Nahrungsmittelknappheit und sinkende Ernährungsstandards in Turkmenistan
Bereits vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie gab es Berichte über einen im ganzen Land herrschenden Mangel an Lebensmitteln. Insbesondere im Sommer 2019 waren vor den staatlichen Geschäften in Aschgabat und verschiedenen Provinzstädten lange Schlangen zu beobachten. In der glühenden Hitze des turkmenischen Sommers stellten die langen Wartezeiten vor den Lebensmittelgeschäften eine hohe Belastung dar. Internationale Medien, die über Turkmenistan berichten, wiesen darauf hin, dass Grundnahrungsmittel wie Eier, Mehl oder Brot in den Geschäften der vom turkmenischen Staat betriebenen Ladenkette oft nicht mehr verfügbar waren. Die Engpässe im Jahr 2019 weckten Erinnerungen an die tiefgreifende Krise im Jahr 2017, im Zuge derer das Regime ein Rationierungssystem einführte, um den Verkauf bestimmter Arten von Lebensmitteln wie Mehl, Brot, Zucker, Sonnenblumenöl, Reis und Eier zu regulieren. Zwischen diesen beiden Krisen wechselten sich gelegentliche Entspannungsphasen mit weiteren Beschränkungen des Lebensmittelhandels in den staatlichen Geschäften ab: Grundnahrungsmittel wurden zu dieser Zeit weiterhin rationiert, allerdings erlaubte die Regierung es gelegentlich, zu höheren Preisen unbegrenzte Mengen an Lebensmitteln zu erwerben.
In der Regel können die meisten der Produkte, die in den staatlichen Geschäften nicht mehr verfügbar sind, in privaten Geschäften oder auf einem der vielen Märkte des Landes erworben werden. Aber auch in diesen Fällen ist die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln stark eingeschränkt, hauptsächlich da sie für viele Menschen schlichtweg nicht erschwinglich sind. Vor dem Hintergrund einer lange anhaltenden Wirtschaftskrise und einer beispiellosen Arbeitslosenquote im Land (während die offizielle Arbeitslosenquote bei 4 % liegt gehen unabhängige Schätzungen von 60 % aus) ist es für die Mehrheit der Bürger Turkmenistans, insbesondere für diejenigen, die einer niedrigeren sozioökonomischen Schicht angehören, keine Option, außerhalb der staatlichen Geschäfte einzukaufen, da in den privaten Geschäften und auf dem Basar deutlich höhere Preise verlangt werden.
Darin offenbart sich deutlich die Zwangslage, in der sich Turkmenistans Lebensmittelversorgung befindet. Die Krise hat zwei miteinander zusammenhängende Gefahren für die Nahrungsmittelsicherheit hervorgebracht: zum einen die Knappheit an Lebensmitteln, zum anderen ihre mangelnde Bezahlbarkeit. Nach einem Bericht von Human Rights Watch zwingt der kontinuierliche Anstieg der Lebensmittelpreise turkmenische Durchschnittsfamilien dazu, zunehmend größere Anteile ihres monatlichen Lohns für Lebensmittel aufzuwenden. Es ist nicht mehr unüblich, von Menschen zu hören, die mehr als 70 Prozent ihres Monatslohns für Lebensmittel ausgeben. Die Tiefe und Komplexität dieser Krise zeigt sich darin, dass sich die Nährstoffversorgung der Bevölkerung zunehmend verschlechtert. Das hängt damit zusammen, dass turkmenische Bürger, die nicht zur Elite gehören, hinsichtlich ihrer Ernährung nur über eingeschränkte Wahlmöglichkeiten verfügen. Sie müssen sich in der Regel mit den günstigsten Optionen, die letztlich nur einen geringen Nährwert besitzen, zufriedengeben.
Dieses alles in allem düstere Szenario steht in scharfem Kontrast zur Rhetorik der Regierung, was die Nahrungsmittelsicherheit angeht: die offizielle Propaganda behauptet weiterhin, dass Turkmenistan ein Land des Überflusses inmitten eines goldenen Zeitalters (altyn asyr) sei, dass nicht nur seine Bürger ernähren könne, ohne auf Importe angewiesen zu sein, sondern auch noch eine regionale Wirtschaftsmacht mit hohen landwirtschaftlichen Exporten darstelle. Es gibt absolut keine Belege dafür, dass dieses übermäßig rosige Bild, wie es das notorisch unzuverlässige Regime in Aschgabat zeichnet, der Realität entspricht. Wenn überhaupt, dann hat sich die Covid-19-Pandemie verstärkend auf die oben beschriebenen Unsicherheitsdynamiken ausgewirkt.
