Das Minsk-Abkommen von 2015 – zehn Lehren für 2025

Von Johannes Regenbrecht

Zusammenfassung
Putin setzt nicht auf Verhandlungen, sondern auf Ausweitung des Krieges. »Minsk« hat gezeigt: Selbst für Verhandlungen bleiben Waffengewalt und militärischer Druck für Russland unverzichtbar, um Vorteile an der diplomatischen Front zu erpressen. Einer Waffenruhe vor Verhandlungen würde Putin nur dann zustimmen, wenn Russland militärisch nichts mehr zu gewinnen hätte. Angesichts der schwankenden, tendenziell pro-russischen Haltung Washingtons tun die europäischen Verbündeten der Ukraine gut daran, Kyjiw weiter zu unterstützen, gleichzeitig weiter – vor allem auch gegenüber Trump – auf Waffenstillstand und Verhandlungen zu drängen.

Warum gewinnt »Minsk« gerade jetzt wieder an Bedeutung?

Das unter Ägide von Deutschland und Frankreich zwischen Russland und der Ukraine ausgehandelte Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015, genauer gesagt das »Maßnahmenpaket für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen« oder kurz »Minsk II«, hat bekanntlich keinen guten Ruf. Seit Beginn des brutalen Großangriffs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022, der die Minsker Vereinbarungen mit einem Schlag vollends hinfällig machte, sind die kritischen Stimmen noch lauter geworden. Der Waffenstillstand habe sich als äußerst fragil erwiesen, eine nachhaltige Regelung zur Wiederherstellung der Souveränität und territorialen Integrität habe gefehlt, die Minsker Vereinbarungen seien gar ein Ausdruck »von Völkerrechtsnihilismus und Aggressionsverschleierung« (von Essen/Umland, 282). Die Interessen der Ukraine habe man »de facto aus den Minsker Verhandlungen ausgeblendet«, weswegen die ukrainische Bevölkerung das Abkommen als aufgezwungen empfunden habe (Kyselova/Potomkina).

Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, Minsk II sei nichts mehr als ein abschreckendes Negativbeispiel für aktuelle Bemühungen um Waffenstillstand (a. a. O.), liefe einer angemessenen Bewertung zuwider. Auf den Punkt bringt es Merkels früherer außen- und sicherheitspolitischer Berater Christoph Heusgen, der Minsk II für genauso gut oder schlecht hält wie das Budapester Memorandum von 1994 oder die Charta der Vereinten Nationen: »Alle drei hat Putin in die Tonne getreten, aber deswegen sind sie nicht schlecht. Putin ist schlecht, weil er sich nicht an internationales Recht hält.« (Interview mit ntv am 8.2.2024.)

Mit dem heutigen Blick auf

  • den drohenden Zerfall des transatlantischen Westens und das neue Engagement der europäischen Verbündeten der Ukraine,
  • die Nichtbeteiligung der Ukraine an den bisherigen US-russischen Gesprächen im Zeitraum Februar bis Mitte Mai d. J.,
  • die Aufforderung zur vollständigen Kapitulation der Ukraine in Form eines »Memorandums«, das Russland der ukrainischen Delegation am 2. Juni in Istanbul präsentierte,
  • und die Weigerung Putins, seinen Angriffskrieg durch eine bedingungslose dreißigtägige Waffenruhe zu unterbrechen, wie von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und der Ukraine gefordert,

eröffnet die Rückschau auf »Minsk« wichtige Einsichten.

Damals hatte Putin durch perfides Hinauszögern des Waffenstillstands nicht nur weitere Geländegewinne erzielt, sondern die militärische Lage als politisches Druckmittel in den Verhandlungen genutzt. Hätten Deutschland und Frankreich andererseits nicht das Normandie-Format durchgesetzt, in dem Kyjiw und Moskau (ohne die »Separatisten«) gleichberechtigt am Tisch saßen, wäre damals ein »Deal« über den Kopf der Ukraine hinweg geschlossen worden. Minsk ist außerdem ein Lehrstück dafür, dass ohne massive Druckmittel und Bereitschaft, diese auch einzusetzen, der Angriffskrieg Putins nicht zu stoppen ist.

