Der wirtschaftspolitische Fortschritt bleibt aus. Weder Reformen noch nachhaltiges Wachstum sind in Sicht

Von Gunter Deuber, Andreas Schwabe (beide Wien)

Zusammenfassung
Aufstrebende Länder, wie die Ukraine, sollten in Bezug auf ihren Wohlstand langfristig zu den entwickelten Ländern aufholen. Im Lichte eklatanter Strukturschwächen und einer hohen makroökonomischen Volatilität ist in der Ukraine jedoch kaum ein Aufholen erkennbar. Auch die bereits sichtbaren Negativentwicklungen lösen keine verstärkten Reformanstrengungen aus. Unter diesen Umständen wird das Wirtschaftswachstum auch in Zukunft gering ausfallen. Eine nur langsame Annäherung an das Wohlstandsniveau der EU-Länder bleibt das wahrscheinlichste Szenario.

Kaum Konvergenz in der Ukraine

Gemäß der Wirtschaftstheorie und der Empirie besitzen ärmere bzw. weniger entwickelte Volkswirtschaften (wie die Ukraine) das Potenzial schneller zu wachsen als entwickelte Ökonomien. Demzufolge müssten sog. aufholende Volkswirtschaften (»catching-up economies«) langfristig – ohne erratische bzw. krisenhafte Entwicklungen – zu entwickelten Ländern aufschließen. Oft wird von einer möglichen »natürlichen Konvergenzrate« (d. h. Verringerung der Wohlstandsdifferenz beim BIP pro Kopf zu Kaufkraftparität) von 1–2 Prozentpunkten pro Jahr gesprochen. In Zentral- und Osteuropa (CEE) hat das BIP pro Kopf in Relation zur EU-27 seit 1995 im Schnitt einen Prozentpunkt per annum aufgeholt. Die Ukraine ist aber ein gutes Beispiel dafür, dass solch eine Konvergenz kein Selbstläufer ist. Die Konvergenzrate zum EU-27-Wohlstand von 1995 bis 2011 liegt hier bei 0,3 Prozentpunkten per annum (vgl. Grafik 1 und 2). Sollte die Ukraine weiter so langsam aufholen wäre bis 2040 maximal ein Wohlstand von 50 % bis 60 % der EU erreichbar (derzeit 20 %).

Die geringe Konvergenz der Ukraine ist strukturellen Schwächen sowie einer extremen makroökonomischen Volatilität, die insbesondere auch für die Jahre 2008 und 2009 kennzeichnend war, geschuldet. Der letzte Einbruch der Wirtschaft ist ein Extrembeispiel eines sog. Boom-Bust-Zyklus. Zuerst gab es eine Boomphase mit einer extremen Konsum- und Investitionsbereitschaft sowie hohen Kapitalzuflüssen. In der folgenden Bust-Periode hat sich diese Entwicklung dann umgekehrt. Für die Ukraine war keine externe Finanzierung mehr herzustellen, der Internationale Währungsfonds (IWF) musste einspringen. Viele Investitionen und Finanzierungen waren nicht nachhaltig. Angesichts dieser extremen prozyklischen Wirtschaftsentwicklung ist zu klären, ob heute in der Ukraine adäquate wirtschaftspolitische Schritte gesetzt werden, um solchen Entwicklungen antizyklisch entgegenzusteuern. Dazu sind die Kernprobleme der Prozyklikalität sowie »Lerneffekte« bzw. Reformfortschritte im Detail zu untersuchen. Zentrale Schwächen im letzten Wirtschaftszyklus der Jahre 2000 bis 2009 waren: Strukturelle Verwundbarkeiten der Volkswirtschaft, schlechte institutionelle Rahmenbedingungen, mangelnde Reformbereitschaft und eine wenig nachhaltige Wirtschaftspolitik in den Bereichen Geld und Währung, Staatsfinanzen, Bankensektor sowie eine Risikounterschätzung internationaler Investoren.

