Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs prägte die deutsche und europäische Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in fundamentaler Weise. Diese Erfahrung und das zunehmende Wissen über die Massenverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands, insbesondere über den Holocaust, bildeten in den Nachkriegsjahrzehnten zentrale Bezugspunkte für die Stärkung der Menschenrechte, für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Achtung des Völkerrechts und für die europäische Einigung. »Nie wieder Krieg« schien bis in die jüngste Gegenwart die allgemein geteilte Schlussfolgerung aus den Erfahrungen der Weltkriege zu sein. Trotz des Kalten Kriegs gab es die Überzeugung, dass dies letztlich auch für die Sowjetunion galt. Sie bildete im Westen eine der Grundlagen der Entspannungspolitik. Schließlich schien sie durch den Wandel in der Sowjetunion unter dem Generalsekretär Michail Gorbatschow und der Anerkennung entsprechender Normen, formal 1990 in der »Charta von Paris« vollzogen, bestätigt worden zu sein.
Russland hat nun allerdings, auf die sowjetische Erzählung aufbauend, die Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg« von 1941 bis 1945 schon seit Beginn von Putins Regierungszeit dafür genutzt, um russische imperiale Ziele gegenüber den früheren Sowjetrepubliken durchzusetzen. Dies betraf bereits lange vor dem Februar 2022 auch die Ukraine. Schon 2014 und 2015 benutzte Russland Elemente der Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg«, um die Annexion der Krym zu legitimieren und für den Krieg im Donbas gegen das »faschistische Regime« in der Ukraine zu mobilisieren. Seit Februar 2022 nutzt Russland die Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg« nun im umfassenden Krieg gegen die Ukraine.
Die russische Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 traf die deutsche Politik und Öffentlichkeit vielleicht noch unerwarteter als diejenige in vielen anderen europäischen Ländern. Bereits aus der russischen Besetzung der Krym und dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 waren nur sehr zögerlich Konsequenzen gezogen und der zunehmend aggressive Charakter der russischen Politik und die Vorbereitung eines großes Kriegs nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden. Die These, die ich im Folgenden ausführen möchte, besteht darin, dass dafür die Geschichte der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und Deutungen des Kriegsendes von hoher Bedeutung waren.
Der 8./9. Mai 1945 als Befreiung
In der Bundesrepublik Deutschland hat es mehrere Jahrzehnte gedauert, bis der 8. Mai 1945 nicht vorwiegend als Niederlage und nationale Katastrophe, sondern auch als Befreiung von einem zutiefst verbrecherischen Regime gesehen wurde. Eine Zäsur war hier die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Diese Rede war damals die Schlussfolgerung aus einer langen Auseinandersetzung um die Bedeutung des NS-Regimes und seiner Verbrechen für die deutsche Geschichte seit der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Mitte der 1980er Jahre eine besondere Intensität erreichte und schließlich in den »Historikerstreit«[1] der Jahre 1986–87 mündete. Im Zentrum der Debatte stand die Frage danach, welche Bedeutung dem Holocaust für die deutsche Geschichte und Identität zukam bzw. zukommen sollte. Der Historiker Ernst Nolte argumentierte hier, gestützt auf sehr problematische Belege, dass sowjetische Massenverbrechen dem NS-Regime vorausgegangen und damit auch zu den Ursachen des Holocaust zu zählen seien. Diese These, die zumindest »mildernde Umstände« für die deutschen Verbrechen in Anspruch nahm, löste in den links-liberalen Teilen der deutschen Öffentlichkeit heftigen Widerspruch aus. Am einflussreichsten war hier Jürgen Habermas, der die Erinnerung an den Holocaust als zentralen Bezugspunkt einer »posttraditionalen [nationalen] Identität« sah und sich dagegen verwehrte, den Holocaust, den er als die negative »Signatur des Zeitalters« beschrieb, mit Hilfe einer historisierenden Einordnung aus der Gegenwart zu »entsorgen«.