Ein Rückblick auf Schwächen, aber auch Stärken des Abkommens lohnt sich daher – für die Ukraine, die Sicherheit Europas und die Definition eigener Interessen.

Minsk: Die Vorgeschichte

Der gesamte Verhandlungsprozess dauerte nur eine Woche, vom 5. Februar 2015 (Treffen von Hollande und Merkel mit Poroschenko in Kyjiw) bis zum Gipfeltreffen der vier Staats- und Regierungschefs in Minsk am 11./12. Februar. Die Gespräche verliefen deswegen so zügig, weil der von Deutschland und Frankreich entworfene und mit Kyjiw im Vorfeld sorgfältig abgestimmte Textentwurf im Wesentlichen auf dem von der so genannten OSZE-Kontaktgruppe verabschiedeten Minsker Protokoll (»Minsk I« vom 5./19.9.2014) fußte, das seinerseits zentrale Elemente eines zuvor von Poroschenko verkündeten »Friedensplans« widerspiegelte. Der schwierigste Knackpunkt des Abkommens betraf die Verzahnung des Waffenstillstands mit einem politischen Prozess, der auf Rückgewinnung der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze in ihrer ganzen Länge, damit auch über die besetzten Gebiete, durch die Regierung der Ukraine zielte. Die Krim blieb aus dem Abkommen wie schon in Minsk I ausgeklammert.

Im Fokus der politischen Regelung standen

  • ein »Sonderstatus« mit weit gehenden Rechten bzw. Zuständigkeiten für die besetzten Teile des Donbas, verbunden mit einer Reform der Verfassung der Ukraine zur Dezentralisierung der Verwaltung;
  • Modalitäten der Abhaltung von Lokalwahlen in der Region;
  • Voraussetzungen für die Rückgewinnung der Kontrolle über den an das besetzte Gebiet stoßenden, etwa 400 km langen Teilabschnitt der ukrainisch-russischen Staatsgrenze durch die Regierung der Ukraine.
Minsk II: Form und Inhalt

Format der Verhandlungen und Form des Abkommens stehen auf der Haben-Seite der Bilanz. Eingebunden in das Format der Normandie 4-Staaten (N4) war Moskau gezwungen, als Kriegspartei auch mit Kyjiw auf Augenhöhe zu sprechen. Damit kam Moskau mit seinem Narrativ, es spiele nur eine Rolle als »Vermittler« und Kyjiw dürfe nur mit den »Volksrepubliken« (»Separatisten«) als Konfliktpartei verhandeln, da es sich angeblich um einen internen ukrainischen Konflikt handele, nicht zum Zuge. Allerdings spiegelt der Abkommenstext an keiner Stelle wider, dass auch Russland Kriegs- und Vertragspartei ist, und legt daher Moskau auch keine Verpflichtungen auf. Die »Separatisten« dagegen waren in Minsk nur indirekt eingebunden, und zwar in den Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe der OSZE.

Putin setzte ein spätes Inkrafttreten des Waffenstillstands (Art. 1) erst zum 15. Februar 2015 um 00:00 Uhr durch, zweieinhalb Tage nach Unterzeichnung von Minsk II am 12. Februar, womit er Zeit für die Eroberung des strategischen Eisenbahnknotenpunkts von Debalzewe, zur Zeit der langen Nacht von Minsk noch unter Kontrolle der ukrainischen Seite, herausschlagen konnte. Dass Putin kurz darauf sogar diesen Termin ignorierte, zeigt die Tatsache, dass die »Separatisten« bzw. regulären russischen Truppen die Waffen erst am 18.2., also nach der Eroberung Debalzewes, niederlegten.