Prozyklische Abhängigkeiten und Strukturschwächen

International betrachtet ist die ukrainische Volkswirtschaft klein; der jährliche Außenhandelsumsatz mit Waren und Dienstleistungen entspricht in etwa der Höhe des Bruttoinlandsprodukts und ist damit sehr hoch. Zudem ist der Handel konzentriert – die Stahlerzeugung macht 30 % bis 40 % der Gesamtexporte aus und die Ausfuhr des verarbeitenden Gewerbes ist einseitig auf Russland ausgerichtet (vgl. Grafik 3). Der geringe Diversifikationsgrad im Exportbereich erhöht das Risiko einer volatilen und prozyklischen Wirtschaftsentwicklung (vgl. Grafik 4). Dieser Aspekt ist jedoch kurzfristig kaum wirtschaftspolitisch zu reduzieren.

Zusätzlich ist auf das schwierige institutionelle Umfeld sowie weitere strukturelle Defizite hinzuweisen. Die Ukraine prägt ein besonders für kleine und mittelständische Unternehmen schwieriges Geschäftsumfeld, eine hohe Regulierungsdichte, ein schlecht funktionierendes Justizwesen, ausufernde Korruption sowie ein Rückstand in Hinsicht auf wichtige Strukturreformen (z. B. im Bereich Energie oder staatlicher Altersvorsorge mit dem teuersten Pensionssystem weltweit). All dies spiegelt sich im schlechten Abschneiden der Ukraine in Vergleichsstudien wider. Beispiele dafür sind der 145. Rang aus 183 Ländern in der »Doing Business« Studie der Weltbank (2011), der Punktestand von 2,4 auf einer Skala von 0 bis 10 im «Index der Korruptionswahrnehmung« (2010) von Transparency International oder der 89. Rang aus 139 Ländern im Global Competitiveness Report (2010–2011) des World Economic Forum. Trotz eklatanter Strukturschwächen schiebt die Politikelite unpopuläre, langfristig sinnvolle Maßnahmen aber so lange wie möglich auf und übt sich in populistischen Taktiken. Gleichzeitig ist die politisch gut vernetzte (großindustrielle) Wirtschaftselite kaum an der Überwindung der strukturellen Schwächen interessiert, da diese etablierten »Player« von der Beibehaltung des Status quo profitieren. Reforminitiativen gehen nur von externen Akteuren, wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), aus. Da in den Bereichen der Geld- und Währungspolitik, der Fiskalpolitik und im Bankensektor kurz- bis mittelfristige Gestaltungsspielräume bestehen, wird im Folgenden auch analysiert, inwiefern Lerneffekte und Reformen erkennbar sind.

Suboptimale Geld- und Währungspolitik

Die Geldpolitik wird in der Ukraine nicht durch einen Leitzins, sondern durch Einflussnahme auf den Wechselkurs durch die Nationalbank (NBU) umgesetzt. Im Anschluss an die Hrywnja-Abwertung im Zuge der Russlandkrise 1998–1999 setzt die Ukraine auf eine enge Kursbindung der Hrywnja (UAH) an den US-Dollar (USD). Das Wechselkursregime ist als Quasi-Peg zu charakterisieren. Der UAH/USD-Kurs wird dabei konstant gehalten; im Unterschied zu einem Currency Board aber ohne institutionelle Fixierung. Es steht der NBU frei, jederzeit auf einen anderen (Fix-)Kurs zu wechseln. Ziele des Quasi-Pegs waren die Stabilisierung der Inflationserwartungen sowie die Konservierung einer unterbewerteten Hrywnja zur Stärkung der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit. In stahlkonjunkturell guten Jahren mit stark expandierendem Export stand die Hrywnja hierbei unter Aufwertungsdruck. Daher ließ die NBU von 2000 bis Mitte 2008 eine schrittweise begrenzte Aufwertung von 10 % zum US-Dollar zu (vgl. Grafik 5).

Die Ziele des Quasi-Pegs wurden nur partiell erreicht. Die Inflation in der Ukraine konnte nicht nachhaltig stabilisiert werden. Die hohe und stark schwankende Inflation ist nicht nur dem hohen Lebensmittelpreisanteil (60 % in der Ukraine vs. 30 % bis 40 % in CEE-Ländern wie Tschechien oder Polen) in der Inflationsberechnung geschuldet. Die beständigen Devisenmarktinterventionen ermöglichten nicht nur den Aufbau von substantiellen Währungsreserven, sie induzierten auch eine starke Ausweitung der Zentralbankgeldmenge, was zur Inflationsdynamik beitrug. Das zweite Ziel, die Konservierung der UAH-Unterbewertung, wurde eher erreicht. Die hohe Inflation trieb zwar trotz nominaler Wechselkursstabilität die heimischen Kosten in die Höhe, was einer realen Aufwertung der Hrywnja zum US-Dollar gleichkam (vgl. Grafik 6). In Relation zu den Währungsräumen der wichtigen Handelspartner (Eurozone und Russland) half jedoch der Zufall. Der Euro wertete in der letzten Dekade zum USD stark auf, was die höhere Inflation der Ukraine gegenüber den Eurozonen-Handelspartnern ausglich. Ähnliches gilt für den russischen Rubel, der stärker als die Hrywnja zum US-Dollar aufwertete. So hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Ukraine zum wichtigsten Handelspartner sogar erhöht, d. h. der Rubel hat zur Hrywnja real abgewertet.

