Die Ukraine zwischen Krieg und Rechtsstaatlichkeit
Russland verletzt in seinem Krieg gegen die Ukraine fundamentale Normen des Völkerrechts. Besonders schwerwiegend ist dabei, dass die Russische Föderation mit dem Budapester Memorandum von 1994 völkerrechtlich zugesichert hatte, die territoriale Integrität der Ukraine zu achten. Seit 2014 missachtet Russland diese Verpflichtungen systematisch. Die russische Aggression ist durch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen geprägt: Morde und sexuelle Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, Zerstörung ziviler Infrastruktur, Morde an Kindern und die unrechtmäßige Deportation von Minderjährigen. Russland missachtet nicht nur die Menschenrechte, sondern verstößt auch gegen international anerkannt Regeln der Kriegsführung nach der Genfer Konvention. Die Ukraine befindet sich in einer außerordentlich schwierigen militärischen Lage: Sie muss Widerstand gegen eine militärische Übermacht leisten und gleichzeitig den demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter des Staates gemäß den verfassungsrechtlichen Grundlagen und europäischen Werten bewahren. Die Erfahrung der Ukraine zeigt, dass es für Staat und Gesellschaft eine erhebliche Herausforderung darstellt, beide Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Die Mobilmachung ist in der Ukraine Gegenstand kontroverser Diskussionen. Werden bei der Mobilmachung Bürgerrechte verletzt, oder verfolgt der Staat lediglich seine legitimen Interessen, seine verfassungsrechtliche Pflicht zur Landesverteidigung zu gewährleisten?
Die Mobilmachung in der ukrainischen Gesetzgebung
Als Reaktion auf die militärische Aggression der Russischen Föderation am 24. Februar 2022 führte die Ukraine den Kriegszustand ein und rief die allgemeine Mobilmachung aus. Dies sind beides notwendige Maßnahmen, um die staatliche Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu wahren. Der Kriegszustand dient der Landesverteidigung, schränkt jedoch vorübergehend einige in der Verfassung garantierte Rechte ein. Die Einschränkungen sind rechtlich genau festgelegt und umfassen das Verbot von Verfassungsänderungen, die Aussetzung von Wahlen und Referenden, die Einschränkung des Streikrechts und des Rechts auf Massenversammlungen, die Beschränkung der Bewegungsfreiheit, die Einschränkung des Eigentumsrechts sowie die Einführung einer Arbeitspflicht. Die allgemeine Mobilmachung konkretisiert hingegen die verfassungsrechtliche Bürgerpflicht zur Landesverteidigung durch den Militärdienst. Ihre Umsetzung, die teilweise mit der Anwendung von Zwangsmaßnahmen verbunden ist, hat gesellschaftliche Diskussionen über das Gleichgewicht zwischen Bürgerpflicht und Menschenrechten ausgelöst.
Die Mobilmachung als Prozess der Einberufung Wehrpflichtiger zum Dienst in einer sich im Krieg befindenden Armee hat tiefe historische Wurzeln. Die theoretischen Grundlagen dieses Konzepts wurden bereits in den Werken von Carl von Clausewitz beschrieben. Obwohl er den Begriff »Mobilmachung« nicht im modernen Sinne verwendete, definierte er die Schlüsselkomponenten des Krieges als »Trinität« von Bevölkerung, Streitkräften und Staatsführung. Die derzeitige Mobilmachung in der Ukraine zeigt eindrucksvoll, wie wichtig es ist, dass die Bevölkerung den Staat bei der Landesverteidigung unterstützt. Während sich im ersten Kriegsjahr viele freiwillig zur Armee gemeldet haben, anstatt auf den Einberufungsbescheid im Zuge der Mobilmachung zu warten, sahen sich die staatlichen Verwaltungsbehörden im dritten und vierten Jahr mit neuen Herausforderungen wie Kriegsdienstverweigerung konfrontiert.