In der Substanz sieht der Waffenstillstand nur den Abzug schwerer Waffen (ab Kaliber 100mm) vor, aber keine Truppenentflechtung – eine erhebliche Schwäche der Vereinbarung. Damit konnten nur Gebietsstreifen ohne Artilleriewaffen, aber keine vollständig demilitarisierten Sicherheitszonen geschaffen werden. Truppenentflechtung an neuralgischen Punkten wurde später in mühsamer, von vielen Rückschlägen gezeichneter Detailarbeit in der Trilateralen Kontaktgruppe behandelt. Mit Beobachtung und Verifizierung von Waffenstillstand und -abzug wurde die OSZE beauftragt (Art. 3), die allerdings anders als im Minsker Protokoll vom 5.9.2014 (Art. 4) keinen erneuten Auftrag zur Überwachung der ukrainisch-russischen Staatsgrenze mit Schaffung von Sicherheitszonen auf beiden Seiten der Staatsgrenze erhielt.

Bei den Regelungen zum politischen Prozess liegt der zentrale Knackpunkt in der Bestimmung, dass die Ukraine die Überwachung ihrer Staatsgrenze zu Russland und damit die Kontrolle über ihr gesamtes Staatsgebiet im Osten erst nach der Durchführung von Lokalwahlen in den Konfliktgebieten erhalten sollte (Art. 9). Diese Lokalwahlen sollten zwar strikt »in Übereinstimmung mit ukrainischem Recht« und einem ukrainischen Sonderstatusgesetz für das Konfliktgebiet (Art. 4) sowie gemäß OSZE-Standards und unter Aufsicht der OSZE (Art. 12) durchgeführt werden. Dennoch wird in der Forschungsliteratur zu Recht die Frage aufgeworfen, ob und wie demokratische Wahlen mit den »Separatisten« und russischen Truppen als Machthaber vor Ort möglich gewesen sein sollten. Dazu kommt: Die Abfassung des ukrainischen Lokalwahlgesetzes, die Gestaltung bestimmter Elemente einer Verfassungsreform und die Redaktion des Sonderstatusgesetzes sollten »in Absprache« bzw. Abstimmung mit den »Separatisten« erfolgen (Art. 9,11,12). Immerhin konnte Moskau den von ihm favorisierten Begriff der »Autonomie« für die besetzten Gebiete nicht durchsetzen. Stattdessen gibt es einen Verweis auf Regelungen des schon verabschiedeten Sonderstatusgesetzes der Ukraine (in einer Fußnote zu Art. 11).

Unter dem Strich wurde die Wiederherstellung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine also doppelt konditioniert durch

  • de facto russisches Mitspracherecht an ukrainischer Gesetzgebung (Wahlgesetz, Verfassungsreform)
  • und ordnungsgemäße Durchführung von Lokalwahlen gemäß OSZE-Standards unter russischer Besatzung im Donbas.

Damit hatte es Moskau in der Hand, den politischen Prozess an mehreren Stellen zu torpedieren.

Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen – eine gemischte Bilanz

Die Minsker Vereinbarungen galten achteinhalb Jahre. Bis zuletzt hielten Deutschland und Frankreich, die Europäische Union, NATO und USA an Minsk fest und pochten auch mangels geeigneter Alternativen auf Umsetzung des Maßnahmenpakets, wie etwa Bundeskanzler Scholz am 15. Februar 2022 in Moskau. Nur wenige Tage später machten die Anerkennung der »Volksrepubliken« von Donezk und Luhansk am 21.2. und die Invasion der Ukraine durch Russland seit dem 24. Februar 2022 die Minsker Abkommen zur Makulatur. Sie zerlegten damit auch die mit hoher Präzision arbeitende und auf strikte Neutralität bedachte OSZE-Sonderbeobachtungsmission und die Trilaterale Kontaktgruppe.

In den acht Jahren seit dem Minsker Gipfeltreffen haben der Waffenstillstand, auch wenn er laufend von beiden Seiten – häufiger von den »Volksrepubliken« bzw. Russland als von der Ukraine – gebrochen wurde, und partiell auch die Vereinbarungen zu humanitären Angelegenheiten wie Austausch von Gefangenen wenige positive Ergebnisse gebracht (vgl. z. B. Fischer 2022, 2). Nach UN-Angaben kamen im Donbas im Zeitraum vom 14.4.2014 bis 31.12.2021 insgesamt 3.404 Zivilisten ums Leben, einschließlich der 298 Todesopfer des kriminellen Abschusses des malaysischen Verkehrsflugzeugs MH17 am 17.7.2014.