Das Quasi-Peg hat auch eindeutige Nachteile. Die (vermeintliche) Hrywnja-Stabilität unterstützte die Schuldenaufnahme im Ausland und förderte das Fremdwährungskreditangebot an Privathaushalte bzw. die Nachfrage nach Fremdwährungskrediten von Haushalten. Zudem wurde das Quasi-Peg zum Risikofaktor, als sich die außenwirtschaftlichen Bedingungen mit dem Stahlpreiseinbruch 2008 verschlechterten und der Zugang zu Auslandskapital abrupt wegbrach. Auch umfangreiche Hrywnja-Stützungen am Devisenmarkt konnten die Panik und Spekulationen nicht eindämmen. Letztendlich rutsche die Hrywnja von Mitte September 2008 bis zum Jahresende 2009 ungeordnet von 5 UAH/USD auf 8 UAH/USD ab (Wertverlust 40 % zum USD). Dies war äußerst schmerzhaft für die Fremdwährungskreditnehmer (zum Höhepunkt 2008/2009 waren etwa 60 % aller Kredite in der Ukraine in Fremdwährung).

Obwohl der Fixkurs kritisch zu sehen ist, wiederholt sich die Währungspolitik nach der Krise: Seit 2009 hält die NBU die Hrywnja stabil bei 8 UAH/USD. Damit wirkt der Kurs wieder als Katalysator auf den ohnehin prozyklischen Wirtschaftsverlauf (v. a. getrieben durch die Stahlexportabhängigkeit) und nährt die Geringschätzung von Währungsrisiken. Anschließend werden kleinste Kursänderungen argwöhnisch verfolgt und lösen massive Fluchtbewegungen aus der Hrywnja aus. Starke Sprünge der Außenhandelspreise und Spekulation können den Hrywnja-Festkurs jederzeit bedrohen. Das Quasi-Peg-Arrangement vergrößert die Risiken in einer Wirtschaftskrise. Wird es erfolgreich verteidigt, so wäre die ukrainische Währung in einer krisenhaften Situation wahrscheinlich überbewertet. Das würde die Korrektur außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte und einen nachfolgenden Aufschwung erschweren. Wird der Quasi-Peg in einer solchen Situation hingegen aufgegeben, so ginge dies mit einem drastischen Kursrutsch einher. Auf eine überschießende Abwertung über ein volkswirtschaftlich zu rechtfertigendes Niveau hinaus kann dann sogar eine Abwertungs-Inflations-Spirale folgen.

Ein flexibler Wechselkurs würde hingegen stärker antizyklisch wirken. Eine Flexibilisierung des Hrywnja-Währungsregimes könnte allerdings zu Perioden mit anhaltender nominaler Aufwertung führen. Exportunternehmen wären gezwungen, durch Produktivitätssteigerungen und maßvolle Lohnabschlüsse gegenzusteuern, um die internationale preisliche Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Solch ein Umfeld – soweit von relevanten politischen und wirtschaftlichen Akteuren internalisiert – kann für eine Volkswirtschaft unter Modernisierungsdruck wie die Ukraine förderlich sein. Die Volatilität einer frei schwankenden Hrywnja könnte indes beträchtlich sein. Daher sollte eine Währungsliberalisierung mit der Fortentwicklung von Kurssicherungsinstrumenten einhergehen. Zur Glättung großer Schwankungen könnte auch ein begrenztes Eingreifen der NBU in Form eines »managed float« vorteilhaft sein. Russland praktiziert derzeit solch ein System. Die Rubelpolitik orientiert sich nicht nur an einer Währung, sondern an einem (fast) gleichgewichteten Währungskorb aus US-Dollar und Euro. Das fängt Bewegungen zwischen diesen Währungen auf. Zudem lässt die Russische Zentralbank Rubelschwankungen in einem gewissen Rahmen zu, greift aber bei heftigen Bewegungen mit Interventionen ein.

