Am 9. Juni 2019 fanden in Kasachstan Präsidentschaftswahlen statt – um ca. ein Jahr vorgezogen, was schon fast der Normalfall ist. Vieles andere unterschied sich aber von vergangenen Wahlen: Vor allem stand erstmals nicht der Name Nursultan Nasarbajew auf der Kandidatenliste. Der Wahlgang fand ja statt, nachdem der erste und langjährige Präsident des Landes formell seinen Rücktritt erklärt hatte. Der von ihm vorgeschlagene und von den beiden Kammern des Parlaments bestätigte Nachfolger, Kasym-Dschomart Tokajew, hatte die Wahlen am 9. April 2019 angekündigt, nach seinen Worten, um »die gesellschaftlich-politische Eintracht zu wahren«, vor allem aber offensichtlich, um durch die Bevölkerung legitimiert zu werden. Im Unterschied zu den vergangenen Präsidentschaftswahlen bewarben sich neben Tokajew letztlich sechs Kandidaten, darunter mit Danija Jespajewa erstmals eine Frau. Auch das Wahlergebnis war ganz anders, als man es aus dem Kasachstan Nasarbajews gewöhnt war: Tokajew erhielt nach dem bisherigen offiziellen Endergebnis 70,96 % der Stimmen – Nasarbajew hatte bei den Wahlen der vergangenen 28 Jahre nur ein Mal unter 90 % gelegen, zuletzt (2015) soll er sogar 97,8 % der Stimmen auf sich vereinigt haben.
Vor allem aber war die Stimmung in den Großstädten, insbesondere Almaty und Astana, eine ganz andere als bei früheren Wahlkämpfen. Es gab kaum Interesse am völlig von der Regierungspartei Nur Otan und ihrem Kandidaten Tokajew dominierten, kurzen Wahlkampf. Schon seit der Ankündigung der Wahlen hatte es dort aber Protestaktionen gegeben, die in den Tagen vor der Wahl und am Wahltag kulminierten. Ihr Auslöser war aber gerade, dass sich mit dem sowieso nur formellen Wechsel an der Staatsspitze viel zu wenig geändert hat! Schon die erste Protestaktion, ein Plakat mit der Aufschrift »Vor der Wahrheit kannst Du nicht davonlaufen« am Rande des Almaty-Marathons am 21. April 2019 richtete sich gegen den von oben gemanagten Machtwechsel, bei dem wie gewohnt das Ergebnis der Wahlen schon bei Verkündigung des Wahltermins klar zu sein schien. Zwar gab es z. B. mehr Kandidaten als früher und auf den ersten Blick schien auch das politische Spektrum breiter, aber allein die Bestimmung, dass nur zugelassene Parteien und gesellschaftliche Vereinigungen überhaupt Kandidaten nominieren durften, schränkte die politische Vielfalt ein. Die kritischste Partei unter den registrierten (OSDP) hatte einen Boykott der Wahlen beschlossen, damit avancierte Amirdschan Kosanow von der Nationalpatriotischen Bewegung Ult tagdyry zum Oppositionskandidaten, was er definitiv nicht (mehr) ist. Seine 16,23 % der Stimmen sind aber das beste Ergebnis, das ein Nicht-Regierungskandidat in Kasachstan jemals erreicht hat.
Die räumliche Verteilung der Stimmen zeigt, dass Kosanow nicht (nur) die Stimmen der protestierenden städtischen Jugend, sondern viel umfassender die der Protestwähler auf sich vereint hat. In der nach wie vor von der Umbenennung erschütterten Hauptstadt erhielt er fast 20 % der abgegebenen Stimmen, noch mehr sogar im sozioökonomisch vernachlässigten Westen des Landes (fast 1/3 der Stimmen im Gebiet Mangistau). In der Stadt Almaty waren die Unzufriedenen dagegen offenbar zuhause geblieben (mit 52 % die geringste Wahlbeteiligung im ganzen Land und zugleich das landesweit niedrigste Ergebnis für Kosanow).