Gemäß dem ukrainischen Gesetz »Über die Mobilmachungsvorbereitung und Mobilmachung« ist Mobilmachung ein Paket zusammenhängender Maßnahmen, die dazu dienen, die Volkswirtschaft, die Tätigkeit der staatlichen Machtorgane, anderer staatlicher Organe, der Organe der kommunalen Selbstverwaltung, der Unternehmen, Einrichtungen und Organisationen auf das Funktionieren unter besonderen Bedingungen sowie die Streitkräfte der Ukraine, andere militärische Formationen und die Zivilschutzeinheiten auf die Organisation und Personalstärke der Kriegszeit umzustellen.
Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Heranziehung der Bürger zum Militärdienst in der Ukraine basiert auf einem System miteinander verbundener Normen. So definiert Artikel 17 die Landesverteidigung als wichtigste Funktion des Staates, die in erster Linie den Streitkräften der Ukraine obliegt. Artikel 65 legt den Schutz des Vaterlandes als verfassungsrechtliche Pflicht jedes Bürgers und jeder Bürgerin fest. Diese beiden Artikel bilden somit die Rechtsgrundlage für die verpflichtende Teilnahme an Verteidigungsmaßnahmen durch den Militärdienst.
Das ukrainische Gesetz »Über die Wehrpflicht und den Militärdienst« definiert den Militärdienst als eine Form des Staatsdienstes, dessen Ziel der Schutz der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine ist. Es enthält auch die gesetzlichen Regelungen für die allgemeine Mobilmachung sowie die verpflichtende und freiwillige Einberufung von Bürgern zum Militärdienst. Die verpflichtende Einberufung erfolgt über die Territorialen Zentren für Personalgewinnung und soziale Unterstützung (ukrainisch: Terytorialnyj zentr komplektuwannja ta sozialnoj pidtrymky, abgekürzt TZK ta SP, meist aber nur TZK) und wird durch das ukrainische Gesetz »Über die Mobilmachungsvorbereitung und Mobilmachung« geregelt. Die TZK werden vom ukrainischen Verteidigungsministerium gebildet, aufgelöst oder reorganisiert. Dabei sollen vorrangig Personen mit Kampferfahrung, Reservisten, Reserveoffiziere sowie Absolventen militärischer Hochschulen eingezogen werden. Derzeit unterliegen der Mobilmachung Männer im Alter von 25 bis 60 Jahren sowie Frauen bestimmter militärischer Fachrichtungen, beispielsweise mit medizinischer oder pharmazeutischer Ausbildung. Die militärische Registrierung (Wehrerfassung) ist für Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren sowie für Frauen bestimmter militärischer Tätigkeiten obligatorisch.
Die Mobilmachung umfasst die Zustellung von Einberufungsbescheiden, das persönliche Erscheinen bei den TZK, eine umfassende medizinische Untersuchung und die anschließende Zuweisung zu militärischen Einheiten. Die Zustellung der Einberufungsbescheide kann durch die TZK, die Organe der kommunalen Selbstverwaltung, Unternehmensleitungen, Bildungseinrichtungen oder Grenzschutzbehörden erfolgen. Die Übergabe der Bescheide kann am Wohnort, am Arbeitsplatz, am Studienort, an öffentlichen Plätzen oder an der Staatsgrenze erfolgen. Die Verweigerung der Annahme eines Einberufungsbescheids wird gemäß den Artikeln 210 und 210-1 des ukrainischen Gesetzbuches über Ordnungswidrigkeiten als Ordnungswidrigkeit eingestuft. Nach ordnungsgemäßer Zustellung gilt eine Verweigerung hingegen als Straftat gemäß Art. 336 des ukrainischen Strafgesetzbuches.
Die Verweigerung des Wehrdienstes aus religiösen Gründen stellt ein Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und der verfassungsmäßigen Pflicht zur Verteidigung des Staates dar. Gemäß Artikel 35 der ukrainischen Verfassung hat eine Person, deren Überzeugungen mit dem Militärdienst unvereinbar sind, Anspruch auf einen alternativen zivilen Dienst. Der Oberste Gerichtshof betont jedoch, dass religiöse oder gewissensbezogene Überzeugungen keine eigenständige Grundlage zur Vermeidung der Mobilisierung darstellen und die Pflicht zur Verteidigung verbindlich bleibt. Diese Pflicht muss nicht zwingend den Einsatz von Waffen umfassen, da Personen auch in technischen, logistischen oder humanitären Bereichen eingesetzt werden können.
