Einleitung
Die Situation spitzte sich Anfang September zu. Im vierten Quartal 2011 muss die Ukraine laut Vertrag das russische Gas zu einem in der Geschichte der ukrainisch-russischen Gasbeziehungen bisher unerreicht hohen Preis von 388 US-Dollar pro 1000 m3 kaufen. Der Preisnachlass, den die Ukraine infolge der Unterzeichnung der Charkiwer Verträge von 2010 (Gas-Flotten-Vertrag) erhalten hat, ist hier bereits eingerechnet (100 US-Dollar Rabatt auf 1000 m3). Gleichzeitig darf die Ukraine die im Vertrag festgelegte abzunehmende Gasmenge ohne Zustimmung Russlands nicht reduzieren. Sollte sie dies dennoch tun, drohen ihr Geldbußen von bis zu 300 % des Gaspreises für jeden nicht abgenommenen Kubikmeter. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 lag der durchschnittliche Preis für russisches Gas bei 260 US-Dollar je 1000 m3.
Beide Seiten machen keine Zugeständnisse, beharren auf ihren extremen Positionen und bedienen sich einer scharfen Rhetorik. Die Medien sprechen bereits von einem möglichen neuen Gas-Konflikt zwischen Moskau und Kiew. Doch ein dritter Gas-Krieg ist unwahrscheinlich. Ein solcher Krieg würde das ohnehin schon durch die Inhaftierung Tymoschenkos beschädigte Image Janukowytschs im Westen noch weiter verschlechtern und den bereits sehr engen Handlungsspielraum in Bezug auf Russland noch weiter verringern. Eine solche Entwicklung wäre auch für Russland unvorteilhaft, denn hier finden in wenigen Monaten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Am 5. September 2011 hat der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow einen neuen Gas-Krieg gegen Russland ausgeschlossen und die Erfüllung des für die Ukraine ungünstigen Gasliefervertrags versprochen, so lange kein neues Abkommen vereinbart sei.
Bemühungen der Ukraine um Kündigung der Gasverträge vom 19. Januar 2009
Im gegenwärtigen Gasstreit mit Russland zieht die Ukraine verschiedene Optionen in Betracht. Eine von ihnen ist die gerichtliche Vertragskündigung, die momentan in zwei Versionen diskutiert wird. Ursprünglich sollte als Kündigungsgrund die Verhaftung der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko dienen. Die Logik der ukrainischen Machthaber ist in diesem Fall folgende: Die nachteiligen Verträge wurden im Jahr 2009 auf persönlichen Befehl von Tymoschenko ohne Zustimmung der Regierung unterzeichnet; dazu war die damalige Ministerpräsidentin aber nicht befugt und die Verträge sind somit ungültig. Bemerkenswert ist, dass Tymoschenko trotz vieler möglicher Anklagen am Ende doch für die Unterzeichnung der Gasverträge verurteilt werden soll. Noch Anfang des letzten Jahres waren die Regierung Tymoschenko für die Veruntreuung von 12 Mrd. US-Dollar und die ehemalige Ministerpräsidentin persönlich für den Missbrauch von 480 Mio. Euro, die die Ukraine aus dem Verkauf von Quoten für Treibhausgasemissionen erhalten hatte, angeklagt worden. Die Anklage wegen Korruption wurde dann im Mai 2010 durch eine erste Version der »Gas-Anklage« ergänzt, als das Schiedsgericht in Stockholm den ukrainischen Gaskonzern Naftohas Ukrainy dazu verpflichtete, 12,1 Mrd. m3 Gas an RosUkrEnergo (RUE, russisch-ukrainischer Gaszwischenhändler mit Sitz in der Schweiz) zurückzuzahlen. Damals wurde Tymoschenko vorgeworfen, der Ukraine mit ihrer Entscheidung über die Enteignung von RUE-Gas zugunsten von Naftohas beträchtlichen Schaden zugefügt zu haben. Allerdings wurde dieser Vorwurf dann später vernachlässigt und der Amtsmissbrauch bei der Unterzeichnung der Gasverträge mit Russland im Jahr 2009 zum Hauptanklagepunkt erhoben. Zu erwähnen ist, dass die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine das neue Strafverfahren gegen Tymoschenko kurz vor dem Besuch von Wladimir Putin in Kiew im April 2011 eröffnete.
