Der Bürgerkrieg in Tadschikistan als postsowjetischer Konflikt

Von Tim Epkenhans (Universität Freiburg)

Zusammenfassung
Die vielschichtigen Ursachen für den verheerenden Bürgerkrieg in Tadschikistan zwischen 1992 und 1997 stehen unmittelbar im Zusammenhang mit der Auflösung der Sowjetunion. Die tiefgreifende ökonomische, soziale und politische Krise führte zu einem rapiden Staatszerfall und Verlust des staatlichen Gewaltmonopols, so dass lokale Konflikte um begrenzte Ressourcen zu gewaltsamen Verteilungskämpfen führten. Erratische Entscheidungen einer überforderten und gelähmten politischen Führung vertieften die ideologische Spaltung der bereits regional fragmentierten tadschikischen Gesellschaft während des Übergangs zur Unabhängigkeit. Die gesellschaftliche und politische Polarisierung, vor allem der Konflikt zwischen »säkularen« und »islamistischen« Gruppen sowie zwischen regionalen Solidaritätsgruppen, lieferte die Basisnarrative, die den Bürgerkrieg erklären und rationalisieren. In dem Beitrag werden insbesondere die politischen Ursachen des Konfliktes behandelt, die Rückschlüsse auf die Transformationen der tadschikischen Gesellschaft in sowjetischer Zeit ermöglichen.

Tadschikistan 1992: Staatszerfall und Bürgerkrieg

Im Mai 1992 eskalierten politische und soziale Spannungen in der Republik Tadschikistan zu einem verheerenden Bürgerkrieg, der bis 1997, dem Jahr des Friedensabkommens, vermutlich mehr als 140.000 Tote forderte, etwa eine Million Tadschik:innen zu Flüchtlingen machte und die Infrastruktur des Landes zerstörte. Der tadschikische Bürgerkrieg gilt als einer der blutigsten Konflikte nach der Auflösung der Sowjetunion. Die komplexen Ursachen für den Ausbruch und die Dynamik des Konfliktes stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der sowjetischen Herrschaft in der Region, insbesondere der tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Krise der Sowjetunion seit Mitte der 1980er Jahre, die vor allem in Tadschikistan katastrophale Folgen für die Bevölkerung hatte. Die Krise und die sukzessive Auflösung der Sowjetunion führte zu einem rapiden Staatszerfall in Tadschikistan, der sich durch die Desintegration der repressiven sowjetischen Sicherheitsbehörden, vor allem des KGB und des Innenministeriums, dramatisch beschleunigte. Die Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols führte zu gewaltsamen Verteilungskämpfen um begrenzte ökonomische Ressourcen zwischen lokalen Gewaltunternehmern – häufig Vertreter der organisierten Kriminalität mit engen Verbindungen zu den Sicherheitsstrukturen. In Ursachen und Dynamik gleicht der Konflikt in Tadschikistan der Typologie der »neuen Kriege« (Mary Kaldor) nach dem Ende des Kalten Krieges, wie etwa den jugoslawischen Nachfolgekriegen. Parallel entwickelten sich Erklärungsmodelle, die den Bürgerkrieg vor allem als Konflikt über politische Ordnungsvorstellungen zwischen säkularen (oder neokommunistischen) und religiösen (d. h. islamistischen) Fraktionen rationalisierten, oder – und dies sollte vor allem in Tadschikistan zu einem zentralen Narrativ werden – als Auseinandersetzung rivalisierender regionaler Solidaritätsgruppen, die sich durch die sowjetische Verwaltungspraxis herausgebildet hatten. Diese Erklärungsmodelle sollen im Folgenden im Kontext von Glasnost und Perestroika näher analysiert werden.

Glasnost und Perestroika in Tadschikistan

Während der Glasnost und Perestroika setzte im sowjetischen Tadschikistan seit Mitte der 1980er Jahre eine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Herrschaft ein. Inspiriert von Dschingiz Aitmatovs post-kolonialem Roman Ein Tag länger als das Leben (1981) und unter dem Eindruck der sowjetischen Intervention in Afghanistan sowie der Revolution im Iran 1979, hatte sich eine jüngere Generation von Intellektuellen und Parteikadern herausgebildet, welche die sowjetischen Paradigmen der offiziellen tadschikischen Geschichte und Identitätspolitik infrage stellten – und damit auch die privilegierte Stellung der etablierten Nomenklatura. Die post-koloniale Sicht auf die Sowjetunion erhielt durch die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen der 1980er Jahre zunehmend Relevanz: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 (in deren Folge etwa 6.000 Tadschik:innen als »Liquidatoren« im Einsatz waren), die Austrocknung des Aralsees, die Gefahren durch radioaktiven Abfall aus der Urananreicherung im Norden Tadschikistans, sowie die gravierenden Gesundheits- und Umweltschäden durch die Baumwollmonokultur (massiver Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln) führten zu einer kritischen Evaluation sowjetischer Wirtschafts- und Planungspolitik. Glasnost ermöglichte eine öffentliche und kritische Diskussion über das Verhältnis zwischen Zentrum (Moskau) und Peripherie (Tadschikistan).