Als sich die Pandemie in Zentralasien ausbreitete, entschied die turkmenische Regierung, die Grenze zum Iran hermetisch abzuriegeln. Im Zuge dieser Entscheidung verschlechterte sich die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln weiter. Seitdem gehört es zum Alltag der turkmenischen Bürger, für Hühnerfleisch, Pflanzenöl, Eier und Zucker Schlange zu stehen. In drei Provinzen (Mary, Daschogus, Balkan) ist der Zugang zu den staatlichen Geschäften momentan der lokalen Bevölkerung vorbehalten, was einen Indikator dafür darstellt, dass die landwirtschaftliche Produktion und Versorgung des Landes immer noch mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat. Turkmenistans Lebensmittelsituation weckt gegen Ende des Jahres 2020 in jeder Hinsicht Erinnerungen an die Situation der späten 1980er-Jahre, die durch den vertrauten Anblick von Sowjetbürgern geprägt waren, die bei ihren täglichen Lebensmitteleinkäufen Schlange stehen mussten.
Es ist jedoch sehr schwierig einzuschätzen, ob die anhaltende Nahrungsmittelunsicherheit zu einem schwinden Rückhalt des Regimes in der Bevölkerung führen wird. In den Staatsmedien findet sich selbstverständlich keine Spur von den Protesten angesichts der Lebensmittelsituation im Land. Internationale Medien, die in Turkmenistan arbeiten, berichteten jedoch Anfang April 2020 – nachdem die Grenze zum Iran geschlossen wurde – von einer mittelgroßen Demonstration in der Region Mary. Sie wurde erst aufgelöst, als die Demonstranten, die sich über Engpässe in den lokalen staatlichen Geschäften beschwerten, von den Behörden vor Ort kostenlose Säcke Mehl bekamen. Dieses Vorgehen zeigt die Besorgnis der Regierung, dass sich die Unzufriedenheit über die schlechte Versorgungslage in Turkmenistan ausbreiten könnte.
Noch deutlicher zu erkennen ist jedoch, dass Präsident Gurbanguly M. Berdymuchammedow und seine Gefährten keinerlei politisches Interesse hegen, Reformen des zugrundeliegenden ökonomischen Modells durchzuführen, das dafür verantwortlich ist, dass sich eine derartige Nahrungsmittelunsicherheit in Turkmenistan ausbreiten konnte. Im Folgenden soll versucht werden, dieses Modell zu beschreiben und untersucht werden, wie es sich auf die Strukturen der turkmenischen Lebensmittelproduktion auswirkt.
Nahrungsmittelunsicherheit unter den Bedingungen der Rentenökonomie
Landwirtschaft spielt in den ökonomischen Planungen der turkmenischen Regierungen eine relativ untergeordnete Rolle. Das ökonomische System Turkmenistans ist in obsessiver Weise auf die Extraktion der großen Erdgasvorkommen des Landes, die Entwicklung der damit zusammenhängenden Industrie und den Export des Erdgases ausgerichtet. Mitte der 2010er-Jahre berichtete die Weltbank, dass der Energiesektor für etwa 35 Prozent des turkmenischen BIP, 90 Prozent der Exporte, und 80 Prozent der Steuereinnahmen verantwortlich war. In den letzten Jahren wurden seitens des Regimes in Aschgabat keine politischen Bemühungen unternommen, die Abhängigkeit Turkmenistans von der Erdgasindustrie zu verringern. Gegen Ende des Jahrzehnts, als die turkmenische Wirtschaft im Ganzen erheblich schrumpfte und besonders in denjenigen Sektoren starke Rückgänge verzeichnete, die nichts mit der Energiewirtschaft zu tun haben, blieb Erdgas weiterhin der zentrale Fokus der Regierung und, am allerwichtigsten, auch der Investoren. Als die Lebensmittelkrise sich verschlimmerte, wurde der rentenökonomische Charakter der turkmenischen Wirtschaft, wo möglich, weiter vertieft.
Es gibt zwei Hauptarten, wie sich die energiezentrierte Struktur der turkmenischen Produktion auf die Nahrungsmittelsicherheit der Bevölkerung auswirkt. Zum einen hat sie einen direkten, schädlichen Einfluss auf den Landwirtschaftssektor, da die Logik der Rentenökonomie dazu führt, dass weder dringend benötigte Kapitalinvestitionen noch Gelder für Forschung und Entwicklung in die Landwirtschaft fließen. Wie oben bereits dargelegt wurde, gibt es schlichtweg keine verlässlichen, statistischen Belege für die Behauptung der Regierung, dass sie mit ihrer Strategie, Turkmenistan von Importen landwirtschaftlicher Produkte und Lebensmittel unabhängig zu machen, erfolgreich gewesen wäre. Die Regierung behauptet, dass bereits in den späten 1990er-Jahren eine autarke Lebensmittelversorgung erreicht worden wäre, was einer außergewöhnlichen politischen Trendumkehr gleichkäme, war doch Turkmenistan über den langen Zeitraum der Sowjetunion hinweg durchgehend ein Nettoimporteur von Lebensmitteln. Tatsächlich scheint es vernünftige Gründe zu geben, anzunehmen, dass die inländische Landwirtschaft nicht mehr als 40 Prozent des aktuellen Lebensmittelbedarfs des Landes decken kann. Die große Mehrzahl der landwirtschaftlichen Importe wird nach einem im September 2020 veröffentlichten Bericht von Human Rights Watch in der Islamischen Republik Iran produziert. Daran wird deutlich, wie massiv Turkmenistan seine Handelsbeziehungen, zumindest im landwirtschaftlichen Bereich, umgestellt hat: zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit stammten 86 Prozent aller von der Turkmenischen SSR importierten Güter aus anderen Sowjetrepubliken.