Die Auffassung, dass der 8. Mai 1945 auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung und dass der Holocaust das zentrale Element des deutschen Geschichtsbewusstseins sein sollte, wie sie Habermas vertreten hatte, wurde schließlich in den 1990er Jahren zur vorherrschenden Sichtweise. Den stärksten symbolischen Ausdruck fand dies in der Entscheidung für die Schaffung des großen »Denkmals für die ermordeten Juden Europas« im Zentrum Berlins, der neuen Hauptstadt des vereinigten Deutschlands, das schließlich im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag des Kriegsendes am 10. Mai 2005 eröffnet wurde.
Dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen war, entsprach der Sichtweise des Kriegsendes in den von Deutschland besetzten Ländern Westeuropas, aber auch in Nordamerika und der weiteren internationalen Öffentlichkeit. Gleichzeitig stimmte eine solche Deutung in beträchtlichem Maße damit überein, wie in der Sowjetunion an diesen Tag – hier galt der 9. Mai 1945 als offizielles Kriegsende – erinnert wurde. Das Motiv der Befreiung vom Faschismus fiel hier allerdings mit einer Darstellung des Kriegsendes als eines triumphalen, heroischen sowjetischen Siegs zusammen. In der DDR war das Kriegsende bereits in den vorhergehenden Jahrzehnten unter sowjetischem Einfluss in öffentlichen Darstellungen als Befreiung gedeutet worden. Hier und in anderen Ländern im östlichen Europa ging damit, wie weiter unten noch ausgeführt wird, aber auch eine neue Unfreiheit unter sowjetischer Herrschaft einher.
Putins Russland knüpfte an die sowjetische Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg« und den 9. Mai 1945 als »Tag des Siegs« an. Die Bedeutung dieser Erinnerung als dem zentralen staatlichen identitätsstiftendem historischen Ereignis nahm in Putins Russland gegenüber seiner Bedeutung in der Sowjetunion noch einmal zu. Putins Russland beanspruchte den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg für Russland und deutete den Sieg von 1945 wiederum als Grundlage für ein Anrecht Russlands auf eine ähnlich herausgehobene Stellung in den internationalen Beziehungen, wie die Sowjetunion sie gehabt hatte, und auf die Vorherrschaft über die früheren sowjetischen Territorien ein. Russland kann nur auf diese Weise an die Sowjetunion anknüpfen, da eine wirklich tiefgreifende Auseinandersetzung mit den sowjetischen Massenverbrechen in der Zeit Stalins und der sowjetischen Geschichte insgesamt in Russland nicht stattgefunden hat.
Die partielle Übereinstimmung zwischen der russischen Sicht des 9. Mai und der deutschen und westlichen Sicht auf das Kriegsende als Befreiung hat offensichtlich dazu beigetragen, dass in Deutschland und auch in anderen westlichen Ländern eine solche kritische Auseinandersetzung von Russland nicht wirklich eingefordert worden ist. Die Sowjetunion stand 1945 gewissermaßen auf der richtigen Seite der Geschichte, und damit rückte die Tatsache in den Hintergrund, dass es sich bei der Sowjetunion unter Stalin um das zweite große verbrecherische Regime in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts handelte.
Dies hat offensichtlich auch dazu beigetragen, dass übersehen wurde, dass die Art und Weise, wie in Russland an den 9. Mai 1945 als »Tag des Siegs« und an den »Großen Vaterländischen Krieg« erinnert wurde, den neuen Krieg ideologisch vorbereitete. Es herrschte die Überzeugung, dass die Erinnerung an die großen Opfer und Leiden des Kriegs Deutschland und Russland verbände und dass auch Russland die Ansicht teilte, dass es deshalb nie wieder einen Krieg geben dürfe.