Was auch immer der Grund dafür gewesen sein mag – der Westen hat auf die Festnahme Tymoschenkos im August 2011 sehr scharf reagiert und diese als politische Verfolgung der Oppositionsführerin verurteilt. In diesem Fall war Moskau mit dem Westen einer Meinung: Das russische Außenministerium forderte einen fairen Prozess gegen Tymoschenko und unterstrich dabei, dass es keine Verdachtsmomente bei der Unterzeichnung der Gasverträge gäbe. Die Verhaftung Tymoschenkos führte dementsprechend zur internationalen Isolation Janukowytschs und warf einen dunklen Schatten auf die anstehende Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit der EU. Die Regierung zögert deshalb bisher mit dem Verhängen eines endgültigen Urteils gegen Tymoschenko, obwohl der ehemalige Erste Stellvertretende Vorsitzende von Naftohas Ukrainy, Ihor Didenko, bereits Anfang September 2011 im Rahmen der ersten »Gas-Anklage« verurteilt wurde. Für die Enteignung des RUE gehörenden Gases im Frühjahr 2009 erhielt er drei Jahre Haft auf Bewährung. Im Endeffekt wurde also die Idee der Kündigung der Gasverträge durch die Verhaftung Tymoschenkos zumindest vorübergehend aufgegeben.
Stattdessen hat sich die ukrainische Regierung schnell eine neue Version der Vertragskündigung ausgedacht. Anfang September 2011 kündigte Mykola Asarow die Reorganisation von Naftohas Ukrainy mit anschließender Liquidierung an. Nach der Logik der ukrainischen Politiker verliert der Gasvertrag mit Gasprom seine Gültigkeit, wenn der Vertragspartner Naftohas Ukrainy als Unternehmen nicht mehr existiert. Genau diese Aussage Asarows führte zur aktuellen Zuspitzung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Gasprom vertrat den Standpunkt: Eine Reorganisation von Naftohas ist nur in Form einer Fusion mit Gasprom möglich, wobei die ukrainische Seite laut Vertrag dazu verpflichtet ist, die Nachfolge von Naftohas im Falle einer Reorganisation, sicherzustellen. Die Chancen, vor dem Stockholmer Schiedsgericht eine Klage gegen Gasprom zu gewinnen, sind somit sehr gering.
Die Frage der Reorganisation von Naftohas Ukrainy
Die Umstrukturierung des vertikal integrierten Unternehmens Naftohas Ukrainy ist eine der internationalen Verpflichtungen der Ukraine im Gasbereich. In der sog. Brüsseler Erklärung vom 23. März 2009 hat sich die Ukraine bereit erklärt, die Unabhängigkeit des Übertragungsnetzbetreibers zu gewährleisten. Darüber hinaus ist sie nach dem Beitritt zum Vertrag zur Gründung der Energiegemeinschaft im Dezember 2009 (vollständiges Mitglied ist die Ukraine allerdings erst seit September 2010) dazu verpflichtet, den acquis communautaire der EU im Energiebereich in vollem Umfang umzusetzen. Dies schließt das sog. dritte Energiepaket mit ein, das die vollständige eigentumsrechtliche Entflechtung der Übertragungs- und Verteilungsnetze beabsichtigt. Die Reorganisation von Naftohas Ukrainy ist auch in dem im Juli 2010 verabschiedeten Gesetz »Über die Grundlagen des Funktionierens des Binnengasmarkts in der Ukraine« vorgesehen.
Die ukrainischen Behörden haben allerdings beschlossen, die Reorganisation des Unternehmens nicht mit der Entflechtung der Übertragungs- oder Verteilungsfunktion, sondern mit der Entflechtung des Gasförderbereichs zu beginnen. Geplant ist die Anziehung von Investitionen in Höhe von 5 bis 10 Mrd. US-Dollar durch die Gründung eines unabhängigen Unternehmens zur Gasförderung mit einem Börsengang in den Jahren 2012/2013 anstelle des heutigen Naftohas-Tochterunternehmens Ukrgasdobytscha. Die politische Führung jedoch will die Mehrheitsbeteiligung des neugegründeten Unternehmens in Staatseigentum behalten.
