einzulassen. Positiv ist auch der Beleg, dass Kompromisslösungen zwischen Russland und der Ukraine überhaupt möglich sind. Negativ ist, dass Russland erneut seinen Ruf als unzuverlässiger und konfliktsuchender Verhandlungspartner untermauert hat, der jedwede Abkommen brechen kann.
Ein weiteres Beispiel für die recht positive Erfahrung von indirekten Verhandlungen mit Hilfe eines Vermittlers (nämlich katarischer Diplomaten) sind die Verhandlungen über eine Rückkehr von ukrainischen Kindern aus Russland und den besetzten Gebieten. Darüber ist nur sehr wenig bekannt, allerdings ist zumindest die Tatsache, dass sie von Zeit zu Zeit stattfinden und einige positive Ergebnisse brachten, bestätigt.
Bemerkenswert ist, dass Präsident Selenskyj im Sommer 2024 die indirekten Verhandlungen zum Getreideabkommen unter Beteiligung von Vermittlern als optimales Format bezeichnete.[4]
Die Verhandlungen über einen Austausch von Kriegsgefangenen waren erfolgreicher und von großer Bedeutung. Das Paradoxe besteht hier darin, dass es sich um direkte Verhandlungen handelt (nur zu Beginn halfen Vermittler:innen). Russland hat zwar den Austausch von Gefangenen mehrere Mal ausgesetzt, doch funktioniert dieser Verhandlungskanal recht regelmäßig als gut etablierter Mechanismus. Was hat zu dem Erfolg dieser Verhandlungen beigetragen? Meiner Ansicht nach liegt es daran, dass sie rein technischer und spezifischer Natur sind (hier geht es primär darum, Kriegsgefangene und die Leichname Gefallener auszutauschen: wie viele gegen wie viele, wann und wo?). Bei diesen Verhandlungen gibt es keine politischen Interessenskonflikte (geopolitischer, innenpolitischer, persönlicher Art…) und keine zusätzliche Verkomplizierung durch Verknüpfung verschiedener Themen und Fragen. Verhandlungen über Gefangenenaustausche werden hinter verschlossenen Türen von Vertreter:innen des Militärs und der Geheimdienste geführt. Nachrichtendienste diverser Länder haben längst die einzigartige Fähigkeit entwickelt, den Feind zu bekämpfen und gleichzeitig technische Kontakte mit ihm zu unterhalten. Die Erfahrung der Verhandlungen zum Gefangenenaustausch (so erfolgreich sie sein mögen) kann aber schwerlich direkt auf die politische Kommunikation zur Beendigung des Krieges übertragen werden.
Hindernisse für den Friedensprozess
Was genau verhindert die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen und die Suche nach einem Kompromiss, um den Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu beenden? Es gibt zwei Gruppen wirkmächtiger Hindernisse.
Erstens besteht bei beiden Kriegsparteien ein psychologischer und politischer Unwillen, den Krieg zu beenden. Bislang versuchen beide Seiten, einen Frieden zu den eigenen Bedingungen zu erlangen. Wirkliche Verhandlungen werden erst dann beginnen, wenn eine der Seiten eindeutig die Oberhand erlangt (was derzeit relativ unwahrscheinlich erscheint). Oder wenn klar wird, dass es keinen Sieg geben wird und irgendeine Art Kompromiss gefunden werden muss, um den Krieg zu beenden. Aber selbst dann wird keine der Seiten als Verlierer dastehen wollen und versuchen, politisch das Gesicht zu wahren. Zweitens besteht ein grundlegender und nahezu unvereinbarer Gegensatz zwischen den Interessen Russlands und der Ukraine in Bezug auf die Bedingungen zur Beendigung des Krieges. Betrachten wir die Interessen, offiziellen Positionen und die tatsächliche Bereitschaft hierzu auf beiden Seiten.
Position der Ukraine
Seit 2014 strebt die Ukraine die Rückgabe sämtlicher besetzter Gebiete an, einschließlich der Krym und jenes Teils des Donbas, der mit russischer Unterstützung von den Separatisten besetzt wurde. Das ist die Position der ukrainischen Führung und der Bevölkerungsmehrheit, was durch Meinungsumfragen bestätigt wird. Einer Umfrage des Kyjiwer Internationalen Institut für Soziologie vom Mai 2024 zufolge (mit 1.067 Befragten in allen Regionen der Ukraine außer den besetzten Gebieten) sprachen sich 55 Prozent gegen jedwede territorialen Zugeständnisse aus.[5] Andere Umfragen zeigen ähnliche Ergebnisse.