Im Vergleich mit anderen Sowjetrepubliken war Tadschikistan die am wenigsten entwickelte Unionsrepublik, mit deutlichen Defiziten im Lebensstandard, etwa der medizinischen Versorgung, dem Bildungswesen und der Qualität des Wohnraums. Die tadschikische Öffentlichkeit sah das sowjetische Modernisierungsversprechen nicht nur als gescheitert an, sondern kritisierte die systematische Diskriminierung zentralasiatischer Ethnien in dem sowjetischen Modernisierung- und Industrialisierungsprojekt. Insbesondere die Beschäftigungsmuster im industriellen Sektor sowie im Bereich Forschung und Entwicklung wiesen ein deutliches Ungleichgewicht zuungunsten ethnisch-tadschikischer Arbeitskräfte auf. Die Urananreicherungsanlage in Tschkalovsk im Norden des Landes oder das Aluminiumwerk Talco westlich von Duschanbe waren stärker in gesamtsowjetische Planwirtschaftsstrukturen eingebunden, während der Baumwollsektor von republikanischen Netzwerken mit vergleichsweise großer Autonomie kontrolliert wurde. Die 1980er Jahre des sowjetischen Tadschikistans waren geprägt von Diskussionen über die vermeintlich beabsichtige Unterentwicklung der Industrie im Land, die Diskriminierung von Tadschik:innen, sowie die gravierenden ökologischen Folgen der sowjetischen Planwirtschaft. Hierdurch erlebten nationalistische Positionen einen Aufwind und wurden relevanter.

Die Intellektuellen und politischen Kader, die diese Debatte befeuerten, kamen häufig aus den marginalisierten Bergregionen des Landes und waren zum Teil Veteranen der Intervention in Afghanistan (russ.: afgancy). Als Soldaten, Dolmetscher oder Offiziere des sowjetischen Militärnachrichtendienstes GRU hatten sie in Afghanistan neue Perspektiven auf eine transnationale iranische und islamische Kultur bekommen und begannen, die sowjetisch geformte Nationalgeschichte Tadschikistans zu hinterfragen. So avancierten Fragen über die Stellung des Tadschikischen als offizieller Sprache gegenüber dem Russischen, die Einbettung der tadschikischen Kultur und Sprache in einen größeren regionalen bzw. iranisch-»persophonen« Kontext, sowie das Verhältnis zur Islamischen Republik Iran zu scharfen Auseinandersetzungen in der tadschikischen Öffentlichkeit. Während die etablierte Nomenklatura auf eine kategorische Eigenständigkeit des Tadschikischen insistierte (und damit den exklusiven ethnisch basierten tadschikischen Nationalismus sowie die großen akademischen Institutionen des Landes legitimierte), verfocht die jüngere Generation eine Integration der tadschikischen Kultur und Geschichte in den größeren Kontext der »islamisch-iranischen Synthese« (Jürgen Paul). Insbesondere die Frage nach der Zugehörigkeit zur transnationalen und -regionalen islamischen Zivilisation führte zu bitteren Konflikten in der tadschikischen Öffentlichkeit. Die Debatte über die gesellschaftliche Stellung des Islam – sei es als Bestandteil einer nationalen kulturellen Identität, einer politisch-sozialen Ordnungsvorstellung, einer öffentlich demonstrierten religiösen Praxis oder als Entwurf eines moralisch-ethnischen Lebenswandels erhielt innerhalb weniger Jahre eine ungeheure gesellschaftliche Relevanz und überlagerte die Auseinandersetzung mit den gravierenden sozialen und politischen Konflikten in der spät- und post-sowjetischen Gesellschaft Tadschikistans bis in die Gegenwart hinein. Dieser gesellschaftliche Effekt war nicht nur das Resultat intellektueller Debatten, sondern wurde auch durch eine Gruppe islamistischer Aktivisten forciert, die 1990 die Partei der Islamischen Wiedergeburt Tadschikistans (PIWT) gründeten und sich auf alternative, religiöse Lebens- und Ordnungsentwürfe beriefen, wodurch sie sich dezidiert außerhalb der sowjetischen Gesellschaft und ihrer Formen sozialer Anerkennung positionierten. Die politische und intellektuelle Nomenklatura des spätsowjetischen Tadschikistans reagierte auf diese Diskussionen mit einer zunehmend aggressiven Kampagne, in deren Kontext die Aktivisten der PIWT als Verfechter des saudischen Wahhabismus diffamiert und den islamischen Moralvorstellungen und Lebensentwürfe jegliche gesellschaftliche Bedeutung verweigert wurde. Die politischen Auseinandersetzungen über Nation, Sprache und Islam förderten die gesellschaftliche Fragmentierung und Polarisierung zwischen »Neo«-Kommunisten (häufig Repräsentanten der sowjetischen Nomenklatura), nationalistischen »Demokraten« (mit häufig diffusen Vorstellungen hinsichtlich eines demokratischen politischen Systems) und islamistischen Aktivisten der PIWT, wobei die resultierende Polarisierung durch unbeholfen agierende und zerstrittene Führungskader der Kommunistischen Partei Tadschikistans verschärft wurde. Das tiefe Misstrauen zwischen den unterschiedlichen Gruppen dieser stark fragmentierten Gesellschaft verhinderte die Bildung von belastbaren und interessenübergreifenden Koalitionen. Ebenjene gesellschaftliche Polarisierung lieferte die Basisnarrative für den Ausbruch des Bürgerkrieges, sowie die Kategorien, mit denen der Konflikt rationalisiert wurde. Die unflexible Nomenklatura trug zu einer weiteren Eskalation der Situation bei: Zum einen hielt sie an einer aggressiven Identitätspolitik fest, zum anderen misslang es ihr, auch aufgrund persönlicher Defizite, das Ausmaß der politischen Herausforderungen staatlicher Unabhängigkeit zu erfassen.

