Die Ukraine zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit. Politische Unzufriedenheit so groß wie nie zuvor

Von Heike Dörrenbächer (Kiew)

Die Unzufriedenheit mit der Regierung und die Politikverdrossenheit der Ukrainer sind so groß wie nie zuvor in den zwanzig Jahren der Unabhängigkeit. Dies belegt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GfK Ukraine vom Juni 2011. 67 % der ukrainischen Bevölkerung trauen ihrem Präsidenten Wiktor Janukowytsch nicht und sind der Meinung, dass das Land in die falsche Richtung abgleitet. Nur 8% der Bürger glauben, dass sich die Ukraine in die richtige Richtung bewegt (s. Grafik 1 und 2). »Die Enttäuschung der Ukrainer über die Politiker hat einen langjährigen Höhepunkt erreicht«, kommentiert Hlib Vischlynskyj, der stellvertretende Direktor der GfK Ukraine.

Eine Umfrage des renommierten Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zeigt, dass die GfK mit dieser Einschätzung nicht allein dasteht. Danach waren im Juni 2011 gerade noch 11 % der Ukrainer mit der Situation im Land zufrieden, während es im Juni 2010 noch 38 % gewesen waren. Die Zahl der mit der Situation Unzufriedenen hat erheblich zugenommen: von 35 % im Juni 2010 auf 63 % im Juni 2011! (s. Grafik 3)

Wie auch schon in früheren Meinungsumfragen deutlich wurde, nimmt die Zahl der politisch Gleichgültigen, der politisch Unentschlossenen und derjenigen, die – nach der Besonderheit des ukrainischen Wahlsystems – »gegen alle« stimmen würden, kontinuierlich zu. Wenn im Juni Parlamentswahlen stattgefunden hätten, so die GfK, dann hätten 16 % der Bevölkerung gar nicht teilgenommen, 22 % nicht gewusst, welcher Partei sie ihre Stimme geben sollen, und 24% hätten »gegen alle« gestimmt (s. Grafik 4).

Auch die Antwort auf die Frage nach dem Wahlverhalten bei Präsidentschaftswahlen sprechen für sich: Nach der GfK-Umfrage hätten im Juni 2011 26 % der Ukrainer nicht an den Präsidentschaftswahlen teilgenommen, 22 % hätten »gegen alle« gestimmt und 14 % nicht gewusst, für welchen Präsidentschaftskandidaten sie stimmen sollen (s. Grafik 5).

Insbesondere bei den Anhängern der Partei der Regionen im Süden und Osten hat sich die Zahl derer, die unzufrieden sind, fast verdreifacht. Dort liegen die Hochburgen der Anhänger der Partei der Regionen. Im Westen der Ukraine war die Partei ohnehin nie populär.

Gründe für die Unzufriedenheit

Die Gründe für die zunehmende Unzufriedenheit liegen vor allem in den sozialen Einschnitten, die die Ukraine durchführen muss: Heraufsetzung des Rentenalters, Erhöhung der Preise für die kommunalen Dienstleistungen und Erhöhung der Gas- und Strompreise; diese wurden bisher von der Regierung stark subventioniert, ihre Erhöhung ist aber die Vorbedingung für die Auszahlung der nächsten beiden IWF-Tranchen an die Ukraine in Höhe von jeweils 1,6 Mrd. US-Dollar. Hinzu kommen sinkende Reallöhne und die Gefahr einer sinkenden Außennachfrage im zweiten Halbjahr.

Nach zwanzig Jahren Unabhängigkeit muss man feststellen, dass bei den wirtschaftlichen Reformen viel versäumt wurde. Es gibt nach wie vor keinen gesunden Mittelstand in Form von kleinen und mittleren Unternehmen, die Korruption wächst, ausländische Direktinvestitionen sind in der Ukraine im Vergleich mit anderen Ländern wie z. B. Tschechien und Polen niedrig.

