Einleitung
Die jüngere Geschichte der Ukraine ist stark geprägt von politischem Terror einerseits und von Kämpfen um Souveränität und Unabhängigkeit andererseits. Besonders im vorangegangenen 20. sowie in diesem Jahrhundert finden sich viele damit verbundene historische Marker: 1918, 1932/33, 1937, 1939, 1941, 1944/45, 1991, 2004, 2014, 2022, 2024. Die kollektiven Erfahrungen, die damit einhergehen, prägen die ukrainische Gesellschaft bis heute. Sie zu veranschaulichen, ohne die Unterschiede verschiedener historischer Situationen außer Acht zu lassen, kann zum besseren Verständnis für die Ukraine und damit auch der deutsch-ukrainischen Beziehungen beitragen.
Was als »Geschichte der Ukraine« verstanden wird, ist seit jeher uneinheitlich. Ein Spannungsfeld besteht hierbei zwischen dem Bezug auf eine hybride, diverse, multiethnische und multilinguale Vergangenheit und der Phantasievorstellung ethnischer Homogenität. Problematisch erscheint vor diesem Hintergrund sowohl eine Geschichtsschreibung der Ukraine, die suggeriert, einzig das »ukrainische Volk« bevölkere die Ukraine, als auch der Mythos einer ungebrochenen tausendjährigen staatlichen Tradition. Der Historiker Serhii Plokhy betont vor allem die kulturelle Hybridität der Ukraine und versteht die moderne multiethnische und multilinguale ukrainische Nation als einen nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess.
Zwischen Brotfrieden, Besatzung und Nationalstaatlichkeit: die Ukraine und der Erste Weltkrieg
Eine ukrainische Nationalbewegung mit stark kultureller Prägung etablierte sich besonders im 19. Jahrhundert. Sie war im Russischen Zarenreich im Zuge der »Russifizierung«, mit deutlichen Abstrichen auch im Habsburgerreich, Unterdrückungen ausgesetzt. Die Politik des Russischen Imperiums basierte auf der Idee des »dreieinigen« gesamtrussischen Volkes, das aus »Großrussen« (Russland), »Kleinrussen« (Ukraine) und »Belarussen« (Weißrussland, heute Belarus) bestehe. Dieser im Stalinismus in Teilen wieder aufgenommene Gedanke wird auch heute noch angebracht, um den imperialen Anspruch Moskaus zu begründen.
Die Idee ukrainischer Staatlichkeit erlebte zum Ende des Ersten Weltkrieges einen Aufschwung. Den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen im Russischen Kaiserreich, die 1917 in der Oktoberrevolution kulminierten, folgte der Russische Bürgerkrieg, der auch in der Ukraine erbittert zwischen diversen Parteien wie der zaristischen Weißen Armee und den Bolschewiki, ab 1918 der Roten Armee, geführt wurde. In diesem Zusammenhang entstand 1917 ein erster ukrainischer Nationalstaat: die sozialrevolutionäre und marxistisch geprägte Ukrainische Volksrepublik (Ukrajinska Narodna Respublika, UNR). Ihr politisches Entscheidungsorgan wurde die Zentralversammlung (Zentralna Rada).
Nachdem sie Anfang 1918 von den Bolschewiki aus Kyjiw vertrieben worden war, rief die UNR die Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich) um Hilfe an. Deutsche und österreichische Truppen marschierten daraufhin in Kyjiw sowie der gesamten Ukraine ein. Als Gegenleistung erwarteten Berlin und Wien Lebensmittellieferungen. Dies wurde am 9. Februar 1918 in einem Vertrag zwischen den Mittelmächten und der Ukrainischen Volksrepublik in Brest-Litowsk festgehalten. Das deutsche Interesse lag hierbei vor allem in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Ukraine, der »Kornkammer Europas«. Dieser Separatfrieden wird auch »Brotfrieden« genannt. Der Historiker Ruslan Pyrih spricht aufgrund dieser zwischenstaatlichen Abkommen von einer »atypischen Okkupation«. Mit dem Umfang der Lebensmittellieferungen zeigten sich Deutschland und Österreich-Ungarn bald unzufrieden.