Mit solch einem Schritt verfolgen die ukrainischen Machthaber mehrere Ziele. Erstens soll die Naftohas-Reorganisation die durch die Verhaftung Tymoschenkos zugespitzten Beziehungen mit dem Westen verbessern. Zweitens hofft Kiew, dass Moskau Interesse an den künftigen Förderunternehmen zeigt und der Ukraine einen neuen Gasrabatt gewährt. Wie bekannt, schlagen die Ukrainer den Russen seit dem vergangenen Jahr vor, gemeinsam Gas in der Ukraine zu gewinnen. Im Dezember 2010 haben Gasprom und Naftohas sogar ein Memorandum über die Gründung eines Joint Ventures zur Produktion von nichtkonventionellem Erdgas in der Ukraine unterzeichnet. Es wurde zwar auch die Unterzeichnung eines zweiten Memorandums über die Gründung eines Joint Ventures zur Gewinnung von Erdgas auf dem Festlandsockel des Schwarzen Meeres geplant, aufgrund der fehlenden maritimen Grenze zwischen Russland und der Ukraine ist dieses Vorhaben jedoch mittlerweile gescheitert. Drittens ist nicht ausgeschlossen, dass das neue Förderunternehmen für die Privatisierung an eine bestimmte Person vorbereitet wird. Beunruhigend ist die Aussage des odiösen Oligarchen Dmytro Firtasch, dass er den Präsidenten und die Regierung aufgefordert habe, den Naftohas-Börsengang durchzuführen, um europäische Investoren anzulocken. Als Privatisierungsschema könnte hier künftig die Geschichte von Vanco International dienen. Zur Erinnerung: Das in den USA registrierte Unternehmen Vanco International hatte den Wettbewerb um die Erschließung des Prykerchensker Erdöl- und Erdgasfeldes im Schwarzen Meer im Jahr 2006 gewonnen. Nach der Unterzeichnung des Production-Sharing-Abkommens mit der Regierung Janukowytsch im Jahr 2007 wies das Unternehmen seine Rechte und Pflichten jedoch einem dritten Unternehmen, der Vanco Prykerchenska, zu. Wie sich später herausstellte, gehörte ein Teil von Vanco Prykerchenska dem ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow.
Veränderungen auf dem ukrainischen Binnengasmarkt
Und dennoch: Für eine Restrukturierung von Naftohas müsste das Parlament zunächst Änderungen in Artikel 7 des Gesetzes »Über den Rohrleitungstransport«, das die Veräußerung von Fonds und Aktien der Nationalen Aktiengesellschaft Naftohas Ukraine und ihrer Tochterunternehmen verbietet, vornehmen. Entsprechende Vorschläge wurden zwar schon Anfang des Jahres vorbereitet, bisher jedoch nicht verabschiedet. Laut dieser Änderungen würde die Regierung mit Vollmachten ausgestattet, die es ihr erlaubten, eine Reihe von Unternehmen zu bestimmen, die unter das Veräußerungsverbot fallen. Wenn es dazu kommt, könnten die Reaktionen in der Ukraine ziemlich scharf ausfallen, denn über viele Jahre hinweg war das Verbot der Privatisierung des Gastransportsystems und somit auch des Unternehmens Naftohas der wichtigste Trumpf in den Händen der ukrainischen Opposition.