Die offizielle Position der Ukraine wurde in den zehn Punkten von Präsident Selenskyjs »Friedensformel«[6] festgeschrieben. Dort wird die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes (in den Grenzen von 1991) als Ziel genannt, die Freilassung aller Kriegsgefangenen und Deportierten, der Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine, das Ende der Kampfhandlungen, die Bestrafung russischer Kriegsverbrechen durch ein dafür zu schaffendes Sondertribunal, russische Reparationen für sämtliche Kriegsschäden, die Schaffung von internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine sowie die Besiegelung des Kriegsendes durch einen gesonderten Vertrag.
Das sind natürlich keine Vorschläge für Friedensgespräche mit Russland. Es liegt auf der Hand, dass Moskau Selenskyjs Friedensformel ablehnen dürfte. Die Friedensformel ist eher ein Maximalprogramm für die Ukraine, das nur bei einem vollkommenen Sieg der Ukraine umgesetzt werden könnte; sie kann auch als politische Richtschnur dienen. Zudem hatte die Ukraine im Herbst 2022 offiziell Verhandlungen mit Russlands Präsident Waldimir Putin untersagt. Die Friedensformel wird manchmal mit Selenskyjs »Siegesplan« verwechselt. Das sind zwei verschiedene Dokumente. Der Siegesplan beinhaltet die Vorschläge der Ukraine an die Vereinigten Staaten und weitere westliche Partner, was zusammen unternommen werden sollte, um die Position der Ukraine zu stärken und den Druck auf Russland zu erhöhen, damit der Kreml zu Verhandlungen gezwungen wird.
Bedeutet dies, dass die Ukraine nie mit Russland verhandeln wird? Nein. Da der Krieg sich weiter hinzieht und das Bewusstsein bzw. die Erkenntnis wächst, dass ein vollkommener Sieg über Russland nicht möglich ist, könnte sich die öffentliche Meinung und die Haltung der ukrainischen Führung ändern. Verschiedenen Umfragen zufolge gibt es in der Ukraine die Tendenz, dass sich der Anteil der Befragten, die annehmen, der Krieg werde auch ohne die Befreiung aller besetzter Gebiete zu Ende gehen, zunimmt. Umfragen des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie haben gezeigt, dass der Anteil der Ukrainer:innen, die jetzt zu territorialen Zugeständnissen für eine Beendigung des Krieges bereit sind, von acht Prozent im September und Dezember 2022 auf 32 Prozent im Mai 2024 zugenommen hat. Gleichzeitig ging der Anteil derjenigen, die gegen solche Zugeständnisse sind von 87 Prozent im September 2022 auf 55 Prozent im Mai 2024 zurück. Gleichzeitig zeigt eine tiefergehende Untersuchung, dass unter der Bedingung einer Mitgliedschaft in der NATO und der EU die meisten Ukrainer:innen bereit wären, gewisse territoriale Zugeständnisse zu akzeptieren, allerdings ohne eine offizielle Anerkennung.[7] Nach dem ersten Friedensgipfel (Global Peace Summit) in der Schweiz im Juni 2024 hatte Präsident Selenskyj die Möglichkeit von Friedensgesprächen mit Russland nicht ausgeschlossen, allerdings unter der Bedingungen eines gerechten Friedens. Auf jeden Fall werden die ukrainische Regierung und die ukrainische Gesellschaft eine russische Souveränität de jure über selbst einen Teil des ukrainischen Territoriums nicht akzeptieren, auch wenn dieser de facto unter russischer Kontrolle steht.
Position Russlands
Der Kreml hat den Krieg gegen die Ukraine als »militärische Spezialoperation« bezeichnet. Die Ziele dieser »Operation« waren nicht klar definiert und haben sich im Laufe des Krieges geändert. Eine offizielle Position der Russischen Föderation zu den Bedingungen, unter denen der Krieg beendet werden kann, ist bisher nicht verkündet worden.
Nimmt man die öffentlichen Erklärungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, ging es ursprünglich um den »Schutz« der separatistischen Republiken im Donbas, um eine »Entmilitarisierung« und »Entnazifizierung« der Ukraine und darum, einen Beitritt der Ukraine zur NATO zu verhindern. Es scheint, als sei die russische Führung bestrebt gewesen, einen Regierungswechsel in Kyjiw zu erreichen, wofür der Versuch spricht, die Hauptstadt der Ukraine einzunehmen und damit die vollständige politische Kontrolle Russlands über die Ukraine oder zumindest einen Großteil des Territoriums wiederherzustellen. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen. Mehr noch: Die russischen Truppen verloren die Kontrolle über einen großen Teil der Gebiete, die sie im Februar 2022 erobert hatten.