Risikofaktor prozyklische Fiskalpolitik

Fiskalpolitisch glänzte die Ukraine in den Jahren 2000 bis 2008 mit vordergründig geringen Defiziten und Staatsschulden. Das erweckte den Eindruck einer restriktiven Fiskalpolitik. Diese Periode war aber von hohen jährlichen Einnahmen- und Ausgabensteigerungen von 13 % bis 14 % (inflationsbereinigt) geprägt. Durch Exportgewinne und eine kräftige Konjunktur generierte Mehreinnahmen wurden damit sofort wieder ausgegeben. De facto war die Fiskalpolitik also extrem prozyklisch bzw. strukturell unsolide. Auf die Akkumulation fiskalischer Überschüsse (wie in Russland oder Bulgarien) wurde trotz immenser Zuwächse auf der Einnahmenseite verzichtet. Aufgrund des Verlustes des internationalen Kapitalzugangs ab 2008 konnte die Ukraine dann ihr rasch steigendes Budgetdefizit im Konjunkturabschwung nur mit IWF-Hilfe decken.

Während das erste IWF-Programm (November 2008) auf die Stabilisierung der Zahlungsbilanz und der Gesamtwirtschaft abzielte, legte das zweite Abkommen (Juli 2010) den Schwerpunkt richtigerweise auf die Konsolidierung der Staatsfinanzen. Die Ergebnisse sind gemischt. Das Budgetdefizit sank von 9 % des BIP (2009) auf 7,5 % (2010), angepeilt waren aber 6,5 %. In diesem Jahr könnte sich das Spiel wiederholen: Statt der geplanten 3,5 % erwarten wir ein Defizit von mindestens 4 % des BIP, getrieben vor allem von hohen Verlusten des staatlichen Energiekonzerns Naftohas von erwartungsgemäß rund 1,5 % des BIP. Positiv hervorzuheben ist dennoch die Ausgabenpolitik der Zentralregierung im ersten Halbjahr 2011. Während die Einnahmen nominal zum Vorjahr um 25 % zulegten, stiegen die Ausgaben nur um 8 %. Zieht man die Inflation (ca. 10 % ab), waren die Ausgaben real sogar leicht rückläufig (vgl. Grafik 7). Angesichts der aktuellen Defizithöhe sind aber in nächster Zeit mittelfristig notwendige Budgetüberschüsse nicht erreichbar. Zudem bleibt fraglich, ob in der Ukraine der politische Wille zu einer restriktiven, akzentuiert anti-zyklischen Fiskalpolitik vorhanden ist. Der IWF hat gerade seine Prüfungsmission zur Wiederaufnahme des aktuellen Programms mit der Ukraine (geplant vom 29. August bis 9. September) auf Ende Oktober verschoben, da er zu wenige Reformfortschritte sieht (v. a. beim Pensionssystem und den Energietarifen). Damit bleibt die Auszahlung von IWF-Geldern mindestens bis Mitte November unwahrscheinlich und ohne fiskalische Puffer wird die Ukraine angesichts ihrer zyklischen Außenhandelsabhängigkeit verwundbar bleiben.