»Regionalismus« in einer fragmentierten Gesellschaft

Manipulative sowjetische Herrschaftspraktiken, wie etwa die Identitätspolitik und Zuweisung bestimmter Berufsfelder, sowie eine ungleiche wirtschaftliche Entwicklung hatten seit den 1950er Jahre zur Herausbildung regional basierter Identitätsentwürfe geführt, die teilweise mit ethnischen Kategorien (vor allem Usbeken, Kirgisen und Pamiris) übereinstimmten, aber vor allem ethnische Tadschiken in kategorische Regionalgruppen einteilte. Hierbei wurde zwischen Tadschiken aus dem nördlichen Leninobod/Chudschand, dem südlichen Kulob und den Berg- bzw. Talregionen des Zarafschan, Vachsch sowie Pamir unterschieden. Eine gesonderte Gruppe stellten die »Emigranten« dar, die seit den 1920er Jahren aus den in Usbekistan gelegenen urbanen Zentren Buchara und Samarkand nach Duschanbe gekommen waren, um dort am Aufbau einer sowjetisch-tadschikischen Nationalkultur mitzuwirken. Folgt man dem Regionalismus-Topos, so bestimmte die regionale Provenienz über den sozialen und beruflichen Werdegang, sowie Migrations- und Heiratsmuster: Die Emigré-Familien dominierten bis in die 1980er Jahre das kulturelle und akademische Leben Sowjettadschikistans, während Tadschik:innen aus dem nördlichen Leninobod/Chudschand die politischen Führungskader der Kommunistischen Partei stellten und den wichtigen agrarindustriellen Komplex der Baumwollkultivierung und -verarbeitung kontrollierten. Personen aus der südlichen, an Afghanistan grenzenden Oblast Kulob waren überproportional in den Sicherheitsstrukturen repräsentiert. Als kompliziert gestalteten sich indes die regionalen Identitätsmuster in den dichtbesiedelten Baumwollanbaugebieten des Südens. Die Bevölkerung in diesen Gebieten war größtenteils seit den 1930er Jahren zur Baumwollkultivierung aus den Bergregionen Tadschikistans (Zarafschan, Gharm/Vachsch und Pamir) zwangsumgesiedelt worden. Das Trauma der Umsiedlung, das in zahlreichen autobiographischen Texten erzählt wird, verstärkte regionale Identitäten, da die Kolchosen und Sowchosen entlang der Herkunftsregionen organisiert waren. Zudem reproduzierten die Kollektivbetriebe die patriarchalischen Strukturen »traditioneller« landwirtschaftlicher Gemeinschaften – trotz anderslautender ideologischer Beteuerungen von Emanzipation und Entwicklung des homo sovieticus als gesellschaftlicher Norm. 1991 lebten etwa 2/3 der Bevölkerung Tadschikistans in ländlichen Regionen, in denen die politischen und sozialen Strukturen eine horizontale gesellschaftliche Integration verhinderten. Diese mangelnde horizontale Verknüpfung sowohl zwischen den landwirschaftlichen Kollektivbetrieben wie auch zwischen der ländlichen und der urbanen Bevölkerung verschärfte die Trennlinien in der tadschikischen Gesellschaft. Die sowjetische Transformation des ländlichen Tadschikistans für die großflächige Baumwollkultivierung resultierte zudem in einem hohen Maß an sozialer Fragmentierung entlang ethnischer und regionaler Kategorien. Diese soziale Fragmentierung hatte im Zusammenspiel mit einem hohem Bevölkerungswachstum, einer geringen Abwanderung aus dem ländlichen in den urbanen Raum, anhaltender Bodendegradation durch die Baumwollmonokulturen sowie zunehmend begrenzter Ressourcen bereits in den 1980er Jahre zu gewaltsamen Konflikten zwischen den Bewohner:innen von Kolchosen und Sowchosen geführt. Mit der Auflösung der sowjetischen Sicherheitsstrukturen traten lokale Gewaltunternehmer in die Öffentlichkeit, die diese Konflikte instrumentalisierten und Milizen entlang der gesellschaftlichen Trennlinien mobilisierten. Der tadschikische Bürgerkrieg mit seiner extremen Gewalt begann vor allem in diesen dicht besiedelten landwirtschaftlichen Regionen im Süden Tadschikistans.