Gemäß Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sind Staaten verpflichtet, ein System der alternativen Dienstleistung einzurichten. Dieses muss vom Militärdienst getrennt sein, darf keine Strafe darstellen, muss zeitlich angemessen sein und ohne Diskriminierung für alle zugänglich sein. Die Venedig-Kommission betont, dass die Kriegsdienstverweigerung auch im Krieg nicht vollständig ausgeschlossen werden kann und Personen, die den Kriegsdienst verweigern, niemals zum Tragen oder Einsatz von Waffen gezwungen werden dürfen. Die Realität in der Ukraine ist derzeit jedoch so, dass es für den Durchschnittsbürger praktisch utopisch ist, den Wehrdienst aus religiösen Gründen zu verweigern. Ein klar geregeltes Verfahren für einen Aufschub aufgrund religiöser Überzeugungen existiert bisher nicht.
Seit dem Jahr 2024 gibt es das elektronische Register »Oberih« und die Anwendung »Reserw+«. Damit werden Einberufungsbescheide digital erfasst und zugestellt. Eine elektronische Vorladung über die App »Reserw+« ist bislang nicht möglich, sodass die Vorladung weiterhin postalisch persönlich zugestellt werden muss. Die Bescheide können zudem per Einschreiben übermittelt werden. Ein Bescheid gilt als zugestellt, wenn er an die gemeldete Wohnadresse geschickt wurde. Die Bürger sind somit selbst dafür verantwortlich, ihre persönlichen Daten stets aktuell zu halten.
Die freiwillige Rekrutierung erfolgt durch den Abschluss von Dienstverträgen. Die Anwerbung übernehmen spezialisierte Rekrutierungszentren des Verteidigungsministeriums. Seit dem Jahr 2024 konnten diese Zentren über 10.000 Kandidaten gewinnen. Das Programm »Militärdienst 18-24«, das gezielt junge Menschen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren ansprechen sollte, die bisher von der Wehrpflicht im Rahmen der allgemeinen Mobilmachung befreit waren, erwies sich hingegen als weniger effektiv: Zwischen Februar und April 2025 konnten lediglich 500 Personen für den Dienst an der Waffe gewonnen werden. Dies ist auf eine wenig ansprechende Informationskampagne und unzureichende Anreize zurückzuführen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der ukrainische Militärdienst auf klaren rechtlichen Mechanismen fußt, die durch verfassungsrechtliche und gesetzliche Normen sowie digitale Instrumente gestützt werden. Dennoch führen die Diskrepanz zwischen Gesetzgebung und praktischer Umsetzung, die ungleichmäßige Verteilung der Mobilmachungslast, von der aktuell überwiegend Personen mit unterdurchschnittlichem Einkommen betroffen sind, sowie Korruption zu erheblicher Rechtsunsicherheit und sozialen Spannungen. Diese Faktoren mindern die Effizienz der Mobilmachung erheblich.
Jüngste Entwicklungen bei der Einberufung von Männern zum ukrainischen Militärdienst
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wütet nun schon seit vier Jahren. Die Russische Föderation verfügt dabei über eine zahlenmäßige Überlegenheit an Militärpersonal und Waffen. Gleichzeitig erleidet das ukrainische Militär hohe Verluste. Die genauen Zahlen sind Staatsgeheimnis. Es gibt unterschiedliche Quellen. Sie führen Schätzungen zwischen Zehntausenden und Hunderttausenden von Toten und Verwundeten an. Inzwischen kann man von einer systemischen Krise im Mobilisierungssystem sprechen. Diese Herausforderungen veranlassten die Regierung Ende 2023, eine umfassende Reform des Mobilisierungssystems einzuleiten. Im April 2024 unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Gesetz, das das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 Jahre senkt. Dadurch erhöht sich die Mobilisierungsreserve theoretisch um 150.000 bis 160.000 Personen. Die Rada verabschiedete ein weiteres Gesetz, das Männer im Alter von 25 bis 60 Jahren dazu verpflichtet, ihre Daten innerhalb von 60 Tagen bei den TZK zu aktualisieren.