Zu viel Optimismus im Bankensektor

Im Bankensektor erlebte die Ukraine einen extremen Boom. In Lokalwährung legten die Kredite von 2005 bis 2008 jedes Jahr um etwa 70 % zu, in Euro gerechnet zwischen 20 % und 50 %. Das Kreditvolumen stieg von 32 % des BIP (2005) auf fast 80 % (2009). Damit erlebte die Ukraine einen extremen Anstieg der Finanzintermediation (d. h. Kredite in Relation zum BIP). Sie lag sogar über dem der Eurozonen-Länder mit einer problematischen Bankensektorexpansion. In der Ukraine stieg die Finanzintermediation von 2005 bis 2009 um etwa 50 Prozentpunkte an (vgl. Tabelle 1 und Grafik 8), in Irland um 34 Prozentpunkte und in Spanien um 25 Prozentpunkte. Letztere rasche Anstiege sind sehr problematisch, da sie auf einem deutlich höheren Niveau der Finanzintermediation erfolgten. Allerdings zeigt die Erfahrung der Ukraine, dass ein rascher Anstieg der Finanzintermediation auch von einem niedrigem Niveau aus Stabilitätsrisiken birgt. Die Haushaltskredite in Relation zur Wirtschaftskraft erreichten etwa in kurzer Zeit einen höheren Wert als in der Eurozone. Zudem erreichte die Relation der Kredite zu Einlagen bei ukrainischen Banken mit 219 % nicht nachhaltig refinanzierbare Höhen. Des Weiteren hat das rigide Wechselkursregime der Vorkrisenzeit die externe Finanzierung der Kreditvergabe über grenzüberschreitende Finanzierungen sowie die Fremdwährungskreditvergabe begünstigt. Die weitflächige Ausreichung von Hartwährungskrediten an Haushalte ohne konstante Hartwährungseinkünfte ist ein gesamtwirtschaftlicher Risikofaktor. Infolge der wenig nachhaltigen Bankensektorexpansion stiegen auch die notleidenden Kredite in der Ukraine mit 30 % bis 40 % auf extreme Höhen an (etwa so hoch wie in anderen Emerging Markets Krisen). In den Jahren 2009 und 2010 war die Profitabilität des Bankensektors deutlich negativ, d. h. der Bankensektor machte insgesamt Verluste. Im Bankensektor hat die Ukraine deutlich schlechter abgeschnitten als andere CEE-Länder.

Derzeit ist das Kreditwachstum in der Ukraine mit 5,6 % (bis Juni 2011), nach einem Rückgang im Jahr 2009 (-2,1 %) und einem leichten Anstieg 2010 (+0,8 %) gebremst. Zudem steigen die Depositen, was den Bankensektor solider macht. Aktuell liegt die Kennzahl Kredite zu Einlagen bei 167 % (219 % in 2008). Damit liegt dieser Indikator noch immer deutlich über der 100 %-Marke. Dies bedeutet, dass die ausstehenden Kredite des ukrainischen Bankensektors nicht vollständig durch inländische Einlagen gedeckt sind und der Sektor auf die fortgesetzte Bereitstellung ausländischen Kapitals angewiesen ist. Der Anteil der Fremdwährungskredite am gesamten Kreditportfolio ist rückläufig (derzeit 44 % vs. fast 60 % im Jahr 2008). Zudem ist die Finanzintermediation angesichts der schwachen Kreditvergabe im Jahr 2010 zurückgegangen. Die Kredite in Relation zum BIP sanken von 77 % auf 66 %. Es könnte sein, dass die kreditlose Wirtschaftserholung einige Zeit anhält und die Relation Kredite zu Einlagen auch noch niedrigere Werte erreichen wird. Vor allem westliche Banken, die zuvor den Boom nährten, sind derzeit sehr vorsichtig bei der Kreditvergabe (gerade auch in Fremdwährung). Einige Banken in lokaler oder russischer Eigentümerschaft bieten aber schon wieder aggressiv Kredite an. Diese Akteure verfolgen nicht nur kommerzielle Ziele. Derzeit ist es recht einfach in der Ukraine Marktanteile im Bankensektor zu kaufen. Langfristig ist – wie das Exempel Ukraine zeigt – eine Kreditexpansion deutlich über das volkswirtschaftliche Absorptionspotenzial hinaus aber sehr schädlich. Insofern wären jährliche Kreditwachstumsraten von über 10 % bis 15%, die nicht von korrespondierenden Depositenanstiegen von 12 % bis 15 % begleitet werden, als Zeichen einer erneut wenig nachhaltigen Bankensektorexpansion in der Ukraine anzusehen. Regulierungsmaßnahmen, die die Fremdwährungskreditvergabe sinnvoll begrenzen (hier ist Polen ein gutes Beispiel für adäquate Qualitätsstandards) oder das Kredit- und Depositenwachstum in den skizzierten Bandbreiten halten – wie von der NBU derzeit angedacht –, erscheinen sinnvoll.