Entspannungspolitik und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
Zu den Gründen, warum die aggressive Instrumentalisierung der Kriegserinnerung durch Russland in Deutschland lange Zeit übersehen wurde, gehört aber auch die enge Verflechtung der Entspannungspolitik während des Kalten Kriegs mit der kritischen Auseinandersetzung mit den deutschen Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Die »erfolgreiche«, kritische Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen und die Versöhnung mit den Opfern ist in diesem Prozess mittlerweile zu einem zentralen Element des deutschen Selbstverständnisses geworden. Der nach 2022 erfolgte Bruch im Verhältnis zu Russland, das oft mit der Sowjetunion gleichgesetzt wird, bedeutete damit in gewisser Weise ein Scheitern dieser Politik. Gerade für Angehörige einer Generation von Akteuren in Politik und Öffentlichkeit, zu deren prägenden, generationellen Erfahrungen die deutschen erinnerungsgeschichtlichen Auseinandersetzungen der 1970er und 1980er Jahre gehören, ist das oft nur schwer zu akzeptieren.
In der Nachkriegszeit, vor allem von den 1960er bis in die 1980er Jahre, waren die Konflikte um die Entspannungspolitik in der westdeutschen Gesellschaft in hohem Maße mit der Auseinandersetzung mit deutschen Verbrechen gegenüber den osteuropäischen Staaten und Nationen verbunden. Der wohl stärkste politische Konflikt betraf hier die Anerkennung der Grenze zu Polen an Oder und Neiße und den Verzicht auf die früheren deutschen Gebiete, die das Potsdamer Abkommen Polen zugesprochen hatte. Der Verlust der Ostgebiete und die Vertreibung der Deutschen war der wichtigste Grund, warum sich die Deutschen in der Nachkriegszeit in hohem Maße als Opfer des Kriegs und nicht als Täter wahrnahmen. Ein zentrales Motiv der neuen »Ostpolitik«, die der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt 1969 einleitete, war die Versöhnung mit den osteuropäischen Nachbarn nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies setzte im Verhältnis zu Polen nicht nur den faktischen Verzicht auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße voraus, sondern auch die Auseinandersetzung und Anerkennung der deutschen Massenverbrechen des Zweiten Weltkriegs.
Gleichzeitig betraf die »Ostpolitik« die Beziehungen zur Sowjetunion. In der westdeutschen Öffentlichkeit trat die Frage von deutschen Verbrechen während des deutsch-sowjetischen Kriegs von 1941 bis 1945 allerdings erst seit Ende der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren stärker in den Vordergrund, als die Konflikte um die Anerkennung der neuen polnischen Westgrenze nach der Ratifizierung des Warschauer Vertrags 1972 an Bedeutung verloren hatten. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion stand in einem engen Verhältnis zur damaligen Friedensbewegung, die in der Bundesrepublik Deutschland in der ersten Hälfte der 1980er Jahre vor dem Hintergrund eines neuen Rüstungswettlaufs große Stärke gewann. Ein zentrales Motiv war hier, dass die Erinnerung an die Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs dazu verpflichtete, für die Fortsetzung der Entspannungspolitik und gegen weitere Rüstung einzutreten.
Für die deutsche Gesellschaft waren Verbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion auch deshalb ein besonders schwieriges Thema, da damit die Rolle der Wehrmacht ins Zentrum rückte. In fast allen Familien gab es ehemalige Wehrmachtssoldaten. Nicht wenige hatten auch Angehörige im Krieg gegen die Sowjetunion verloren. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren die Verbrechen vor allem der NS-Führung und der SS zugeschrieben worden, während die vorherrschende Sicht war, dass die Wehrmacht zwar einen Krieg für das falsche Regime, aber grundsätzlich einen »anständigen« Krieg geführt und nicht in größerem Maße für Verbrechen verantwortlich gewesen war.
Es dauerte bis Mitte der 1990er Jahre, bevor daraus die wohl größte öffentliche Kontroverse über deutsche Verbrechen im Zweiten Weltkrieg entstand. Den Anlass dafür bot eine zuerst in Hamburg und dann an vielen anderen Orten gezeigte Ausstellung unter dem Titel »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht«.[2] Obwohl die Ausstellung teilweise sehr polemisch argumentierte und viel Widerspruch erzeugte, etablierte sie in der Öffentlichkeit doch sehr klar eine Vorstellung des Kriegs gegen die Sowjetunion als eines verbrecherischen »Vernichtungskriegs«.