Im Zuge der Digitalisierung konnten bis Juli 2024 etwa 4,7 Millionen Männer beim TZK und über die mobile Anwendung »Reserw+« registriert werden. Die Reformen des Mobilisierungssystems führten dazu, dass mehr Männer eingezogen werden konnten. Dabei ist die Effizienz der verpflichtenden Rekrutierung jedoch umstritten. Abhängig von den Berechnungskriterien der Experten und Behörden beträgt das potenzielle Mobilisierungspotenzial der Ukraine bis zu 5 Millionen Personen. In diesen Berechnungen werden Personen, die bereits dienen, sich im Ausland aufhalten oder einen rechtmäßigen Grund für eine Befreiung vom Wehrdienst haben, nicht berücksichtigt. Obwohl das Verteidigungsministerium versichert, dass die Mobilmachung auf einem ausreichend hohen Niveau verläuft, werden die genauen Zahlen nicht veröffentlicht. Inoffiziellen Informationen zufolge stieg die Zahl der Mobilisierten im April und Mai 2024 auf 30.000 Personen pro Monat an. Aufgrund administrativer und sozialer Hindernisse verlangsamte sich das Tempo später wieder.
Die verpflichtende Einberufung im Rahmen der Mobilmachung wird durch einen Rückgang der Zahl der Freiwilligen, eine Zunahme sozialer Spannungen, Flucht und Emigration sowie demografische Herausforderungen erschwert. Somit haben die TZK Schwierigkeiten, ihre Zielvorgaben zu erfüllen. Laut Gesetz müssen sie einem klaren Schema folgen, das die Benachrichtigung der Personen, die Zustellung von Einberufungsbescheiden, das Erscheinen der Personen bei den TZK, die medizinische Untersuchung und die Weiterleitung an Militäreinheiten umfasst. In der Praxis kommen jedoch viele Wehrpflichtige diesen Aufforderungen nicht nach. Die Gründe dafür sind ganz verschieden: von objektiven Umständen wie fehlendem Internetzugang oder Aufenthalt im Ausland über mangelnde offizielle Informationen oder eine schwere Krankheit, aufgrund derer eine Person ihre Daten nicht aktualisieren konnte, bis hin zur Kriegsdienstverweigerung.
Die Hauptgründe für die Verweigerung des Wehrdienstes sind die Angst vor Tod und Verstümmelung, unzureichende Dienstbedingungen sowie die Verbreitung von Darstellungen über unprofessionelles Vorgehen der TZK. Hinzu kommt das Fehlen klarer Mechanismen für Demobilisierung und Rotation. Besorgniserregend ist die Korruption im Zusammenhang mit der Wehrdienstverweigerung: Mitarbeiter der TZK, der medizinisch-sozialen Expertenkommissionen (Medyko-sozialni expertni komisij, MSEK) und des Grenzdienstes stellen gegen Zahlungen von 3.000 bis 12.000 US-Dollar illegale Freistellungen vom Wehrdienst aus. Damit bereichern sich die korrupten Staatsangestellten nicht nur, sondern sie tragen auch zu einem wachsenden Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen bei.