Am 29. April 1918 setzte die deutsche Besatzungsmacht in Kyjiw den früheren zaristischen General Pawlo Skoropadskyj (Hetman) an die Spitze einer Marionettenregierung. Dieser konnte so den ersten ukrainischen Staat von Don bis Bug begründen, ein sogenanntes Hetmanat, das bald im Konflikt mit der von Zwangsabgaben aufgebrachten überwiegend bäuerlichen Bevölkerung stand. Als die Heere der Mittelmächte schließlich aufgrund ihrer allgemeinen Schwächung zwischen Oktober 1918 und Januar 1919 aus der Ukraine abzogen, schaffte es die durch innere Widersprüche gekennzeichnete UNR nicht, sich eigenständig gegen die Bolschewiki sowie andere rivalisierende Kräfte durchzusetzen.
Seitdem die Ukraine infolge von Brotfrieden und Besatzung stärker in der deutschen Debatte wahrgenommen wurde, bestand ein fortwährendes Kontinuum an Eroberungsgelüsten. Diese verquickten sich immer wieder mit antislawischen Ressentiments. Auch der koloniale Diskurs bezog sich in Anknüpfung an die überseeischen Kolonien, bei denen man zu kurz gekommen sei, immer wieder auf das das östliche Europa – als vermeintlich unzivilisierter und kulturell unterentwickelter Raum, der an erzwungener »deutscher Ordnung« gesunden könne.
Innerhalb der ukrainisch-nationalistischen Elite gab es Hoffnungen auf eine Unterstützung der eigenen unabhängigen Staatlichkeit, aber auch auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Dies ist auch auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen die Anhänger:innen ukrainischer Staatlichkeit bei der Suche nach ernsthaften Bündnispartner:innen in Europa stießen. Die positive Rezeption Deutschlands, seiner Entscheidungsträger und Soldaten sollte jedenfalls bis in den Zweiten Weltkrieg hinein wirkmächtig bleiben. Dabei hatten auch die politischen Entscheidungsträger und militärischen Führer im Ersten Weltkrieg – bei allen eklatanten Unterschieden zur Wehrmacht und ihrer Führung – bereits 1918 weit über die Ukraine hinaus auf die nordkaukasischen Erdölgebiete geschielt.
Der Erste Weltkrieg endete für die Ukraine also zeitweilig mit einer Besatzung, die ein Teil der ukrainischen Eliten begrüßte. Die Mittelmächte waren in dieser Zeit die einzigen bedeutenden Akteure, die die Idee einer ukrainischen Nation unterstützen. Ihr vorrangiges Interesse galt allerdings nicht per se der Unabhängigkeit der Ukraine, sondern seiner Ausbeutung sowie der Schwächung Russlands.
Besatzung und Massengewalt im Zweiten Weltkrieg
Deutsche und ihre Verbündeten hinterließen während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Teilen der UdSSR und in Polen besonders tiefe Spuren, verursacht durch eine Vielzahl von Formen grausamer Massengewalt.
Der Weg zum deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde kurz zuvor durch den Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt (Molotow-Ribbentrop-Pakt, auch »Hitler-Stalin-Pakt« genannt) geebnet, dessen geheimes Zusatzprotokoll unter anderem die Aufteilung Polens vorsah. In der heutigen Westukraine wurde bereits ab dem Überfall auf Polen im September 1939 das erprobt, was sich mit dem »Unternehmen Barbarossa« ab Juni 1941 weiter manifestierte: eine Kriegs- und Besatzungspraxis mit drastischen Konsequenzen, besonders für die Zivilbevölkerung. Auf die Anforderungen und Rahmenbedingungen der deutschen Machthaber reagierten die Menschen in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) lokal sehr unterschiedlich.