Kontingenz, Polarisierung und Elitenversagen

In der Diskussion über die Ursachen des Bürgerkrieges überwiegen zumeist strukturelle Faktoren, mit denen Ausbruch, Verlauf und Ende des Konfliktes rationalisiert werden. Übernimmt man eine stärker akteurszentrierte und mikro-historische Perspektive, die autobiographisches und Oral-History-Material miteinbezieht, fällt die signifikante Kontingenz in der Sequenz der Ereignisse auf. Dies betrifft sowohl Entscheidungsprozesse im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei sowie im Obersten Sowjet Tadschikistans, als auch solche auf lokaler Ebene. Im Zuge der Perestroika-Politik Moskaus war mit Qahhor Mahkamov ein technokratischer Politiker in Tadschikistan an die Macht gekommen, der das Ausmaß der tiefgreifenden sozioökonomischen Krise der späten Sowjetzeit nicht erfasste und den Herausforderungen der staatlichen Unabhängigkeit 1991 nicht gewachsen war. Seine Rivalen, etwa der aus der Bräschnew-Ära hervorgegangene Kader und von Gorbatschow relegierte Rahmon Nabiev, oder der maliziöse Generalstaatsanwalt, Parlamentssprecher und KGB-Vorsitzende Safarali Kenjaev waren populistische Politiker, die sich instinktiv und habituell auf die staatliche Unabhängigkeit eingestellt und gleichzeitig keine Berührungsängste hatten, mit kriminellen Netzwerken zu kooperieren. Der Nexus zwischen organisierter Kriminalität, politischen Funktionsträgern und den Sicherheitsstrukturen ist im sowjetischen Raum bereits seit der Stalinzeit belegt. Im Zuge des Staatszerfalls und der Auflösung des Gewaltmonopols etablierten sich lokale Gewaltunternehmer, die der Lokalbevölkerung »Schutz« in Form von Rackets aufzwangen.