Diese Probleme bei der Mobilmachung haben negative Konsequenzen: Die unzureichende Personalausstattung der Streitkräfte gefährdet die nationale Sicherheit und die sozialen Spannungen unter den ukrainischen Staatsbürgern vertiefen sich. Die Wehrdienstverweigerung zieht immer weitreichendere strafrechtliche Konsequenzen nach sich. Als Reaktion auf die weit verbreitete Missachtung von Einberufungsbescheiden sehen sich die TZK gezwungen, rigorosere Zwangsmaßnahmen anzuwenden, um die von der Regierung vorgegebenen Mobilisierungsziele zu erreichen. Diese Situation wirft ein fundamentales rechtliches und ethisches Dilemma für die Ukraine auf. Einerseits besteht für die Bürger die verfassungsrechtliche Pflicht zur Verteidigung des Vaterlandes (Artikel 65 der Verfassung der Ukraine), der sie sich entziehen. Andererseits führt die Anwendung von Zwangsmethoden bei der Mobilisierung, die mit Menschenrechtsverletzungen einhergeht, zu heftiger öffentlicher Resonanz und sogar aktivem Widerstand. Somit stellt sich die grundlegende Frage nach den zulässigen Grenzen staatlichen Zwangs in einer demokratischen Rechtsgesellschaft.
Verletzungen von Bürgerrechten bei der Mobilmachung
Eine objektive und umfassende Analyse von Rechtsverletzungen durch staatliche Behörden im Kontext der verpflichtenden Einberufung ist gegenwärtig erheblich erschwert, da es einen gravierenden Mangel an offiziell bestätigten Informationen und öffentlich zugänglichen Daten gibt. Dies ist primär auf einen Mangel an offiziell verifizierten Informationen und statistischen Daten zurückzuführen. Obwohl im Internet zahlreiche Berichte, Videos und Fotos von Bürgern über mutmaßliche Missbräuche während der Mobilmachung kursieren, bleibt eine offizielle Reaktion der zuständigen staatlichen Behörden oft aus oder ist nur sehr begrenzt. Dadurch wird die Erfassung eines vollständigen Bildes hinsichtlich des Ausmaßes und der Natur des Problems erheblich erschwert. Nichtsdestotrotz lassen sich auf der Grundlage anwaltlicher Praxis, der Analyse verfügbarer Informationsquellen, gerichtlicher Entscheidungen sowie von Eingaben an Menschenrechtsorganisationen die folgenden Hauptkategorien von Verstößen identifizieren:
1. Illegale und gewaltsame Festnahmen von Bürgern durch Angestellte der TZK. Gemäß ukrainischem Recht sind Vertreter der TZK nicht befugt, Bürger festzunehmen oder zu inhaftieren. Diese Befugnisse sind ausschließlich der Nationalpolizei vorbehalten, auch bei der Verfolgung von Wehrdienstverweigerern (siehe hierzu das Gesetz der Ukraine Nr. 3633-IX, 2024, welches die Zuständigkeiten im Mobilmachungsprozess regelt). Vertreter der TZK verstoßen jedoch regelmäßig gegen diese Bestimmungen, indem sie Bürger auf offener Straße gewaltsam festnehmen oder festhalten. Laut UNIAN führen die derzeitige »Busifizierung« von Männern und die Amtsüberschreitungen der TZK zu einem Rückgang der Zahl der mobilisierten Soldaten und zur Nichterfüllung des Mobilisierungsplans. Der Begriff »Busifizierung« (vom Wort »Bus« – Kleinbus) wird in den ukrainischen Medien ironisch oder kritisch verwendet, um die Praxis zu beschreiben, bei der TZK-Vertreter Männer auf der Straße, in Cafés oder in öffentlichen Verkehrsmitteln festnehmen, sie in Kleinbusse zerren und sofort zu den Rekrutierungsstellen oder medizinischen Kommissionen bringen.
2. Ignorieren der Gründe für eine Zurückstellung der verpflichtenden Einberufung. Die Gesetzgebung sieht für bestimmte Personengruppen ein Recht auf Zurückstellung aufgrund familiärer Umstände, des Gesundheitszustands oder des Studiums vor. Dennoch erklären Vertreter der TZK die entsprechenden Nachweise oftmals als »unzureichend« und nutzen dies als Vorwand für die Einberufung. Ein Beispiel hierfür ist ein kürzlich bekannt gewordener Fall in Winnyzja: Die stellvertretende Leiterin des örtlichen TZK und ihr Untergebener wandten physische Gewalt gegen einen Wehrpflichtigen mit gültiger Befreiung an und forderten ihn auf, sich trotzdem zum Wehrdienst zu verpflichten. Am 12. September 2023 fügten Mitarbeiter dieses TZK dem Mann bei einem Besuch Schläge auf Kopf und Gesicht zu, die zu einer Gehirnerschütterung und weiteren Verletzungen führten. Das Staatliche Ermittlungsbüro (ukr. Derschawne Bjuro Rossliduwanj, DBR; in etwa vergleichbar mit dem deutschen Bundeskriminalamt) hat die TZK-Mitarbeitenden des Amtsmissbrauchs beschuldigt; ihnen drohen bis zu zwölf Jahren Haft.
