Die neue »re-traditionalisierte« Verfassung der Kirgisischen Republik

Von Mahabat Sadyrbek (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung/Abteilung für »Recht & Anthropologie«, Halle)

Die neue kirgisische Verfassung wurde am 5. Mai von Präsident Sadyr Dschaparow unterzeichnet. Laut dem offiziellen Ergebnis des Referendums vom 11. April unterstützten 79,3 % der Abstimmenden die neue Konstitution. Offenbar sind häufige Verfassungsänderungen, neben gewaltsamen Machtwechseln, ein Merkmal der politischen Geschichte Kirgistans geworden. Die angeblich »auf Gesuch des Volkes« eingeleitete Verfassungsänderung war eine der ersten Amtshandlungen von Präsident Dschaparow, der nach dem jüngsten Umsturz – ausgelöst durch die umstrittene Parlamentswahl im Oktober 2020 – an die Macht gekommen ist. Nach seiner Machtübernahme ließ sich Dschaparow sein Amt mittels vorgezogener Präsidentschaftswahlen nachträglich legitimieren: Bei der Abstimmung im Januar stimmten 31 % der Wahlberechtigten für ihn ab.

Dschaparows Vorgehen zur aktuellen Verfassung löste zahlreiche Diskussionen und Kontroversen aus, nachdem Regularien des Gesetzgebungsverfahrens mehrfach verletzt wurden. Die vorgesehene Umwandlung der bisherigen parlamentarisch-präsidialen Republik hin zu einer super-präsidialen Regierungsform verleitete Kritiker:innen dazu, von einer »Khanstitution« zu sprechen. Immerhin ließ Dschaparow den neuen Entwurf für die Verfassung durch einen eigens initiierten Verfassungsrat prüfen. Insgesamt 89 Vertreter:innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, NGOs, Jurist:innen, Parlamentarier:innen und Anderen wurde der neue Verfassungsentwurf vorgelegt. Im Ergebnis blieben die 80 vorgesehenen Änderungspunkte erhalten: Der Präsident kann für zwei Amtszeiten gewählt werden und fast uneingeschränkte Exekutivgewalt ausüben. Im Rahmen seiner neuen Amtskompetenzen kann er fortan die Zusammensetzung der Regierung bestimmen, d. h. die Minister, den Ministerkabinettsvorsitzenden und seinen Stellvertreter ernennen. Zukünftig bestimmt der Präsident auch den Staatssekretär und den Bevollmächtigten für den Schutz der Kinderrechte, wobei es sich um zwei neue Positionen handelt. Gemäß der neuen Verfassung bestimmt der Präsident die Richter der Verfassungskammer, die Mitglieder der Disziplinarkommission und der Zentralen Wahlkommission, sowie die Vorsitzenden des nationalen Sicherheitsrates, von Verwaltungsräten, der Nationalbank und den Gerichten. Künftig haben der Präsident und sein Apparat das Recht, »Gesetzesänderungen (bzw. Gesetzeserneuerungen) vorzunehmen, neue Gesetze zu unterzeichnen oder sie ablehnend an das Parlament zurückzuschicken« (Art. 73) [Möglicherweise könnte die neue Rechtsgrundlage dem Präsidenten Befugnisse verschaffen, um Gesetze durchzusetzen bzw. diese zu verabschieden. Dies lässt sich gegenwärtig jedoch nicht prognostizieren.]. Unterstützt wird der Präsident bei seinen Entscheidungen vom neu einzurichtenden Volksrat, dem sog. Kurultai, der sich aus Volksvertreter:innen auf mehreren Verwaltungsebenen zusammensetzt und einmal im Jahr mit ihm zusammentrifft. Die Zahl der Parlamentarier:innen wird von 120 auf 90 reduziert. Zudem werden ihre Befugnisse zugunsten des Präsidenten beschnitten. Im Ergebnis wird keine der staatlichen Gewalten mehr unabhängig vom Präsidenten agieren können. Die kritischsten Änderungen der neuen Verfassung stellen vage formulierte Klauseln dar, welche gedruckte oder digitale Veröffentlichungen sowie öffentliche Veranstaltungen verbieten, wenn diese den »allgemein anerkannten moralischen Werten und Traditionen der Menschen in Kirgistan« zuwiderlaufen sollten.

Sowohl die Motivation für die neue Verfassung als auch ihre inhaltliche Zielsetzung bleiben widersprüchlich. Während Dschaparow die Verfassungsänderung als einzig wirksames Mittel im Kampf gegen Korruption, Instabilität und politische Verantwortungslosigkeit stets anpries, lassen sich hierzu in der aktuellen Fassung kaum konkrete Maßnahmen erkennen. Die Enttäuschung über zwei Revolutionen und die bisherige parlamentarische Regierungsform lässt traditionalistisch-konservativ eingestellte Mitglieder der Gesellschaft an einen »kirgisischen Weg« glauben, durch den die »traditionelle Spiritualität« und »kollektive Verantwortung« der Kirgis:innen wiederhergestellt werden soll. Durch traditionelle Beiräte wie den Kurultai erhoffen sich die Verfassungsratsmitglieder, eine Institution für die Bevölkerung zu schaffen, welche die Arbeit der Regierung überwacht und gleichzeitig die Anliegen der Bürger:innen gegenüber den Behörden besser zum Ausdruck bringt. Die auf kulturelle Konformität abzielenden Bestimmungen der neuen Verfassung, die sich auf »die moralischen Einsichten und traditionelle Werte der Kirgis:innen« berufen, lassen einen verzweifelten Versuch erkennen, die staatlichen Gesetze für die Menschen zugänglicher, nativer und vertrauter zu machen. Die erneute Umwandlung der kirgisischen Verfassung kann in diesem Zusammenhang als Teil eines seit der Unabhängigkeit andauernden »nation-building«-Prozesses verstanden werden.

Die internationalen Stimmen bewerten die neue kirgisische Verfassung kritisch. Sowohl die Venedig-Kommission, eine Reihe internationaler Organisationen als auch viele Partnerländer Kirgistans sehen in ihr das Risiko, dass Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheitsrechte nachhaltig untergraben werden. Zahlreiche demokratische Errungenschaften, die von der Zivilgesellschaft während der letzten 15 Jahre hart erkämpft werden mussten, sind durch die neue Verfassung somit wieder grundsätzlich in Frage gestellt.

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