Der politische Teil des Minsker Maßnahmenpakets scheiterte, weil der Kreml diesen nur als Vehikel nutzte, um die Abspaltung der »Volksrepubliken« vom Staatsverband der Ukraine zu vertiefen und Fortschritte auf dem Weg zur politischen, wirtschaftlichen und humanitären Reintegration der Gebiete zu blockieren. Moskau hat die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, zu denen es sich bis Februar 2022 offiziell bekannte, systematisch unterlaufen und zum Vorantreiben seiner eigenen geopolitischen Agenda missbraucht. In der Folge nahm die politische Dynamik auf internationaler Ebene ab, nachdem es von 2014 bis 2016 noch eine dichte Frequenz von Treffen insbesondere im Rahmen der Normandie 4 gegeben hatte. Das letzte N4-Gipfeltreffen ging am 9.12.2019 in Paris mit einem in Inhalt und Duktus wenig überzeugenden Lippenbekenntnis zu Minsk zu Ende.

Ein Blick auf die politischen Kernthemen von Minsk zeigt beispielhaft, wie systematisch Moskau alle Anläufe zu einer authentischen und voll umfänglichen Umsetzung der politischen Agenda unterlief.

Die Ukraine hatte mit ihrer Gesetzgebung schon wenige Tage nach Minsk I »geliefert« in Form von Gesetzen über Amnestie und weit gehenden »Sonderstatus« für den besetzen Donbas, insbesondere mit Garantie der freien Verwendung der russischen Sprache und Etablierung lokaler »Volksmilizen«. Letzteres wurde allerdings nach Abhaltung von Lokalwahlen, welche die »Separatisten« unter Eigenregie statt nach Maßgabe eines ukrainischen Gesetzes durchführten (und damit die Axt an den vereinbarten politischen Prozess legten), von Kyjiw suspendiert. Am schwierigsten erwies sich die Verankerung der Regelungen zum Sonderstatus in der Verfassung der Ukraine (vgl. Minsker Paket, Art. 11). Ein entsprechender Entwurf Präsident Poroschenkos führte im Sommer 2015 zu gewalttätigen Protesten in Kyjiw und lag seither auf Eis. (Vgl. Fischer, 20.)

Russland zielte mit seinen – über die von den »Separatisten« in die Kontaktgruppe eingebrachten – Gegenvorschlägen zu den ukrainischen Gesetzesentwürfen darauf ab, die besetzten Gebiete so weit wie möglich administrativ von der ukrainischen Exekutive abzutrennen und ihnen Attribute von Autonomie bis hin zur faktischen Eigenstaatlichkeit zuzuweisen. Moskau sprach öffentlich immer wieder von einem Autonomiestatus für den Donbas, obwohl in den Minsker Abkommen nicht von Autonomie, sondern nur von «Dezentralisierung» die Rede ist. Mit diesem Prozess war allerdings auch die Ukraine ins Hintertreffen geraten. Die Autonomievorschläge der von Moskau gesteuerten Separatisten gingen über das Minsk II-Abkommen weit hinaus und »kamen einer ‚Legalisierung der Volksrepubliken‘« nahe (Luchterhand, 34).

Bei den Lokalwahlen bestand Kyjiw auf Durchführung der Wahlen unter Aufsicht der zentralen Wahlbehörde der Ukraine. Die »Separatisten« hingegen forderten weitgehend autonome Durchführung der Wahlen in Eigenregie.

Bei der Verfassungsreform forderte Moskau unter anderem eine Abkoppelung der Wahlen in den besetzten Gebieten vom zentralen Termin der Lokalwahlen in der Ukraine und eine Verankerung weit gehender Sonderstatusattribute. (A. a. O. 44f.)