Bewertung im Lichte einschlägiger Gerichtsentscheidungen und der Verfassung
Die beschriebenen Rechtsverletzungen durch staatliche Akteure sind als rechtswidrige Handlungen zu qualifizieren, die gemäß der geltenden Gesetzgebung eine Verantwortlichkeit nach sich ziehen. Die bestehenden Mechanismen zur Rechenschaftspflicht scheinen jedoch wenig effektiv zu sein. Zudem offenbart die Rechtsprechung zur Mobilmachungspraxis ein Ungleichgewicht zwischen staatlichen Interessen und den individuellen Rechten der Bürger. Im Folgenden werden zwei exemplarische Gerichtsentscheidungen dargestellt.
Der Fall einer aus Tscherniwzi stammenden Journalistin, die im Jahr 2024 zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil sie Videomaterial verbreitet hatte, das den Prozess der »Zwangsmobilmachung« dokumentierte, entwickelte sich zu einem wegweisenden Präzedenzfall. Er unterstreicht die Komplexität der Abwägung zwischen dem Recht auf Information und den Anforderungen der nationalen Sicherheit in Zeiten des Kriegsrechts. Sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch das Berufungsgericht Tscherniwzi (Urteil vom 4. April 2025) begründeten ihr Urteil mit Artikel 8 des ukrainischen Gesetzes »Über den Rechtsstatus des Kriegszustands«, der vorübergehende Einschränkungen verfassungsmäßiger Rechte zulässt. Dieser Ansatz ist im ukrainischen Recht verankert – insbesondere durch das Urteil des Verfassungsgerichts der Ukraine von 2012, das das Recht auf Information als unbegrenzt auslegt – und entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). In den EGMR-Urteilen in den Fällen »Özgür Gündem v. Turkey« (2000) und »Sürek v. Turkey« (1999) wird die Möglichkeit von Einschränkungen der Meinungsfreiheit während Konflikten anerkannt, sofern Veröffentlichungen zu Gewalt aufstacheln oder die nationale Sicherheit untergraben. Der EGMR fordert dabei eine »dringende gesellschaftliche Notwendigkeit« für die Einschränkung der Meinungsfreiheit. In der Entscheidung »Incal v. Turkey« (1998) wurde das Verhältnismäßigkeitsprinzip bestätigt, demzufolge solche Einschränkungen strikt notwendig und vorübergehend sein müssen.
Der genannte Fall unterstreicht die unbedingte Notwendigkeit einer sorgfältigen Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und nationaler Sicherheit in Kriegszeiten. Zwar sind rechtliche Einschränkungen während des Krieges grundsätzlich zulässig, ihre Anwendung muss jedoch außergewöhnlich, klar begründet, verhältnismäßig und strikt notwendig sein. Übermäßig strenge Urteile für Handlungen, die keinen klar nachgewiesenen direkten negativen Einfluss auf die Verteidigungsfähigkeit haben, können nicht nur Menschenrechte verletzen, sondern auch das Vertrauen in die Justiz untergraben. Zudem können sie einen gefährlichen Präzedenzfall für die Einschränkung journalistischer Tätigkeit schaffen. Diese ist selbst in den schwierigsten Zeiten für eine demokratische Gesellschaft von entscheidender Bedeutung.