Weiterhin hohe Abhängigkeit von »hohem Risikoappetit«

In der Vergangenheit profitierte die Ukraine von einer geringen Risikopreisung am internationalen Kapitalmarkt. Anleihen konnten zu relativ niedrigen Zinssätzen am Markt platziert, Kredite relativ preisgünstig aufgenommen werden. Diese Risikopreisung war jedoch ein zweischneidiges Schwert. Viel Kapital ist zu geringen Risikoprämien ins Land geflossen. Weltweit gesehen lag der Anteil der Ukraine an internationalen Anleiheemissionen konstant über dem Wirtschaftskraftanteil unter den Emerging Markets. Außer in den Krisenjahren 2008 und 2009 lag der Anteil der Ukraine an internationalen Anleiheemissionen global in den letzten Jahren immer zwischen 1 % und 3 %; der BIP-Anteil der Ukraine unter den Emerging Markets weltweit schwankte zwischen 0,3 % und 0,9 %. Insgesamt hat die Ukraine vor der Krise vor allem auf Schulden erzeugende Kapitalzuflüsse (Fremdkapital über internationale Anleihen und Kredite) gesetzt. Bei internationalen Aktienemissionen war die Ukraine unterrepräsentiert im Vergleich zu anderen aufstrebenden Ländern. Die geringe Bereitschaft, sich nur mit nicht bzw. beschränkt haftendem Fremdkapital in der Ukraine zu engagieren – nicht mit haftendem Eigenkapital –, zeugt nicht von einem nachhaltigen Investorenvertrauen. Und als sich in der letzten Wirtschaftskrise Risiken abzeichneten, haben viele Investoren ihr zu kaum risikoadäquaten Preisen eingekauftes Ukraine-Engagement rasch zurückgefahren.

Bezüglich der aktuellen Risikopreisung und internationalen Kapitalmarktaktivität ergibt sich ein differenziertes Bild. Im Vergleich zu 2008 und 2009 sind die Kapitalmarktrisikoprämien für die Ukraine merklich zurückgekommen (Grafik 9). Sie liegen im Gegensatz zur Vergangenheit aber noch über denen anderer Emerging Markets. Allerdings strömt wieder viel Kapital ins Land. Im Rahmen von elf Transaktionen wurden 2011 bereits 6,2 Milliarden US-Dollar an internationalen Anleihen aus der Ukraine platziert. Das entspricht 8 % bis 9 % des Gesamtmarktes in der EEMEA-Region (Emerging Europe, Mid-East und Africa) bzw. 3 % der globalen Anleihenplatzierungen der Emerging Markets (Grafik 10). Damit liegt die Ukraine bei den platzierten Volumina fast wieder auf Vorkrisenniveau. In Bezug auf den Marktanteil in der Gesamtregion EEMEA und global gesehen hat die Ukraine das Vorkrisenniveau sogar wieder übertroffen. Es fließt also wieder viel Auslandskapital zu; derzeit aber (noch) mit relativ realistischem Risikobewusstsein. Allerdings bleibt die Ukraine damit äußerst abhängig vom internationalen Kapitalmarktumfeld und konstantem Investorenvertrauen. Beides kann sich jedoch rasch ändern: die globalen Finanzmärkte durch die Schuldenkrisen in globalen Schlüsselländern und das Investorenvertrauen in die Ukraine selbst durch das schwierige heimische politische Umfeld. Sinnvoll erscheinen insofern vorausschauende Maßnahmen auf Mikro- und/oder Makroebene, welche die externe Verschuldung einzelner Akteure des Landes auf ein tragfähiges Niveau begrenzen.

Fazit

Die Stahlabhängigkeit der Ukraine, mit ihrer inhärenten Prozyklikalität, lässt sich kurzfristig kaum reduzieren. Aber ein adäquateres antizyklisches Management in den skizzierten wirtschaftspolitischen Handlungsfeldern könnte das Risiko erneuter Boom-Bust-Zyklen mindern bzw. ein nachhaltigeres Wachstum liefern. Allerdings sind in der Ukraine derzeit kaum tiefgreifende wirtschaftspolitische Reformen erkennbar. In einigen Bereichen gibt es sogar fast ein Zurück zu Vorkrisenpraktiken. Reforminitiativen gehen nur von externen Akteuren aus. Wie auch in der Krise sperrt sich vor allem die Politik – im Gegensatz zu anderen CEE-Ländern – gegen Reformen. Somit erscheint ein weiterhin niedriger Wachstums- bzw. Konvergenzpfad – über die Wirtschaftszyklen hinweg – als wahrscheinlichstes Szenario.

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