Verweise auf den verbrecherischen Charakter des sowjetischen Regimes und auf sowjetische Massenverbrechen dienten in diesen Diskussionen nicht selten dazu, wie oben bereits am Beispiel der Kontroversen über den Holocaust gezeigt, einer Auseinandersetzung mit deutschen Verbrechen auszuweichen. Allerdings erregten sie auch dort, wo die Thematisierung sowjetischer Massenverbrechen nicht von deutschen Verbrechen ablenkten sollte, oft einen solchen Verdacht. Da die Erinnerung und Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen während des Kriegs und der Okkupation eng mit den Konflikten um das Verhältnis zur Sowjetunion verbunden war, entstand hier eine Erinnerungskonkurrenz zwischen den sowjetischen Massenverbrechen und denjenigen des nationalsozialistischen Deutschland, die auch nach der Auflösung der Sowjetunion noch fortwirkte.
Der 8./9. Mai 1945 als Befreiung und Beginn einer neuen Unfreiheit
Für die baltischen Staaten, die Ukraine, Polen und andere ehemals zur Sowjetunion oder zum Ostblock gehörenden Staaten bedeutete der 8./9. Mai 1945 zwar das Ende des Kriegs und symbolisierte die Befreiung von der deutschen Gewaltherrschaft. Gleichzeitig stand dieses Datum aber auch für den Wechsel von der deutschen zur sowjetischen Besetzung, auch wenn er tatsächlich schon in den Monaten vor dem Mai 1945 stattgefunden hatte, und damit für eine neue Unfreiheit, die zumindest in der Westukraine und den baltischen Ländern auch eine neue Phase der Massengewalt einleitete. Die sowjetischen Sicherheitsorgane unterdrückten den bewaffneten Widerstand – in der Ukraine kämpften die Angehörigen der »Ukrainischen Aufstandsarmee«, der UPA, bis Anfang der 1950er Jahre gegen die Erneuerung der sowjetischen Besatzung – mit großer Gewalt, nicht zuletzt durch Massendeportationen von Teilen der Zivilbevölkerung ins Innere der Sowjetunion.
Schon seit Anfang der 2000er Jahre, nachdem Putin in Russland an die Macht gekommen war, wurde die Erinnerung an den Sieg von 1945 und den »Großen Vaterländischen Krieg« zunehmend nicht nur wie oben beschrieben zu einem innenpolitischen, sondern auch zu einem außenpolitischen Instrument der russischen Politik, um den Einfluss Russlands in den früheren Sowjetrepubliken zu stärken. Dazu gehörte, dass in Anknüpfung an die sowjetische Propaganda die positive Würdigung der UPA und des antisowjetischen Widerstands in den baltischen Ländern , die hier seit den 1990er Jahren stattfand, als Ehrung von »Faschisten« angegriffen wurde. Tatsächlich gab es unter den Angehörigen der UPA und der Widerstandsgruppen in den baltischen Ländern Personen und Organisationen, die für Verbrechen in der Zeit der deutschen Okkupation verantwortlich gewesen waren. Offensichtlich ging es Russland bei diesen Vorwürfen aber nicht darum, zur Aufklärung über die komplexe Geschichte des antisowjetischen Widerstands in diesen Regionen beizutragen, sondern darum, die eigenen imperialen Ziele durchzusetzen.