Besatzung bedeutete, dass der neue Lebensalltag sich für viele an neuen (und längst nicht immer so klaren) Gegensätzen ausrichtete: Anpassung und Widerstand, Macht und Ohnmacht, Aktivität und Passivität. So schlossen sich Ukrainer:innen sowohl den durch die Deutschen gestatteten und in deren Sinne tätigen bewaffneten Formationen an und beteiligten sich so auch an der Besatzungsgewalt. So waren etwa die »Schutzmannschaften«, Formationen der ukrainischen Hilfspolizei, sowohl am Holocaust (beispielhaft sei das Massaker von Babyn Jar am 29. und 30. September 1941 genannt) als auch an Verschleppungsaktionen zur Zwangsarbeit im »Deutschen Reich« und am mörderischen »Bandenkampf« (der deutsche Begriff für den Kampf gegen Partisan:innen, gleichzeitig ein Synonym für den Terror gegen Zivilist:innen) der deutschen Truppen beteiligt.
Gleichzeitig organisierten sich mit zunehmendem Kriegsverlauf , und vor allem mit der massiven Zunahme von Verschleppungsaktionen nach Deutschland, immer mehr von ihnen in – vornehmlich sowjetischen – Partisanenverbänden, bekämpften die Besatzer oder unterstützten dies. Viele richteten ihr Verhalten schließlich vor allem danach aus, die Chancen auf ihr eigenes Überleben zu erhöhen. Sie handelten teils in Doppelrollen, etwa als Anhänger der Schutzmannschaften, die ihren Dienst taten und gleichzeitig als Unterstützer der Partisan:innen, beispielsweise indem sie ihnen wichtige Informationen weiterleiteten.
Die Imagination des Kriegsendes war schon lange vor dem Eintreffen der Roten Armee für viele Akteur:innen, die sich in der noch besetzten Ukraine befanden, bedeutend für ihr Handeln.
Das Staatsgebiet der heutigen Ukraine wurde bis Oktober 1944 durch die Rote Armee von der deutschen Wehrmacht befreit. Dabei ist »Befreiung« als relationaler Begriff zu verstehen: Dass die Ukrainische SSR von der NS-Herrschaft befreit wurde, bedeutet nicht, dass eine universelle und absolute Befreiung oder gar »Freiheit« entstand. Auf die Befreiung von den Nazis folgte die erneute Kontrolle durch Moskau und das totalitäre Regime Stalins.
Dennoch ließ das Ende der deutschen Besatzungsherrschaft die Menschen in der Ukraine aufatmen, schließlich hatten Krieg und Besatzung zivile Opfer im Millionenbereich gekostet, darunter ca. 1.5 Millionen Jüdinnen und Juden. Hinzu kamen über 2 Millionen nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter:innen.
Das von den NS-Besatzern verübte Leid und auch das Sterben endete allerdings nicht abrupt, und auch die materiellen Folgen wirkten noch Jahrzehnte lang nach. Auch ging für die in die Rote Armee mobilisierten Ukrainer:innen der Kampf noch ein halbes Jahr lang bis zum 8./9. Mai 1945 weiter. Es wird geschätzt, dass sechs bis sieben Millionen Menschen aus der Ukraine in den Reihen der Roten Armee kämpften. Sie waren Teil eines siegreichen Triumphes unter enorm hohen Verlusten, sowie einer Kriegsführung, in der einzelne Menschenleben wenig zählten.
Auch Leid und Bangen der ins Deutsche Reich verschleppten Zwangsarbeiter:innen endeten nicht 1944. Bedeutete das Kriegsende auch für Sie schließlich eine Zäsur, so waren sie bei ihrer »Repatriierung« in die UdSSR dem Generalverdacht des Verrats ausgesetzt und mussten sich teilweise vor Gerichten der Kollaboration bezichtigen lassen.