In der Rhetorik des Kreml und in seinem politischen Vorgehen rückte ein Beitritt (eine »Rückkehr«) angeblich ehemals russischer Gebiete an Russland in den Vordergrund. Hier ist die Rede von den separatistischen Republiken im Donbas und den Gebieten der Ukraine, die 2022 von Russland besetzt wurden. Die Entscheidung, im Herbst 2022 diese »neuen Gebiete« zu annektieren, hat diese Haltung in der Verfassung verankert.
Russische Offizielle erklären regelmäßig ihre Bereitschaft zu Verhandlungen, bestehen jedoch gleichzeitig darauf, dass die Ukraine die neuen politischen und territorialen »Realitäten« anerkennt, also die Tatsache, dass Russland einen Teil des ukrainischen Territoriums annektiert hat. Gleichzeitig setzt Russland seine Offensive in der Ukraine fort und versucht, die strategische Initiative im Krieg zu ergreifen. Darüber hinaus setzte der Kreml auf eine Erschöpfung der Ukraine und die Zerstörung der ukrainischen Wirtschaft und ihrer Energieversorgung; und er zieht den Krieg bewusst in die Länge. Die russische Führung hofft daneben auf Veränderungen der politischen Lage in den westlichen Ländern, die zu einem Rückgang der Unterstützung für die Ukraine führen würde.
Im Juni 2024 nannte Präsident Putin zwei zentrale Bedingungen für den Beginn von Friedensgesprächen mit der Ukraine: Abzug der ukrainischen Truppen vom gesamten Territorium der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson sowie Kyjiws Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft.[8] Im Kern wird damit die Kapitulation der Ukraine gefordert, was sowohl für den ukrainischen Präsidenten wie für die ganz überwiegende Mehrheit der Ukrainer:innen nicht hinnehmbar ist. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Putin nicht nur von der Ukraine Zugeständnisse verlangt, sondern auch von den USA und der NATO, von denen er »Sicherheitsgarantien« für Russland und eine Aufhebung der Sanktionen fordert.
Externe Akteure
Die Ukraine und Russland sind also beide noch nicht bereit für Friedensgespräche. Präsident Selenskyj, die ukrainische Führung und die meisten Ukrainer:innen sind psychologisch noch nicht an dem Punkt, einen Frieden zu akzeptieren, der nicht die Befreiung zumindest einiger russisch besetzter Gebiete beinhaltet. Russland versucht immer noch, den Krieg zu gewinnen und die Ukraine zu einem Frieden zu Moskaus Bedingungen zu zwingen (Anerkennung der Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete durch Russland, Blockierung einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft usw.).
Alle zukünftigen Friedensgespräche werden unausweichlich vor einem fatalen Problem stehen, nämlich der Unmöglichkeit eines Kompromisses beim Status der vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine, einschließlich der Krym. Russland wird die ukrainischen Gebiete, die es offiziell in seinen Staat integriert hat, nicht aufgeben. Und die Ukraine wird ihr legitimes Anrecht auf diese Gebiete nicht aufgeben. Darin besteht die Sackgasse bei dieser zentralen Frage im Krieg und für einen zukünftigen Friedensprozess.
Der weitere Verlauf des Krieges und die Möglichkeit von Friedensverhandlungen wird durch die wichtigsten Partner der Kriegsparteien beeinflusst werden: auf Seiten der Ukraine sind das der Westen (die USA und die EU), auf Seiten Russlands ist es China. Es ist bereits jetzt klar: Je länger der Krieg andauert, desto aktiver werden diese die Ukraine und Russland zu einer Art Friedensabkommen drängen. Beide Kriegsparteien werden wohl kaum zu direkten Verhandlungen bereit sein. Daher wird ein Vermittler vonnöten sein, sobald die beiden Seiten psychologisch und politisch reif für Friedensgespräche sind. Es gibt viele Kandidaten für diese Rolle, von China zum Vatikan, von der Türkei und einigen arabischen Staaten bis zur Schweiz. Der Vermittler wird von Russland und der Ukraine einvernehmlich gewählt werden. Dabei dürften Länder favorisiert werden, die bereits relativ erfolgreich zwischen Russland und der Ukraine vermittelt und ausreichend freundschaftliche Beziehungen zu beiden Ländern haben. Es könnte dazu kommen, dass externe Garanten eines möglichen Friedensabkommens gebraucht werden. Das könnten Partner der kriegführenden Länder sein, China etwa auf Seiten Russlands und die USA oder die EU auf Seiten der Ukraine.