Mit diesen Maximalforderungen nahm Russland ein Scheitern des politischen Prozesses, der zur Reintegration der besetzten Gebiete in den ukrainischen Staatsverband führen sollte, nicht nur in Kauf, sondern führte es vorsätzlich herbei. Das Scheitern des Normandie-Prozesses lag nicht in erster Linie an inhaltlichen Bestimmungen des Minsker Maßnahmenpakets, sondern am Obstruktionskurs Moskaus, das die Ukraine immer wieder der Nichterfüllung der Vereinbarungen beschuldigte, selbst aber Fortschritte durch unerfüllbare Maximalforderungen, Schaffung vollendeter Tatsachen (wie die Durchführung von »Wahlen« in Eigenregie) oder Abwälzung von politischer Verantwortung auf die angeblich unabhängig agierenden »Separatisten« blockierte.

Vor diesem Hintergrund ist es zur Durchführung von Lokalwahlen nach ukrainischem Recht nie gekommen. »DNR« und »LNR« bauten ihre diktatorischen pseudo-staatlichen Strukturen unter weitgehend vollständiger Abhängigkeit von Russland aus und schotteten sich so immer weiter von der Staatlichkeit der Ukraine ab. Die Bevölkerung auf beiden Seiten der Kontaktlinie litt nicht nur unter den zahlreichen Waffenstillstandsverletzungen, sondern vor allem auch unter den humanitären Schikanen und Beeinträchtigungen, die mit Durchschneiden des gewohnten Lebensumfelds durch die brutale, mit tückischen Landminen versehene Frontlinie mit nur wenigen, völlig überlasteten und unzureichenden Übergängen einhergingen.

Moskau verfestigte mit der so genannten »Passportisazija«, der Ausgabe russischer Pässe an die ukrainische Bevölkerung des besetzten Donbas (vgl. Burkhardt), ab April 2019 die weitgehende faktische Abtrennung der nicht von der Regierung der Ukraine kontrollierten Gebiete weiter. Mit Bau der Krim-Brücke, die 2018 in Betrieb genommen wurde, konsolidierte Russland seine völkerrechtswidrige Okkupation der Krim und schnürte gleichzeitig die ostukrainischen Hafenstädte am Asowschen Meer von ihren maritimen Verbindungen ab, da die Brücke für die Durchfahrt moderner Containerschiffe zu niedrig ist (Luchterhand 1-2, 2019).

Woran ist »Minsk« gescheitert?

Hauptursache war das systematische Unterlaufen der Vereinbarung durch Russland und den von Moskau gesteuerten »Separatisten«. Der Westen war außer Verhängung von Sanktionen nicht bereit, weitere starke Druck- und Machtmittel zu mobilisieren, um Verhandlungspositionen durchzusetzen oder Obstruktion bzw. Verstöße bei der Umsetzung zu ahnden. Die EU-Sanktionen waren zielgerichtet, aber nicht ausreichend und lösten keine Verhaltensänderung bei Moskau aus. Eine Studie des DIW kommt zum Schluss, dass die EU-Sanktionen gegen Russland gewirkt hätten (der Wohlstand sei um 1,4 Prozent eingebrochen), das Potenzial sei allerdings bei Weitem nicht ausgeschöpft worden. Der Sanktionsdruck hätte deutlich erhöht werden können (vgl. Chowdhry u. a.). Dazu kam: Moskau forderte immer wieder »direkten Dialog« Kyjiws mit den »Separatisten« ein, obwohl allen klar war, dass die Anführer aus Donezk und Luhansk Weisungsempfänger Moskaus waren.

Nicht explizit genug war im Minsk II-Abkommen die Regelung zur Rückführung der russischen Waffen (und deren Überwachung), aber auch der regulären russischen Truppen, die eine erfolgreiche Kriegsführung der »Separatisten« überhaupt erst möglich gemacht hatten (vgl. Maßnahmenpaket Art. 10).

Auf der positiven Seite ist zu verzeichnen, dass Deutschland, die EU und andere Staaten des Westens die Ukraine bei Stärkung von Wirtschaft und Staatshaushalt, Bekämpfung der Korruption, Inkraftsetzung des Assoziierungsabkommens mit der EU, Förderung der Zivilgesellschaft, Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung oder Aufhebung der Visapflicht für die Schengen-Staaten nachhaltig unterstützten. Das entschlossene Zusammenstehen bei wirtschaftlichem Aufbau und politischen Strukturreformen hebelte ein zentrales Kriegsziel Putins, die politische und wirtschaftliche Niederringung der Ukraine, aus.