Die bereits seit 1943 langsam einsetzende Re-Sowjetisierung brachte bei vielen Menschen in der Ukraine die durch die deutsche Besatzung überdeckte Erinnerung mit voriger Gewalt wieder in den Vordergrund: Bürgerkrieg, Zwangskollektivierungen, die menschengemachte desaströse Hungersnot 1932/33, die Stalinistische Repression und Verfolgung um 1937. Diese für viele einschneidenden Erfahrungen waren allerdings während der nationalsozialistischen Herrschaft nicht nur überdeckt, sondern konnten teils Ressourcen freisetzen, die dabei halfen, zu überleben: das Wissen darüber, wie Lebensmittel vor Requirierungen versteckt werden konnten, womit man überleben konnte oder wie Widerstand in den Städten oder auf dem Land organisiert werden konnte. Für manche Bewohner:innen der Städte waren der Hunger unter Besatzung das einschneidendste Erlebnis dieser Zeit, während Menschen in ruralen Gebieten sie vielleicht relativ ruhig verbracht hatten und die Brutalität nie so sehr selbst verspürt haben, wie vor und während des deutschen Rückzugs.
Überleben in der (Nach-)Kriegszeit – damals und heute
Infolge der massiven Zerstörungen der Deutschen während ihres Rückzuges aus der Sowjetunion – jüngste Schätzungen gehen von etwa 600 zerstörten Ortschaften aus – hatten viele Menschen mit existenziellen Problemen zu kämpfen. Diejenigen, die zu den 40 Prozent der obdachlos gewordenen Personen zählten, kamen zunächst häufig bei Verwandten und Bekannten in nahegelegenen Dörfern oder Städten unter oder waren gezwungen, sich zum Überleben und zum Schutz vor der Witterung Erdhöhlen in den Wäldern zu graben. Es mangelte zudem an Vieh, Kleidung, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung.
Der Wiederaufbau der Städte, der Wirtschaft und der landwirtschaftlichen Produktion in der USSR war auch in den 1950er Jahren nicht abgeschlossen, er ist jedoch im Laufe der Jahrzehnte geglückt. Zum Repertoire der Erfahrungen gehört auch die Improvisation in Extremsituationen.
In der heutigen Ukraine werden durch Geschosse, Raketen und Drohnen beschädigte Gebäude in vielen Fällen erstaunlich schnell repariert sowie das öffentliche Leben nach Möglichkeit aufrechterhalten. Dies bedeutet das Bewahren von Würde. Zudem hat sich eine Trauerkultur mit verschiedenen Ritualen etabliert, die der Entmenschlichung im Krieg entgegenwirken kann.
Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wird in Deutschland oft vor allem als Kampf »an der Front« erinnert. Auch die deutschsprachige Forschung blickte lange vor allem auf »den Krieg« und damit auf das, was sie vorrangig als »eigene« Geschichte empfand. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass die Besatzungserfahrung für viele Menschen in Europa – darunter auch in der Ukraine, die zeitweilig zu 100 Prozent besetzt war – zur zentralen, wesentlich länger andauernden Erfahrung geworden und meist auch an entsprechende Opferzahlen und Verluste gekoppelt ist.
Heute führt die Ukraine einen Abwehrkampf auch deshalb, weil eine (weitere) Besatzung droht. Aktuell besetzt Russland 18,6 Prozent des ukrainischen Territoriums. Zu Beginn der russischen Vollinvasion wurde vielerorts auf grausame Weise – in Orten wie Isjum, Butscha, Irpin aber auch etwa Mariupol – deutlich, was russische Besatzung bedeutet. In Cherson, Melitopol wie vielen kleineren Orten leisteten Einwohner:innen zunächst Widerstand gegen die russländische Besatzung und wurden schließlich davon befreit. Die Krim ist bereits seit 2014 besetzt und es ist schwierig, verlässliche Informationen über die Situation vor Ort zu erhalten – die Menschenrechtslage, vor allem für die Bevölkerungsgruppe der Krimtataren, gilt jedoch als prekär. Ähnlich verhält es sich mit der Situation in den ebenfalls seit 2014 besetzten Gebieten der Regionen Luhansk und Donezk.
Dass einige aktuell diskutierte Varianten eines »Friedens« in der Ukraine für viele Menschen nicht einfach das Ende von Leid, sondern eine grausame Form der Besatzung bedeutete, wird in den Debatten hierzulande häufig vernachlässigt. Auch die ukrainische Juristin, Menschenrechtlerin und Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk warnte kürzlich: Besetzung sei nur eine andere Form von Krieg.