In der Ukraine bestand der zentrale geschichtspolitische Konflikt seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 darin, wie der Kampf der sowjetischen Armee und damit eine sowjetisch geprägte Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg« im Verhältnis zum antisowjetischen Widerstandskampf der der UPA zu bewerten sei. Der sowjetische Mythos des »Großen Vaterländischen Kriegs« hatte auch in der Ukraine beträchtlichen Einfluss, und auch hier wurden Vorwürfe, dass die UPA »faschistisch« gewesen und aus Kollaborateuren der Deutschen bestanden habe, von Russland und prorussischen Kräften in der Ukraine genutzt, um den eigenen Einfluss zu stärken (ausführlicher dazu Ukraine-Analysen 270[3]). Dieser Konflikt endete allerdings bereits 2014 weitgehend. Die Tatsache, dass Russland in diesem Jahr den Euromaidan in Anknüpfung an Motive aus dem Kontext des »Großen Vaterländischen Kriegs« als »faschistischen Putsch« darstellte und dies zur Rechtfertigung der Besetzung der Krym und zur Auslösung des Kriegs im Donbas benutzte, führte in der Ukraine dazu, dass der sowjetische Mythos des Siegs am 9. Mai 1945 und des »Großen Vaterländischen Kriegs« als Instrument der russischen imperialen Bestrebungen noch klarer als zuvor erkennbar wurde. Der bis dahin auch in der Ukraine bestehende »Gedenktag für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg« am 9. Mai wurde umbenannt und durch einen Gedenktag am 8. Mai erweitert. Damit trat nun auch der Zweite Weltkrieg von 1939 bis 1945 – einschließlich der Jahre des Hitler-Stalin-Pakts in den Jahren 1939 bis 1941 – in den Vordergrund.
Fazit
Die deutsche und westliche Sicht des 8. Mai 1945 als Befreiung wies beträchtliche Kongruenzen mit der sowjetischen und später russischen Sicht des Kriegsendes auf. Dazu gehörte vor allem, dass beide Sichtweisen implizierten, dass es in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ein großes verbrecherisches Regime, das nationalsozialistische Deutschland, gegeben hatte. Die historische Erfahrung vor allem der Ukraine, aber auch der baltischen Staaten, Polens und der anderen osteuropäischen Staaten bestand hingegen darin, dass es mit der Sowjetunion unter Stalin ein zweites großes verbrecherisches Regime gegeben hatte. In diesen Ländern war zudem schon lange vor Russlands aggressiver Instrumentalisierung der Weltkriegserinnerung gewarnt und von Russland eine kritische Auseinandersetzung mit den sowjetischen Massenverbrechen gefordert worden. Dies wurde allerdings in der westlichen Politik und Öffentlichkeit weitgehend ignoriert.
Putins Ziel ist offensichtlich die Wiederherstellung der Vorherrschaft über das ehemals sowjetische Imperium und eine Stellung für Russland in den internationalen Beziehungen, die an der Stellung der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientiert ist. Damit gehört zu den Voraussetzungen des neuen großen Kriegs in Europa auch, dass in Russland eine wirklich tiefgreifende, kritische Auseinandersetzung mit den sowjetischen Massenverbrechen in der Zeit Stalins und mit der sowjetischen Geschichte insgesamt nicht stattgefunden hat. Tatsächlich hat in Russland bereits vor 2022 wieder eine positivere Bewertung Stalins Einzug gehalten, die sich nach dem Beginn des umfassenden Kriegs gegen die Ukraine noch einmal verstärkt hat. Dazu, dass in Russland eine tiefgreifende, kritische Auseinandersetzung mit den sowjetischen Massenverbrechen ausgeblieben ist, hat auch beigetragen, dass solch eine kritische Auseinandersetzung in der internationalen Öffentlichkeit nicht nachdrücklich eingefordert worden ist.
Russlands Krieg gegen die Ukraine stellt damit auch Fragen an das in Deutschland vorherrschende Bild der Geschichte des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt daran, welche Bedeutung wir dem 8. Mai 1945 zuschreiben. Die Erfahrung der Ukraine und der anderen ostmitteleuropäischen Staaten, dass dieses Datum nicht nur Befreiung war und dass es in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts neben dem nationalsozialistischen Deutschland mit der Sowjetunion unter Stalin ein zweites großes verbrecherisches Regime gab, sollte darin in Zukunft berücksichtigt werden.
Verweise
[1] https://docupedia.de/zg/Historikerstreit
[2] https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/244026/vor-20-jahren-eine-ausstellung-ueber-verbrechen-der-wehrmacht-polarisiert-deutschland/
[3] https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/270/stepan-bandera-geschichte-erinnerung-und-propaganda/