Ein Urteil des Obersten Gerichts der Ukraine hat die Irreversibilität der Mobilmachung etabliert. Demnach führt die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Einberufungsverfahrens nicht automatisch zur Aufhebung seiner rechtlichen Konsequenzen. Das Gericht begründete diese Position mit der Notwendigkeit, die Effektivität der Mobilmachungsmaßnahmen und die Verteidigungsfähigkeit des Staates zu gewährleisten. Durch diese Entscheidung kollidiert die Pflicht zur Verteidigung des Vaterlandes (Artikel 65 der Verfassung der Ukraine) mit dem Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz (Artikel 55 der Verfassung der Ukraine).
Insbesondere schränkt die Irreversibilität der Mobilmachung die Anwendung von Artikel 23 des ukrainischen Gesetzes »Über die Mobilmachungsvorbereitung und Mobilmachung« ein. Dieser enthält eine abschließende Liste von Gründen für eine Freistellung vom Militärdienst (beispielsweise Invalidität, die Pflege von Personen mit Behinderungen oder das Vorhandensein von drei oder mehr Kindern). Wenn die TZK eine Person trotz Vorliegens solcher Gründe mobilisiert, führt die gerichtliche Feststellung dieser Verletzung nicht zur Aufhebung der Einberufung. Dadurch entsteht eine Situation, in der die Normen, die Garantien gewähren, keinen effektiven Mechanismus zur Durchsetzung des Rechts auf Freistellung nach erfolgter Mobilmachung bieten.
Zugleich widerspricht dieser Präzedenzfall Artikel 55 der Verfassung der Ukraine, der festlegt: »Die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers werden durch das Gericht geschützt« sowie »Jeder hat das Recht, Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen von staatlichen Behörden, Organen der örtlichen Selbstverwaltung, Amtsträgern und Beamten gerichtlich anzufechten«. Zwar kann eine Person die Rechtswidrigkeit der Einberufung anfechten und ein gerichtliches Urteil über die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Handlungen der TZK erhalten, doch führt dieses Urteil nicht zur Aufhebung der Mobilmachung und zur Wiederherstellung des zivilen Status der betreffenden Person. Ein gerichtliches Urteil über eine Verletzung der Rechte gewährleistet somit nicht die Wiederherstellung des verletzten Rechts, was einen integralen Bestandteil des gerichtlichen Rechtsschutzes darstellt.
Inoffizielle Angaben deuten auf systemische Herausforderungen bei der Gewährleistung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit im Kontext der Mobilmachungsmaßnahmen in der Ukraine hin. Die mangelnde Transparenz sowie das Fehlen effektiver Kontroll- und Verantwortlichkeitsmechanismen bei Verstößen untergraben das Vertrauen der Gesellschaft in staatliche Institutionen. Dies könnte die Bereitschaft der Bürger, ihrer verfassungsmäßigen Pflicht zur Landesverteidigung nachzukommen, weiter schwächen. Zu den beschriebenen Problemen zählen illegale gewaltsame Festnahmen, die Missachtung von Freistellungsgründen und die Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit. Die Effektivität der Mechanismen zur Rechenschaftspflicht der Verantwortlichen bleibt aufgrund von Korruption gering. Zudem ist die Rechtsprechung in diesem Bereich unausgewogen, da staatliche Interessen in Urteilen oft über den individuellen Rechten der Bürger stehen.
Fazit
In dieser Analyse wurde der Frage nachgegangen, ob die Ukraine ihren rechtsstaatlichen Charakter bewahren konnte, indem sie den Menschenrechten Vorrang einräumte. Die Praxis der Umsetzung der Mobilmachung sowie einschlägige Gerichtsentscheidungen weisen jedoch deutlich darauf hin, dass staatlichen Interessen Vorrang vor individuellen Rechten gewährt wird. Dies spiegelt den objektiven Bedarf an der Mobilisierung von Ressourcen für die nationale Sicherheit wider. Ein solcher Ansatz wirft jedoch weitreichende Fragen bezüglich der Grenzen zulässiger Einschränkungen verfassungsrechtlicher Rechte sowie des Risikos einer Erosion der Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine auf.