Die Deutsche Beratergruppe in der Ukraine konstatiert, dass der Ukraine hinsichtlich der Verbesserung des Investitionsklimas und der gezielten Investitionsförderung noch ein weiter Weg bevorsteht. Im Mai 2010 wurde ein umfassendes Reformprogramm des Präsidenten für die Jahre 2011 bis 2014 verabschiedet. Die wichtigsten Bestandteile des Reformprogramms sind die Steuerreform, die Stabilisierung des Staatshaushaltes und die Deregulierung, die unternehmerische Tätigkeit fördern soll. Auch wenn die Beratergruppe bei der Beurteilung der Steuerreform und den Anstrengungen hinsichtlich der Deregulierung zu positiven Ergebnissen kommt, beschweren sich viele Unternehmer über die Umsetzung der Reformen und vor allem die Willkür der Steuerbehörden und die grassierende Korruption.

Prozess gegen Tymoschenko

Der politisch motivierte Prozess gegen Julija Tymoschenko und ihre Verhaftung, die viele Länder nicht nachvollziehen können, haben das Land international in Misskredit gebracht. Auch Staatsminister Hoyer äußerte sich besorgt über die Verhaftung der ehemaligen Ministerpräsidentin und erklärte, dass der Verdacht einer politisch motivierten Justiz eine erhebliche Hürde für die Annäherung der Ukraine an die EU bedeute. Hoyer plädierte für die Gewährleistung von rechtsstaatlichen Verfahren und für ein unabhängiges und überparteiliches Rechtssystem.

Daran fehlt es in der Ukraine – nicht erst seit der Verhaftung von Tymoschenko. Allerdings fragen sich heute viele: Wenn mit der ehemaligen Ministerpräsidentin schon völlig willkürlich umgesprungen wird, wie ergeht es dann erst denjenigen, die keine internationale Aufmerksamkeit genießen?

Der Slogan »Heute Julija – morgen Du« hat noch nicht zu einer politischen Massenmobilisierung geführt. Auf der Kiewer Hauptstraße, dem Chreschtschatyk, auf dem auch das Gerichtsgebäude liegt, in dem der Prozess gegen Julija Tymoschenko verhandelt wird, spielt sich derzeit ein absurdes Sommertheater ab. Bezahlte Demonstranten der Partei der Regionen stehen Parteianhängern von Tymoschenko vor der Einfahrt in den Gerichtssaal gegenüber und versuchen, sich durch laute Musik und Geschrei gegenseitig zu übertönen.

Die vorübereilenden Passanten sehen eher genervt aus und nehmen kaum Notiz vom Geschehen, das sich seit dem 5. August an jedem Prozesstag abspielt.

Eine positive Wirkung hatte die Verhaftung von Julija Tymoschenko: Die Oppositionsparteien haben ein »Komitee gegen Diktatur« gegründet und rufen »alle, denen die ukrainische Unabhängigkeit und Demokratie teuer ist«, dazu auf, sich dem Komitee anzuschließen.

Beziehungen zur EU

Im Lande selbst, aber auch im Ausland wird heftig darüber diskutiert, wie man auf die jüngsten politischen Ereignisse in der Ukraine reagieren sollte. Es gibt Anhänger der Sichtweise, dass die Ukraine immer enger an die EU herangeführt wird und sich automatisch immer stärker an die Spielregeln der EU anpassen und halten muss, wenn sie z. B. ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU abschließt. Julija Tymoschenko hat aus dem Gefängnis heraus dafür plädiert, dass ihre Verhaftung kein Anlass sein sollte, das Abkommen nicht zu unterzeichnen, sondern sich dafür ausgesprochen, so schnell wie möglich zu Ende zu verhandeln. Dahinter mag die Sorge vor einem wachsenden Druck Russlands stehen, die Ukraine zum Beitritt in die Zollunion mit Russland, Kasachstan und Belarus zu bewegen.