Schwerwiegende Veränderungen warten auch auf den Bereich der Gasförderung. In der Ukraine herrschte bis vor Kurzem ein Verbot für den Export von Gas aus der Ukraine. Gleichzeitig war es den gasfördernden Unternehmen verboten, ihr Gas für eigene Zwecke zu nutzen, denn die gesamte Fördermenge (ca. 20 Mrd. m3 in der Ukraine insgesamt) sollte der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Im Juni 2011 verabschiedete das Parlament Änderungen an dem Gesetz »Über die Grundlagen des Funktionierens des Binnengasmarkts in der Ukraine«, wodurch beide Verbote aufgehoben wurden. Die Erlaubnis des Exports von Gas aus eigener Förderung liefert der ukrainischen Führung nun ein weiteres Argument im Gasstreit mit Russland. Die Ukraine beabsichtigt, Gas aus eigener Förderung zu verkaufen, falls Gasprom auf der Abnahme der vertraglich festgelegten Gasmenge beharrt, die den ukrainischen Gasbedarf übersteigt. Das russische Gas darf die Ukraine wie bisher nicht weiterverkaufen. Eine solche Entscheidung spielt aber auch dem zwielichtigen Oligarchen und Mitinhaber von RosUkrEnergo Dmytro Firtasch in die Hände. Unter diesen neuen Bedingungen plant er seine frühere Position auf den Gasmärkten in Mittel- und Osteuropa bald zurückzugewinnen. Bis 2009 hatte RUE etwa 7 Mrd. m3 Gas pro Jahr nach Ungarn, Polen und Rumänien exportiert. Heute versucht Firtasch sich aktiv auf dem Gasfördermarkt in der Ukraine zu etablieren. So plant die ukrainische Führung, die Arbeit der Geschlossenen Aktiengesellschaft Devon, die 2009 ihre Förderlizenz für das Gasfeld Sachalin im Gebiet Charkiw verloren hatte, zu reaktivieren. Zum jetzigen Zeitpunkt befindet sich die Hälfte der Aktien dieses Unternehmens in Besitz von Firtasch und seinem Geschäftspartner Iwan Fursin, ein Drittel gehört dem polnischen Mineralöl- und Erdgasunternehmen PGNiG.
Nach dem Machtwechsel in der Ukraine im Februar 2010 kehrte Dmytro Firtasch nicht nur ins Gasgeschäft zurück, sondern konnte seine Präsenz auf dem einheimischen Gasmarkt sogar noch ausbauen. Noch unter Tymoschenko war es dem Geschäftsmann gelungen zwei Drittel der regionalen Gasversorger aufzukaufen. Bemerkenswert ist, dass das Parlament im Mai 2011 Schulden von Unternehmen des Brennstoff- und Energiebereichs gegenüber dem Staatshaushalt in Höhe von mehr als 24 Mrd. Hrywnja abschrieb, wovon 7,4 Mrd. auf die regionalen Gasversorger entfielen. Seit April 2010 führen Firtaschs Leute die Tochterunternehmen von Naftohas Ukrgaswydobuwannja (Gasförderer) und Ukrtransgas (Pipelinebetreiber). Im letzten Jahr gewann RUE beim Stockholmer Schiedsgericht gegen Naftohas und bekam auf richterlichen Beschluss 12,1 Mrd. m3 Gas zurück, die im Frühjahr 2009 von Tymoschenko beschlagnahmt worden waren. Allerdings wurde die Rückerstattung im Jahr 2011 durch den Verkauf von RUE gehörendem Gas an Gasprom vollzogen. Es wurde folgendes Zahlungsschema angewandt: Gasprom hat Naftohas das Geld für den Gastransit in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar im Voraus bezahlt. Naftohas hat dieses Geld zur Erhöhung der Ankäufe von russischem Gas benutzt, um RUE die 12,1 Mrd. m3 zurückzuerstatten. Im Frühjahr 2011 hat RUE dann aber wieder Gas an Gasprom verkauft. Nach Meinung von Experten könnte Russland bei diesem Zahlungsmodell letztendlich 1 Mrd. US-Dollar an Steuern verloren und RUE gleichzeitig 1 Mrd. US-Dollar gewonnen haben, wovon Gasprom wiederum die Hälfte als Dividende erhalten haben könnte (RUE gehört zur Hälfte Gasprom).
Des Weiteren gehören Firtasch seit 2010 vier der sechs Düngemittelunternehmen des Landes, für die Gas der wichtigste Rohstoff ist. In diesem Jahr hat Firtasch es geschafft, die Lieferung von Gas aus Zentralasien für seine Chemiefabriken auszuhandeln. Dafür hat das ukrainische Parlament im April sogar das Monopolrecht von Naftohas auf die Verzollung von importiertem Erdgas in der Ukraine aufgehoben, das Tymoschenko dem Unternehmen im März 2008 verliehen hatte. Die genauen Bedingungen dieses Deals wurden allerdings nicht bekannt und es bleibt unklar, für wie viele Jahre er gelten soll. Für das zuverlässige Funktionieren der Chemiefabriken werden zuverlässige Gaslieferungen benötigt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Firtasch an der Restrukturierung von Naftohas interessiert zeigt. In den letzten beiden Jahren hat der Oligarch die Ordnung seiner Gasgeschäfte vorangetrieben, die langsam die Form einer Holding annehmen.