Anders stand es um die militärische Unterstützung der Ukraine. Deutschland schloss die Bereitstellung von Waffen an die Ukraine mit Blick auf den Grundsatz der Nichtlieferung von Rüstungsgütern in Konfliktgebiete grundsätzlich aus. Darüber hinaus bestand weit reichender politischer Konsens in Deutschland wie in Frankreich, dass Waffenlieferungen aufgrund der militärischen Überlegenheit Russlands nur zu weiterer Konfliktverschärfung zum Nachteil der Ukraine und Sicherheit Europas führen würden. Das Minsk II-Abkommen und der Normandie-Prozess lagen schließlich im Schatten der massiven energiepolitischen Abhängigkeit Deutschlands von Russland. Ein Zurückfahren des Nordstream-Projekts stand vor 2022 zu keiner Zeit auf der Tagesordnung. Durch die 2015 mit Gazprom unterzeichnete Vereinbarung zum Bau der zweiten Pipeline, ein Jahr nach der russischen Besetzung der Krim, begab sich Deutschland noch stärker in die Abhängigkeit.

Insgesamt lag der Grundwiderspruch von Minsk darin, dass Putin das Ende der Ukraine als unabhängige Nation anstrebte, ihr eine eigenständige historisch-kulturelle Identität absprach und ihre Rolle auf eine Funktion Russlands reduzierte (vgl. Putins Essay »Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer«, veröffentlicht am 12. Juli 2021).

Heute ist die Ausgangslage für Verhandlungen

… schwieriger und einfacher als in Minsk.

Schwieriger,

  • weil der transatlantische Westen zu zerfallen droht. Die Europäer sind aus Sicht der Trump-Administration keine erstrangigen und unverzichtbaren Verbündeten der USA mehr. Für Washington ist ein gutes Verhältnis zu Russland wichtiger als eine enge Verbindung mit den Europäern (so Münkler 2025). Statt wie im Kontext von Minsk in Abstimmung mit den Europäern mit verteilten Rollen an einem Strang zur Unterstützung der Ukraine zu ziehen, begibt sich Washington auf einen riskanten Pfad bilateraler Gespräche mit Moskau über, aber ohne die – von Trump massiv unter Druck gesetzte – Ukraine (und ohne die Europäer). Putin gewinnt, solange er die USA gegen die Ukraine und Europa ausspielen kann. Diese werden sich nur dann gegenüber Russland durchsetzen können, wenn ihre Bemühungen von Washington zumindest nicht konterkariert werden;
  • weil für die Ukrainer und Europäer jetzt viel mehr auf dem Spiel steht als noch 2014/2015. Putin strebt eine Revision der Sicherheitsordnung in Europa mit dem Ziel der Absteckung exklusiver Einflussgebiete an, wobei er die Ukraine zum Satelliten Russlands degradieren will (vgl. Regenbrecht 2025). Putin hält an seinem Konzept der sicherheitspolitischen Aufteilung Europas zur gegenseitigen Abgrenzung von Einflusssphären zwischen Russland und der NATO vom Dezember 2021 fest;
  • weil Putin die Abtretung der vier von Russland beanspruchten und per Gesetz vom 4.10.2022 einverleibten Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja und die internationale Anerkennung von deren Zugehörigkeit (einschließlich der Krim) zur Russischen Föderation fordert, Neutralisierung der Ukraine und Verhinderung von deren NATO-Beitritt, Verbot der Stationierung ausländischer Truppen und Bezug von Rüstungsgütern sowie nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, weitgehende Entwaffnung und »Denazifizierung« des Landes und Durchführung von Neuwahlen noch vor Abschluss eines Friedensvertrags (vgl. das am 2. Juni d. J. in Istanbul an die ukrainische Delegation übergebene russische »Memorandum«). Dabei versteht Russland die meisten der genannten Elemente als Voraussetzungen für einen Waffenstillstand, nicht als Verhandlungsposition für einen diplomatischen Gesprächsprozess unter Waffenruhe, wie ihn die Ukraine und ihre europäischen Verbündeten anstreben.