Tokajew erhielt dagegen mit 59,2 % ausgerechnet in Nur-Sultan das zweitschlechteste Ergebnis im ganzen Land, wobei sein Stimmenanteil in den anderen großen Städten auch im unteren Bereich lag. Die Masse der Kasachstaner hat am 9. Juni dennoch für Tokajew gestimmt, vielfach mit dem Gedanken, dass er die mit dem Namen Nasarbajew verbundene Stabilität weiter gewährleisten werde. Es bleibt abzuwarten, ob es ihm gelingt, diese Hoffnung zu erfüllen. Zurzeit ist dies noch nicht zu erkennen.
Ganz offensichtlich hat die Führung um Nasarbajew bei der Planung des Wechsels an der Staatsspitze die Stimmung in der vor allem jungen, mittelständischen Stadtbevölkerung, die bislang unpolitisch war, falsch eingeschätzt und durch ihre überzogenen Reaktionen auf die ersten Proteste sowohl inhaltlich wie zahlenmäßig erst richtig angeheizt. Hatten die ersten Protestierer noch zum Wahlboykott aufgerufen oder die Wahl als Theater bezeichnet, fordert die neu gebildete Bewegung Ojan Kasachstan jetzt ein anderes, ein parlamentarisches, System. Sogar das Innenministerium hat inzwischen zugegeben, dass bei den zwar nicht genehmigten, aber friedlichen Demonstrationen rund um den Wahltag 4.000 Menschen verhaftet wurden, darunter nach Berichten von Journalisten und Videos unbeteiligte Passanten auf dem Weg zum Wahllokal, Journalisten in Ausübung ihres Berufes oder schlicht Schaulustige.
Die Führung des Landes verstellt sich den Blick auf die Ursachen der Proteste auch durch ihre Fixierung auf Muchtar Abljasow als ihren Staatsfeind Nr. 1 und seine in Kasachstan als extremistisch verbotene Partei DWK (Demokratitscheskij Wybor Kasachstana). Der im Exil lebende Businessman versucht in der Tat seit Jahren, über die sozialen Medien Proteste in Kasachstan zu initiieren und orchestrieren, hat dies im Vorfeld der Wahlen getan (und versucht auch jetzt noch, die Proteststimmung auszunutzen). Aber abgesehen davon, dass viele Demonstranten keinerlei Sympathien für ihn hegen dürften, ist es keine Lösung, die Erklärung für die Unruhen bei einer Einzelperson im Ausland zu suchen. Im Gegenteil, wenn in der bislang ganz auf Harmonie und Stabilität bedachten Gesellschaft Kasachstans plötzlich Tausende protestieren, muss das Ursachen im Land haben, die man sich genauer anschauen und im Gespräch mit den Protestierenden ergründen sollte.
Tokajew hat in ersten Stellungnahmen sozioökonomische Probleme als Ursache der Proteste genannt und bereits Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Bevölkerung eingeleitet, politische Ursachen aber verneint und die Kritik der OSZE/ODIHR Wahlbeobachtungsmission zurückgewiesen. Zur Befriedung der politischen Situation soll im August ein Nationaler Rat für öffentliches Vertrauen zusammentreten. Es bleibt abzuwarten, ob die »jungen Wilden« einerseits auf dieses Gesprächsangebot eingehen, und andererseits, ob sie überhaupt eingeladen werden. Genauso wenig absehbar ist derzeit, wie die Elite des Landes aufgestellt ist, ob sie geschlossen hinter dem Duo Nasarbajew/Tokajew steht oder ob es erste Risse gibt.
Am wahrscheinlichsten erscheint zurzeit, dass sich wenig ändert, solange Nasarbajew als Erster Präsident im Hintergrund die Fäden zieht. Der Machtwechsel in Kasachstan ist noch nicht beendet und damit auch noch nicht unter Wahrung von Frieden und Stabilität gelungen.