Alternative Lösungen – Senkung der Gasabnahmemengen
Eine alternative Antwort auf die Preisfrage stellt für die Ukraine die Senkung der jährlichen Gasliefermengen dar, die laut Vertrag auf 52 Mrd. m3 bis 2019 festgelegt sind, mit Zustimmung Russlands aber auf 33 Mrd. m3 reduziert werden dürfen. Ein ähnliches Vorgehen gab es schon einmal im November 2009, als die Zusatzvereinbarungen zum Gasvertrag von Januar 2009 unterschrieben wurden. Damals vereinbarten die beiden Parteien eine Absenkung der Liefermenge auf 33,75 Mrd. m3 für das Jahr 2010 (von der neuen Regierung auf 36,5 Mrd. m3 erhöht) und legten den Verzicht auf Vertragsstrafen für die im Jahr 2009 nicht abgenommenen Gasmengen fest.
In diesem Jahr muss Naftohas 40 Mrd. m3 Gas von Gasprom kaufen. Insgesamt könnten die Kosten für das russische Gas im Jahr 2011 auf 12 Mrd. US-Dollar anwachsen – das wären 3 Mrd. US-Dollar mehr als 2010. Ende August 2011 forderte die Ukraine, im Jahr 2012 nur noch 27 Mrd. m3 Gas von Gasprom kaufen zu müssen. Gleichzeitig erklärte Ministerpräsident Mykola Asarow, dass die Regierung im Laufe einiger Jahre den Ankauf von russischem Gas auf ein Drittel kürzen wolle.
In der kurzfristigen Perspektive kann die Erklärung Asarows zur Absenkung der Ankäufe von russischem Gas nicht anders denn als Versuch der Druckausübung auf Russland bezeichnet werden. Auf lange Sicht könnten seine Worte jedoch Realität werden. Mit dem Machtantritt Janukowytschs begann die Ukraine wieder aktiv ausländische Investoren auf den Gasfördermarkt zu locken und nahm sich die Steigerung der Gasförderung vor. Ende 2010 erlaubte die Regierung dem ukrainischen Unternehmen Tschjornomornaftohas (Erdgasförderunternehmen der Krim, Tochter vom Naftohas) und dem russischen Mineralölkonzern Lukoil gemeinsam die Gasfelder im Schwarzen Meer zu erschließen. Des Weiteren unterschrieb Naftohas im Februar 2011 ein Memorandum über die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Unternehmen Exxon Mobil und im August einen Vertrag mit dem italienischen Konzern ENI. Im Frühjahr 2011 gab die ukrainische Führung dem skandalträchtigen Unternehmen Vanco Prykerchenska Ltd den Prykertschenskyj-Abschnitt im Schwarzen Meer zur Gasförderung zurück. Zudem wurde im September 2011 der Vertrag mit Royal Dutch Shell erneuert – das Unternehmen will bis zu 1 Mrd. US-Dollar in den ukrainischen Öl-/Gasbereich investieren. Die amerikanischen Unternehmen, die über hochmoderne Technologien zur Förderung von Schiefergas verfügen, sind aber nicht nur am Schwarzmeerschelf interessiert, sondern auch an den weiteren Perspektiven der Förderung dieses Gases. Nach Schätzung einiger Experten verfügt die Ukraine über die größten Vorkommen dieses unkonventionellen Gases in Europa. Experten betonen jedoch, dass auch in einem optimistischen Szenario Schiefergas in der Ukraine nicht vor 2019 gefördert wird und die Aufnahme der Förderung von Gas im Schwarzen Meer auch seine Zeit brauche. Demzufolge sind die ersten entscheidenden Ergebnisse der neuen Gasförderpolitik erst in fünf Jahren zu erwarten, wenn nicht noch später – schließlich herrscht in der Ukraine ein ausgesprochen schlechtes Investitionsklima.