Die zweite Gruppe von strukturellen ökonomischen Faktoren, die im Zentrum des aktuellen Nahrungsmittelnotstandes in Turkmenistan stehen, haben mit der Krise zu tun, die das Land seit Mitte der 2010er-Jahre aufgrund schwindender Staatseinnahmen erlebt. Diese Krise wirkt sich direkt auf die Kaufkraft der turkmenischen Bürger aus. Schwankungen der Einnahmen aus dem Erdgasexport sind in ihren Auswirkungen auf die Kaufkraft für alle Bürger spürbar, ob sie in Turkmenistans einst blühendem öffentlichen Sektor arbeiten oder prekäreren, privatwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen. Regelmäßig werden Bargeldabhebungen, und damit die Menge des im Land zirkulierenden Bargelds, begrenzt. Solche pauschal verhängten Begrenzungen erschweren selbst wohlhabenderen Bürgern, die normalerweise in privaten Geschäften oder auf dem Basar einkaufen würden, den Zugang zu Lebensmitteln. Das legt nahe, dass sich bereits in den bessergestellten sozioökonomischen Schichten Turkmenistans Tendenzen zu Nahrungsmittelknappheit finden lassen, womit der sonst kausale Zusammenhang von Armut und Nahrungsmittelunsicherheit gewissermaßen aufgehoben ist.
Gleichzeitig hat die Staatseinnahmenkrise dazu geführt, dass das von Saparmurat Niyazow, Turkmenistans erstem Präsidenten nach der Unabhängigkeit, eingeführte Subventionssystem nahezu komplett abgeschafft wurde. Hierbei ist eine Entwicklung erkennbar, welche für den hier untersuchten Kontext von Bedeutung ist. Innerhalb dieses Systems wurden Grundnahrungsmittel wie Salz, Mehl oder Reis von staatlicher Seite massiv subventioniert, wodurch es durchschnittlichen Bürgern ermöglicht wurde, trotz ihres in der Regel dürftigen Lohns über die Runden zu kommen. Die Abschaffung dieses Subventionssystems und der oben beschriebene sprunghafte Anstieg der Lebensmittelpreise sind die zwei hauptsächlichen Ursachen für die in besorgniserregendem Maße ansteigende Belastung, die der Einkauf von Lebensmitteln für das monatliche Budget, und damit für den Lebensstandard durchschnittlicher turkmenischer Bürger, welche nicht zur Elite des Landes gehören, darstellt.
Konklusion: Nahrungsmittelunsicherheit und autoritärer Verfall
Das beharrliche Festhalten an einem rentenökonomischen Ansatz prägt nicht nur das Wirtschaftsleben im postsowjetischen Turkmenistan, es ist auch zu einem wesentlichen Bestandteil der Machterhaltungsstrategien von Berdymuchammedow und seinen Verbündeten geworden. Die ungehinderte Verfügungsgewalt der Eliten über die maßgeblichen Einnahmequellen trägt in ihrer Entwicklung nach wie vor im Wesentlichen kleptokratische Züge: die mangelnde Transparenz des staatlichen Haushalts und das bewusste Versagen, minimale Mechanismen der Kontrolle – einschließlich selbst rudimentärster Staatsfonds – einzuführen, zeigen, dass das Management der Einnahmen aus dem Erdgasgeschäft seitens des turkmenischen Regimes von einer umfassenden Agenda staatlicher Korruption bestimmt wird.
Der kontinuierliche Rückgang der Staatseinnahmen hat verheerende Auswirkungen auf die Möglichkeiten durchschnittlicher Bürger, sich regelmäßig mit bezahlbaren und nahrhaften Lebensmitteln zu versorgen. Trotz seiner reichen Erdgasvorkommen leidet Turkmenistan nun unter einer weitverbreiteten Lebensmittelknappheit. Dies ist ein weiterer deutlicher Indikator für das umfassende Scheitern des Regimes, das Land effektiv zu regieren. Da es aktuell keine Planungen gibt, die wirtschaftliche Struktur Turkmenistans zu diversifizieren, und die Versuche des Regimes, neue Abnehmer für ihr Erdgas zu finden, bisher keine Erfolge zeigen, wird sich die aktuelle Einnahmenkrise wohl weiter in die Länge ziehen. Es wurden keine strukturellen Maßnahmen ergriffen, um die momentane Lebensmittelkrise zu bekämpfen. Auch in der Ernährungspolitik wird die Bevölkerung Turkmenistans von Berdymuchammedovs Regime ihrem Schicksal überlassen. Die Lebensmittelknappheit ist zu einem weiteren Verfallssymptom des turkmenischen Autoritarismus geworden, einem korrupten Regime, das nicht nur systematisch die sozialen und politischen Rechte seiner Bürger verletzt, sondern zudem unfähig ist, eine basale öffentliche Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Die Belastbarkeit der turkmenischen Bürger wird damit erneut auf die Probe gestellt.
Übersetzung aus dem Englischen: Armin Wolking