Das Schwierige an der gegenwärtigen Lage besteht darin, dass sich im Frühjahr und Sommer 2024 sowohl die Kriegshandlungen als auch die Diskussionen über eine Beendigung des Krieges intensiviert haben. Verschiedene Friedensinitiativen wurden erkennbar. China und Brasilien haben einen eigenen Friedensplan vorgelegt, der die Einhaltung von »drei Prinzipien« zur Deeskalation vorsieht: Einstellung der Kriegshandlungen, keine Eskalation des Konflikts sowie keine Ausweitung des Konflikts auf andere Gebiete sowie drittens die Anerkennung, dass Dialog und Verhandlungen der einzig mögliche Weg zur Lösung der »Krise« sind. Im Kern bedeutet das ein Einfrieren des Krieges, ohne dass die Verantwortung des Aggressors anerkannt würde und die Friedensbestimmungen notwendigerweise der UN-Charta entsprächen. China und Brasilien schlagen vor, eine Friedenskonferenz zur Umsetzung abzuhalten. Die Ukraine hingegen verfolgt die entgegengesetzte Strategie: Globale Friedensgipfel sollen dabei helfen, den Krieg auf der Grundlage der UN-Charta zu beenden, wobei die Friedensformel der Ukraine berücksichtigt werden soll. Ein erster Gipfel fand im Juni 2024 in der Schweiz statt. Die Ukraine bereitet einen zweiten Gipfel vor; Kyjiw ist bereit, zu dieser Konferenz auch Russland einzuladen. Moskau lehnt diese Friedensgipfel jedoch ab und weigert sich, daran teilzunehmen.
Meiner Ansicht nach ist es unwahrscheinlich, dass große und öffentliche zwischenstaatliche Friedenskonferenzen (oder globale Friedensgipfel) zu einer effektiven Plattform für erfolgversprechende Friedensverhandlungen werden. Es ist das Öffentliche und das Multilaterale solcher Veranstaltungen, das eine wirksame Suche nach Friedenskompromissen verhindern dürfte. Je mehr Teilnehmer:innen es bei einem Friedensprozess gibt, desto schwieriger wird es, eine allseits akzeptable Lösung zu finden. Allein offizielle Verhandlungen, die in einem begrenzten Format hinter verschlossenen Türen stattfinden, und an denen von beiden Kriegsparteien anerkannte Vermittler:innen teilnehmen, werden etwas bewirken.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Friedensgesprächen kommt, wird von den innenpolitischen Entwicklungen in Russland und der Ukraine abhängen, wie auch von bestimmten außenpolitischen Ereignissen, unter anderem vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA (insbesondere, wenn Donald Trump gewinnen sollte). Es wird sich erst dann eine Chance für eine Beendigung des Krieges auftun, wenn beide Kriegsparteien ungefähr gleichzeitig zu Friedensgesprächen bereit sind, und wenn die militärische Lage bei der Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine sich stabilisiert. In einer Situation, in der nur eine Seite Frieden will, wird es schwierig sein, Verhandlungen zu beginnen, und wahrscheinlich noch schwieriger, belastbare Ergebnisse zu erzielen. Ein Indikator für die Möglichkeit realer Friedensgespräche wird in der tatsächlichen Bereitschaft der Kriegsparteien bestehen, solche Gespräche ohne Vorbedingungen zu beginnen.
Fazit
Der Inhalt bzw. die Tagesordnung möglicher Friedensgespräche liegt auf der Hand. Als allererstes wäre da die Frage eines umfassenden Waffenstillstandes, also die Einstellung der Kampfhandlungen zu Land, zu Wasser und in der Luft. Gleichzeitig müssen Mechanismen zur Überwachung des Waffenstillstandes festgelegt werden. An zweiter Stelle ist die Freilassung (der Austausch) aller Kriegsgefangenen und Deportierten zu nennen. Die Ukraine wird auch die Frage des Abzugs der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine und der Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes aufwerfen. Das gilt auch für die Erfüllung der anderen Bedingungen, die in Selenskyjs Friedensformel aufgeführt werden. Es ist jedoch extrem unwahrscheinlich, dass Russland darauf eingehen wird. Moskau wird seinerseits Gegenforderungen an die Ukraine erheben: nach einer »Entmilitarisierung« (Reduzierung der Streitkräfte der Ukraine und bestimmter Waffentypen) und nach einer »Entnazifizierung« (Legalisierung prorussischer politischer Kräfte und der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Ukraine, ein offizieller Status des Russischen als Amtssprache usw.), nach einer offiziellen Widerrufung der ukrainischen Forderungen nach einer NATO-Mitgliedschaft usw. Es ist unwahrscheinlich, dass die Ukraine dem zustimmen wird.