Die Gegner dieser Position fragen, warum man denn ein »tiefes und umfassendes Freihandels- und Assoziierungsabkommen« abschließen soll, wenn die Ukraine gar nicht willens ist, die europäischen Standards (Demokratie, Rechtsstaat, freie und faire Wahlen) zu erfüllen. Sie insistieren darauf, dass die EU auf Werten, nicht nur auf Wirtschaftsregeln basiert. Wer im Club mitspielen möchte, muss sich an die Regeln halten. Dazu gehören freie und faire Wahlen, Rechtsstaat und unabhängige Gerichte und eine Demokratie, die nicht nur eine Farce ist. Man muss allerdings bedenken, dass es beim Abschluss des Assoziierungs- und Freihandelsabkommens nicht um den Beitritt zur Europäischen Union geht. Die Aussicht auf einen Beitritt ist bisher gerade nicht Bestandteil der Verhandlungen.

Fazit

Wer glaubt, dass wir von außen die Richtungsentscheidung der Ukraine für oder gegen eine Europäisierung des Landes beeinflussen können, erwartet zu viel. Die Ukraine muss sich selbst entscheiden, ob sie das russische Entwicklungsmodell verfolgen möchte oder ob sie im kurzfristig schwierigeren, langfristig aber hoffnungsvolleren Weg der Strukturreformen, der Demokratisierung und der Umsetzung von Rechtsstaat ihre Zukunft sieht.

Die Ukraine steht innen-, wirtschafts- und außenpolitisch gewaltig unter Druck. Diesen hat Russland mit dem Angebot vom 15. August an die Ukraine, die Gasbeziehungen »nach dem belarussischen Modell« zu gestalten, noch erhöht. Zwar ist nicht ganz klar, zu welchem Preis genau Belarus künftig Gas beziehen wird. Das Nachbarland zahlt aber heute schon mit durchschnittlich 250 US-Dollar pro 1000 m3 deutlich weniger als die Ukraine. Die Gegenleistung dafür ist hoch: Belarus hat bereits 50 % der Gasleitungen an Gasprom verkauft. Russland möchte auch die zweite Hälfte und damit die Kontrolle über Beltransgas erlangen. Bisher widerstand die ukrainische Regierung der Verlockung einer kurzfristigen wirtschaftlichen Erleichterung durch niedrigere Gaspreise, die Russland auch im Falle eines Beitritts zur Zollunion mit Kasachstan und Belarus verspricht. Die ukrainische Regierung weiß sehr gut, dass ein Beitritt zur Zollunion mit dem Abschluss eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der EU nicht kompatibel ist.

Vieles spricht dafür, die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen nicht abzubrechen, sondern genau das zu tun, was die EU, das Europäische Parlament und einzelne Mitgliedsstaaten bereits getan haben: Beharrlich immer wieder die europäischen Werte einfordern und klare Signale senden – so wie es anlässlich der fragwürdigen Verhaftung von Julija Tymoschenko auch geschehen ist.

Das »Komitee gegen die Diktatur« hat am 24. August zum Tag der Unabhängigkeit erstmals eine gemeinsame Aktion durchgeführt und zur Demonstration gegen die Regierung aufgerufen. Eine Demonstration durch die Stadt wurde verboten. Daraufhin hat sich die Opposition im Taras-Schewtschenko-Park versammelt, ein symbolträchtiger Ort für die ukrainische Unabhängigkeit, der in der Vergangenheit schon öfter Ausgangspunkt für Proteste war. Ca. 3.000 bis 5.000 Anhänger sind gekommen. Dies zeigt, dass es noch nicht die Zeit für Massenproteste ist. Traditionell sind Protestaktivitäten erst im Herbst zu erwarten, zumal dann auch die Auswirkungen der höheren Energiepreise zu spüren sein werden.

Ralf Dahrendorf hat auf einen Zusammenhang hingewiesen, der für die Ukraine derzeit zutreffen dürfte: »Die wohl größte Bedrohung der Freiheit im 21. Jahrhundert ist der Autoritarismus, wenn eine kleine Gruppe herrscht und ein Großteil der Bevölkerung Politik gleichgültig gegenübersteht.« Die zu Anfang ausführlich zitierten Meinungsumfragen weisen genau in diese Richtung. Ein weiteres Voranschreiten auf diesem Weg zu verhindern, ist die Aufgabe, die nach zwanzig Jahren Unabhängigkeit noch bevorsteht.

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