Die Position Russlands
Die Zulassung amerikanischer Unternehmen für den ukrainischen Markt der Gasförderung ist ebenfalls eine Säule der ukrainischen Gaspolitik gegenüber Russland. Interessant ist, dass die Landesführung eine ähnliche Politik auch bei der Atomenergie verfolgt – sie versucht eine Konkurrenzsituation zwischen dem russischen Unternehmen TWEL und dem amerikanischen Unternehmen Westinghouse bei der Lieferung von Atombrennstäben in die Ukraine herzustellen.
Bisher hat die russische Seite in keine der vorgeschlagenen Varianten zur Regelung der Gasfrage eingewilligt. Ende August 2011 hat Präsident Medwedew die für Russland annehmbaren Bedingungen klar benannt: für einen Preisnachlass auf Gas muss die Ukraine entweder in die Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan eintreten oder ihr Gastransportsystem nach dem Muster von Belarus verkaufen. Eine dritte Möglichkeit zeigte Gasprom selbst auf: die Fusion des russischen mit dem ukrainischen Gasversorger.
Dem »Belarussischen Szenario« erteilte die ukrainische Führung umgehend eine Absage. Das Regime Lukaschenka hatte im August 2011 aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Zollunion und des Verkaufs der verbliebenen 50 % des staatlichen Energieversorgers Beltransgas an Gasprom einen Preisnachlass auf Gas für die Jahre 2012 bis 2014 erhalten. In Bezug auf den Beitritt zur Zollunion hatte die Ukraine zunächst ein 3+1-Modell vorgeschlagen. Heute steht die Frage des Beitritts jedoch nicht mehr zur Diskussion. Es wird argumentiert, dass die Ukraine seit 2008 Mitglied der WTO sei, die anderen Mitglieder der Zollunion dieser Organisation aber nicht angehörten. Wie dem auch sei, die Verhandlungen zwischen der Ukraine und der EU über eine Freihandelszone gefallen Moskau überhaupt nicht, weshalb hier auf unterschiedlichste Art und Weise versucht wird, die Ukraine auf die eigene Seite zu ziehen. Um den Druck zu erhöhen, haben die Länder der Zollunion sogar einen Handelskrieg mit der Ukraine begonnen – im Juni 2011 stellten sie eine Liste ukrainischer Waren zusammen, auf die Antidumping- und besondere Schutzmaßnahmen angewendet werden sollen.
Bei der Regelung des derzeitigen Konflikts wird Russland wohl kaum eine Revision der für das Land vorteilhaften Gasverträge von 2009 zulassen. Im Jahr 2010 machten allein die Gasverkäufe in die Ukraine 60 % des Umsatzes von Gasprom an den Verkäufen in die ehemalige Sowjetunion aus und entsprachen 25 % der Verkäufe nach Europa. Angesichts der Tatsache, dass eine Reihe europäischer Länder im letzten Jahr eine Revision ihrer Gasverträge und eine Senkung des Preises für russisches Gas vor Gericht erreichen konnte, wird die Bedeutung der Ukraine für Russland als Gasimporteur in diesem Jahr noch steigen. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Ukraine für Russland als Transitland für Gas sinken, denn im September 2011 hat Russland den ersten von zwei Strängen der Nord-Stream-Pipeline mit einem Volumen von 27,5 Mrd. m3 in Betrieb genommen. Zunächst muss die Röhre mit technischem Gas angefüllt werden; die erste reguläre Lieferung ist für Oktober 2011 vorgesehen.
Es muss eine Lösung für den Konflikt gefunden werden. Die in diesem und/oder im kommenden Jahr von der Ukraine gekaufte Gasmenge wird in jedem Fall nachverhandelt werden. Derzeit versucht die Ukraine eine jährliche Neufestlegung der Gasmenge im Rahmen von Regierungsvereinbarungen mit Russland zu erreichen. Es bleibt aber weiterhin unklar, womit die Ukraine Russland für sich einnehmen will.
Übersetzung aus dem Russischen: Katerina Malygina und Judith Janiszewski