1991/92 verlor die fragmentierte Führungselite Tadschikistans dramatisch an Einfluss auf den politischen und sozialen Transformationsprozess nach der Unabhängigkeit. Interne Konflikte, katastrophale Fehleinschätzungen sowie Komplizenschaft mit kriminellen Netzwerken beschleunigten den Staatszerfall und die Auflösung des Gewaltmonopols, woraufhin sich ab Mai 1992 Gewaltunternehmer als Feldkommandeure bzw. Warlords etablierten. Einer der einflussreichsten und gefürchtetsten Warlords in der frühen Phase des Bürgerkriegs war »Bobo« (»Großvater«) Sangak Safarov (1928–1993). Safarov hatte 28 Jahre für eine Reihe nicht politischer Straftaten in Haft verbracht und sich in den 1980er Jahren als selbststilisierter vor v zakonye (»Dieb im Gesetz«) im südlichen Kulob ein kriminelles Netzwerk aufgebaut. Ab 1990 mobilisierte Safarov sein kriminelles Netzwerk, um sich zunächst auf lokaler und später auch auf nationaler Ebene in die politischen Auseinandersetzungen nach der Unabhängigkeit einzumischen. Im Sommer 1992 wurde aus dem kriminellen Netzwerk Safarovs eine Bürgerkriegsmiliz, die ab September als »Volksfront« Terror und Gewalt in den südlichen Regionen Tadschikistans verbreitete. Entgegen der Vorstellung regionaler Loyalität und Solidarität wandte sich Safarov zunächst gegen die politische Nomenklatura und Rivalen im südlichen Kulob. So ermordete Safarov unter anderem den Gouverneur der Region und ersetzte ihn im Oktober 1992 durch Emomali Rahmon. Im folgenden Monat gelang es Safarov, Rahmon als Parlamentssprecher und damit als Interimsstaatsoberhaupt durchzusetzen (1994 wird Rahmon dann erstmals zum Präsidenten gewählt) – ein Umstand, der in aktuellen tadschikischen Darstellungen des Bürgerkrieges nicht thematisiert wird. In den folgenden Monaten, bis zu seinem Tod im März 1993, distanzierte sich Safarov von seinem Warlord-Image und inszenierte sich hingegen als gewandter Politiker mit einem politischen Programm, das sich zunehmend an den Basisnarrativen über den Ausbruch des Bürgerkrieges orientierte. Safarov inszenierte sich nun als nationalistischer Politiker und Verteidiger eines säkularen tadschikischen Staatswesens, und rationalisierte den Konflikt entlang der hier dargestellten Muster.

»Frieden«, Erinnerungskultur und autoritäre Konsolidierung

Im Frühjahr 1993, nach einer Phase extremer Gewalt, war der Bürgerkrieg entschieden. Die fragile aber international anerkannte Regierung von Emomali Rahmon kontrollierte mit substantieller russischer und usbekischer Unterstützung die urbanen Zentren und wichtigen landwirtschaftlichen Regionen des Landes. Die oppositionellen Milizen waren in die entlegenen Bergregionen zurückgedrängt worden, konnten aber militärisch noch nicht besiegt werden. Der Aufstieg der Taliban in Afghanistan führte Mitte der 1990er Jahre zu internationalen Friedensinitiativen, die 1997 in einem Friedensabkommen mündeten. Das Abkommen skizzierte die Transformation zu einer demokratischen Nachkriegsordnung, zu einem von der internationalen Gemeinschaft befürworteten »liberalen Frieden«, sah aber keine Aufarbeitung der Ursachen und des Verlaufs des Konfliktes vor – inklusive der zahlreichen Verbrechen, die von den Milizen begangen wurden. Die beiden Konfliktparteien, die Regierung von Präsident Rahmon und die Opposition um die islamistische PIWT, bevorzugten, das Geschehene zu vergessen. Gleichzeitig betonten Regierung und Opposition, dass der Bürgerkrieg den Tadschiken von ominösen »externen Kräften« aufgezwungen worden sei. Nach einer Phase relativer innenpolitischer Entspannung setzte seit den späten 2000er Jahren eine autoritäre Konsolidierung des Regimes von Rahmon ein. Die oppositionelle PIWT wurde 2015 verboten und die offizielle Erinnerungspolitik stellt Rahmon nun als alleinigen Sieger des Konfliktes dar, der sich zudem als »Begründer des Friedens und der nationalen Einheit« sowie als »Führer der Nation« verehren lässt. Offizielle Darstellungen zu den Ursachen des Bürgerkrieges machen nun die PIWT für den Konflikt verantwortlich, ohne jedoch eine Erinnerung an den Bürgerkrieg zu ermutigen. Allerdings erinnern sich lokale Gemeinschaften an den Bürgerkrieg. Während inoffizieller Gedenktage versammeln sich die Einwohner:innen eines Dorfes, eines Stadtviertels oder einer landwirtschaftlichen Genossenschaft in Abwesenheit offizieller Staatsrepräsentant:innen in den Hainen, in denen sie vor 30 Jahren ihre Angehörigen bestatteten, die dem Krieg zum Opfer gefallen waren. Im Anschluss treffen sich Frauen und Männer zumeist getrennt bei plov und Tee, um über den Tag zu sprechen, an dem der Krieg über ihre Gemeinschaft hereinbrach. Zwar versucht man durch den Verweis auf die Basisnarrative den Konflikt zu rationalisieren, doch werden die grausame Kontingenz der Gewalt und die soziale Fragmentierung der tadschikischen Gesellschaft in diesen Erinnerungen immer wieder deutlich.

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