Der einzige realistische Kompromiss wäre ein Abkommen, das lediglich einen Waffenstillstand regelt, und eine Freilassung (ein Austausch) der Kriegsgefangenen. Gleichzeitig würde die Frage des Status der gegenwärtig besetzten ukrainischen Gebiete offen bleiben.
Ein solches Abkommen könnte durch bevollmächtigte Vertreter der kriegführenden Parteien unterzeichnet werden. Das würde es der ukrainischen Führung ermöglichen, das offizielle Verbot von Verhandlungen und Abkommen mit dem russischen Präsidenten Putin zu umgehen. Auch könnten dadurch die zwischen der Ukraine und Russland bestehenden psychologischen und politischen Barrieren für Verhandlungen auf oberster Ebene überwunden werden. Eine derartige Ausgestaltung des Friedensabkommens könnte den politischen Führungen beider Länder entgegenkommen, da sie keine unmittelbare politische Verantwortung für das Abkommen tragen würden. Ein Waffenstillstandsabkommen könnte im Format von parallelen Verhandlungen mit Russland und der Ukraine unter Mitwirkung von Vermittlern vorbereitet und dann sogar unterzeichnet werden, ohne direkten Kontakt zwischen den Kriegsparteien.
Viele Expert:innen glauben, dass Russland niemals auf Friedensgespräche eingehen wird, bis es die Streitkräfte der Ukraine zur Kapitulation gebracht hat. Russland hat bereits mehrfach mit der Ukraine verhandelt. Das war 2014/15 der Fall wie auch 2022 in den ersten Monaten der großangelegten Phase des Krieges. Russland wird verhandeln, wenn es entweder den Krieg nicht gewinnen kann oder wenn es einen Deal mit dem Westen (den USA, der NATO, der EU) erreichen will.
Das größte Manko eines Abkommens über eine Einstellung der Kampfhandlungen besteht darin, dass es kein Friedensabkommen ist, sondern in Wirklichkeit nur ein Waffenstillstand, der ein Einfrieren des Krieges bedeutet. Da die systemischen Widersprüche, die vor diesem großen Krieg bestanden, und die sich während des Krieges nur intensiviert und verschärft haben, nicht beseitigt würden, könnte der Krieg nach einiger Zeit wieder beginnen. Wie die traurige Erfahrung mit den Minsker Abkommen zeigt, garantiert ein breitangelegtes politisches Abkommen nicht Frieden. Das Hauptproblem ist die Aggressivität des Putin-Regimes und dessen Tendenz, jedwede Abkommen zu brechen.
Daher wird es nicht ausreichen, sich auf eine Einstellung der Kampfhandlungen oder einen Frieden zu einigen. Die Ukraine muss starke und wirksame internationale Sicherheitsgarantien erhalten, um Russland von einem neuen Krieg abzuhalten. Und der Kreml muss sich über die enormen Risiken klarwerden, falls ein erneuter Angriff auf die Ukraine erfolgt. Es könnten für die Ukraine vertraglich zwischenstaatliche Sicherheitsgarantien durch unsere Partner vereinbart werden. Die Ukraine ist überzeugt, dass die wirksamste Sicherheitsgarantie für unser Land in einer NATO-Mitgliedschaft besteht. Die politische Praxis zeigt, dass sich das Putin-Regime trotz aller antiwestlicher Rhetorik nicht traut, einen direkten militärischen Konflikt mit der NATO zu beginnen. In jedem Fall muss Putins Russland militärisch und politisch abgeschreckt werden, um einen neuen Krieg in Europa zu verhindern. Und der Westen muss dafür die Unterstützung für die Ukraine fortsetzen.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder
Verweise
[1] Der offizielle Text des von der Ukraine vorgeschlagenen Konzepts für ein Friedensabkommen wurde nicht veröffentlicht, doch haben ukrainische Unterhändler:innen von dessen Inhalt berichtet. Siehe: https://www.bbc.com/ukrainian/news-60908356; https://www.eurointegration.com.ua/eng/articles/2022/03/30/7136915/.
[2] https://www.foreignaffairs.com/ukraine/talks-could-have-ended-war-ukraine
[3] https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/07/22/7359647/
[4] https://www.youtube.com/watch?v=xMkPNU4W53c
[5] https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1421&page=3
[6] https://www.president.gov.ua/storage/j-files-storage/01/19/45/a0284f6fdc92f8e4bd595d4026734bba_1691475944.pdf
[7] https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1421&page=3
[8] https://www.bbc.com/russian/articles/c9rre20dw7lo