Einfacher (d. h. weniger komplex),

  • weil anders als in Minsk die Karten offen auf dem Tisch liegen. Nur Russland und die Ukraine sind Kriegsparteien. Das russische Spiel über die Bande mit angeblich autonom agierenden »Separatisten« entfällt. Russlands imperiale Ambitionen können bei Verhandlungen nicht geleugnet werden.
Zehn Lehren aus Minsk für Verhandlungen mit Moskau

Die Unterstützer der Ukraine müssen alles tun, damit Kyjiw Verhandlungen aus einer Position der Stärke führen kann. In Minsk musste die Ukraine aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln und Zugeständnisse machen, die Russland in die Vorhand brachten. Das darf sich nicht wiederholen. Russland wird auch jetzt nicht aus einer Position der Schwäche verhandeln. Daher gilt es, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine weiter zu stärken, damit sich für Putin eine Verhandlungslösung weniger verlustreich gestaltet als die Fortsetzung des Angriffskriegs. Darauf sollte der Fokus liegen, solange Russland auf bedingungsloser Kapitulation besteht. Gleichzeitig dürfen die europäischen Verbündeten der Ukraine mit ihrem Drängen auf Waffenstillstand und echte Verhandlungen nicht nachlassen. Die Parameter dafür ergeben sich aus den »zehn Lehren«:

  1. Verhandlungen mit Russland sollte die Ukraine selbst führen und steuern, unterstützt und flankiert von ihren europäischen Verbündeten (die klargemacht haben, dass sie sich aktiv einbringen wollen) und idealerweise den USA. Säße Kyjiw nicht selbstbestimmt am Tisch, wären Verhandlungsergebnisse nicht belastbar und würden die Ukraine destabilisieren. Die Partner der Ukraine dürfen daher nicht in die gleiche Falle gehen, wie sie Putin am 6. Februar 2015 in Moskau aufgestellt hatte, als er nur durch energischen Widerspruch von Merkel und Hollande davon abgehalten werden konnte, einen russischen Abkommensentwurf ohne Beteiligung der Ukrainer zu oktroyieren (vgl. Angela Merkel, 487).
  2. Russland muss im Text einer künftigen Vereinbarung anders als in Minsk deutlich in seiner Rolle als Kriegspartei benannt werden und sich zu klar terminierten Verpflichtungen bekennen. Ein Abkommen sollte daher im Kern die Form einer bilateralen Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland annehmen. Abschreckender Präzedenzfall ist der in Istanbul vor drei Jahren verhandelte Entwurf eines »Vertrags über ständige Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine« vom 15.4.2022, der als Abkommen zwischen einer Reihe von »Garantiestaaten«, unter denen auch Russland aufgeführt ist (!), einerseits sowie der Ukraine andererseits als vertragsschließende Parteien konzipiert. Die Ukraine wird mit einer Fülle von Verpflichtungen belegt, während sich Russland immer nur im Verbund mit den anderen Garantiestaaten wie den USA auf Zusagen einlässt und sich im Übrigen ein Vetorecht (!) gegen die Anwendung militärischer Gewalt durch von der Ukraine um Hilfe gerufene Garantiestaaten vorbehält.
  3. Eine vorläufige Waffenruhe muss vor Beginn von Gesprächen eintreten. Verhandlungen dürften nicht durch Ausübung militärischen Drucks belastet und insbesondere nicht für die Erzielung von Gebietsgewinnen missbraucht werden, wie Putin dies in Minsk getan hatte.
  4. Hauptziel einer ersten Verhandlungsphase sollte ein belastbarer und nachhaltiger Waffenstillstand sein, der anders als in Minsk nicht mit politischen Dossiers verschränkt sein sollte. Minsk hat gezeigt, wie enorm schwierig es ist, in einen nachhaltigen Waffenstillstand hineinzukommen. Es braucht fortgesetzte militärische Unterstützung der Ukraine und robuste Sicherheitsgarantien, um Russland glaubwürdig und nachhaltig vor erneuten Angriffen abzuschrecken.
  5. Zur Überwachung des Waffenstillstands ist die Einrichtung einer bewaffneten militärischen internationalen Monitoring-Truppe mit umfassendem Zugang und Überwachungsmöglichkeiten auf beiden Seiten der festzulegenden Kontaktlinie erforderlich. Nur eine zivile, unbewaffnete Beobachtungsmission mit eingeschränktem Zugang zum russisch kontrollierten Gebiet wie bei der OSZE-Sonderbeobachtungsmission Ukraine wäre unzureichend. Neben dem Abzug schwerer Waffen sollte das in Minsk ausgeblendete Thema der Truppenentflechtung eine wichtige Rolle spielen. Ziel ist die Schaffung einer demilitarisierten Sicherheitszone von ausreichender Tiefe auf beiden Seiten der Kontaktlinie unter Aufsicht der Monitoring-Truppe.
  6. Kein Minsk III mit »Föderalisierung« der Ukraine. Jedes direkte oder indirekte Mitspracherecht Russlands an Gestaltung der inneren Ordnung und politischen Verfasstheit der Ukraine ist auszuschließen.
  7. Festlegungen zu einer NATO-Mitgliedschaft nur mit, nicht gegen die Ukraine. Die US-Aussagen, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied werden könne, den Verlust von Territorien hinnehmen müsse und nicht mit US-Beteiligung an Friedenssicherung vor Ort rechnen könne, verstoßen nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, sondern sind auch verhandlungstaktisch ausgesprochen unklug.
  8. Ohne Druckmittel wäre das Abkommen zahnlos wie Minsk. Dazu gehört neben glaubwürdigen und realistischen Sicherheitsgarantien die Druckkulisse effektiver Sanktionen, aber auch fortgesetzte Waffenlieferungen an die Ukraine, um deren Verteidigungsfähigkeit nachhaltig zu stärken. Maßnahmen wie das in London angekündigte graduelle Auslaufen von Sanktionen nach erfolgreichen Verhandlungen und umfassende finanzielle Entschädigung der Ukraine auf Kosten des Aggressors setzen dafür richtige und wichtige Signale.
  9. Zu den internationalen Garantiemächten mit militärischer Präsenz in der Ukraine sollten auch die USA gehören, um trotz der aktuellen Verwerfungen die transatlantische Dimension der gemeinsamen Verantwortung für die Stabilität des Waffenstillstands sowie Unteilbarkeit der NATO zu verankern.
  10. Die Vereinbarung sollte von Regelungen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle mit dem notwendigen Verifikationsregime flankiert werden als Beginn eines Prozesses der Wiederherstellung von Sicherheit in Europa.

Der Text ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung des bei LibMod erschienenen Policy Papers »10 Jahre Abkommen von Minsk – 10 Lehren für Verhandlungen mit Moskau«, frei zugänglich unter https://libmod.de/10-jahre-abkommen-von-minsk-10-lehren-fuer-verhandlungen-mit-moskau/.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Lehren aus den Minsk-Verhandlungen für die Beilegung des aktuellen Krieges

Von Tetiana Kyselova, Josh Nadeau
Dieser Artikel versucht – aus einer ukrainischen Perspektive heraus – im Kontext der aktuellen Friedensbemühungen die Lehren aus dem von der OSZE vermittelten Minsker Verhandlungsprozess zwischen der Ukraine und Russland (2014–2021) zu ziehen. Dabei werden das Format der Verhandlungen, die Konfliktparteien und ihre jeweiligen Interessen, die Klarheit der Vereinbarungen und die Abfolge der darin enthaltenen Maßnahmen, die Wirksamkeit der Überwachungs- und Verifizierungsmechanismen, die Einbeziehung der Zivilgesellschaft sowie die Akzeptanz der Vereinbarungen und des Verhandlungsprozesses durch die ukrainische Gesellschaft analysiert. Diese Faktoren sind für zukünftige Abkommen wichtig, wenn sie wirklich auf einen dauerhaften und nachhaltigen Frieden abzielen.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS