Am 10. Januar 2022 wird das Internet in Almaty wieder angeschaltet. Fast eine Woche lang war es ganz oder teilweise blockiert gewesen, nur spärlich drangen Nachrichten aus Kasachstans kultureller Metropole in die Außenwelt. In Almaty waren die zunächst friedlichen Proteste, die am 2. Januar 2022 in Dschanaösen ihren Ausgang nahmen, am 5. Januar in Gewalt umgeschlagen. Erst mit Hilfe des Militärs – darunter Truppen des von Russland angeführten Militärbündnisses OVKS – gelang es dem kasachstanischen Regime, die Lage zu stabilisieren. Eine der ersten Reaktionen auf die Ereignisse der eskalierten Proteste aus der Literaturszene Kasachstans, ist der Facebook-Post Michail Zemskovs vom 11. Januar. Der Romancier zitiert aus dem Tagebuch seiner achtjährigen Tochter:
»10. Januar. Bei uns ist Krieg, wir sitzen zu Hause. Silvester haben wir schön gefeiert, wir ließen Raketen steigen und hatten Gäste […] und haben einen Kuchen gebacken. Außerdem war Olja für zwei Nächte bei uns und ich habe gepanzerte Mannschaftswagen und Panzer, Militär und Militärfahrzeuge gesehen. Außerdem wurden die Schulferien bis zum 17. Januar verlängert, und unser Miniladen ist der beste in der Gegend, er hat: Brot, Kartoffeln, Möhren.« (Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen aus dem Russischen von der Autorin.)
Am selben Tag veröffentlicht die Mutter des Mädchens, die Kinderbuchautorin und Dichterin Kseniya Rogozhnikova, ein Gedicht auf ihren Social Media-Accounts, welches das Thema in freien Versen aufgreift und ebenfalls aus dem Tagebuch zitiert. Aus dem Zeugnis eines Kindes, das vor allem durch die scheinbare Gleichzeitigkeit freudiger (Neujahrsfest, Gäste, verlängerte Schulferien) und schrecklicher Ereignisse (Krieg) verstört, ist bei Rogozhnikova bereits Literatur geworden. In dem titellosen Gedicht heißt es:
»wir lauschen dem Knallen
im Neuen Jahr
es sind schon keine Böller mehr
Blendgranaten
nicht funktionierende Ampeln
eine laufende Menschenmenge
auf der Fahrbahn
der Tod
auf den Straßen der Stadt
Nachrichtenkrümel
durch Telefonate
sparsamer Zugang zum Internet
in Almaty
wir erinnerten uns an den Fernseher
die achtjährige Tochter
schreibt in ihr Tagebuch
›bei uns ist Krieg
wir sitzen zu Hause
aber im Laden nebenan
gibt es schon Brot
und Kartoffeln‹«
(Aus dem Russischen von Martha Jurowski und Nina Frieß.)
Während wenig über die Teilnahme kasachstanischer Literat:innen an den friedlichen Protesten bekannt ist, melden sich diese nach dem Ende der Unruhen umso deutlicher zu Wort. Dabei ist es das Privileg der Dichter:innen, mit ihrer Kunst schnell auf aktuelle Ereignisse reagieren zu können, vielleicht sogar zu müssen, wie es die Dichterin Irina Gumyrkina ausdrückt: »Gedichte fragen nicht danach, was du schreiben willst, sie kommen einfach«. Während die ersten Wortmeldungen aus der literarischen Szene vor allem Lebenszeichen im wörtlichen Sinne waren, veröffentlichen Kasachstans Poet:innen, die tagelang zum Schweigen gezwungen waren, nun beinahe täglich Gedichte auf Facebook oder Instagram, in denen sie das Erlebte verarbeiten: die Ungewissheit, die Isolation, die Angst, das Chaos, die Almaty tagelang beherrschten. Aber auch Spott über die Machthaber:innen, die »Putin riefen«, findet sich dort, sowie Wut und Trauer um die Opfer der eskalierten Proteste, deren genaue Anzahl umstritten bleibt.
Poetische Solidaritätsbekundungen
Noch während der Internetblockade Anfang Januar hatten außerhalb Kasachstans lebende Dichter:innen unter dem Motto »Wir sind zusammen« zu einem poetischen Marathon aufgerufen, an dem sich Poet:innen aus Kasachstan, Russland, der Ukraine und Belarus beteiligten und ihre Gedichte vortrugen. Die Organisator:innen der Veranstaltungen sprachen sich »für die Solidarität mit dem Volk Kasachstans in seinem Kampf gegen den Autoritarismus und für die Menschenrechte« und gegen die »kriegerische Einmischung anderer Länder in die Politik Kasachstans« aus. Die Einladung zu der Online-Veranstaltung zeigt dabei eine fast schon ikonische Fotografie der kasachstanischen Protestbewegung, die 2019 beim Almaty-Marathon entstanden war: Aktivist:innen hatten im Vorfeld der fingierten Präsidentschaftswahlen bei der Sportveranstaltung ein Transparent entrollt, auf dem der Slogan »Vor der Wahrheit kannst du nicht weglaufen« sowie der Hashtag #IchHabeDieWahl auf Kasachisch und Russisch zu lesen waren. Zwei der beteiligten Aktivist:innen waren dafür 2019 zu 15-tägigen Haftstrafen verurteilt worden. Mit der Wahl ihres Veranstaltungsfotos zogen die Organisator:innen des poetischen Marathons eine Verbindung zu früheren friedlichen Protesten gegen das autoritäre Regime Kasachstans.
Die Übergänge zwischen Kunst und Aktivismus sind in Kasachstan häufig fließend. So engagierten sich viele Künstler:innen schon vor den Protesten Anfang Januar für ein demokratisches Kasachstan, in dem Politiker:innen in freien und fairen Wahlen bestimmt und für ihre Arbeit vom Wahlvolk verantwortlich gemacht werden können. Insbesondere Künstlerinnen haben in den letzten Jahren Aktionen organisiert, in denen sie sich für die Stärkung von Frauen- und LGBTQ*-Rechten einsetzten. Die Protestformen sind dabei kreativ, sie reichen von Performances bis hin zu Kunstobjekten, wie etwa die Evermust-Skulptur Zoya Falkovas, die einen weiblichen Torso in Form eines Boxsacks zeigt und es – inzwischen in der zweiten Edition – zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Im Umweltschutz sind es seit Sowjetzeiten Schriftsteller:innen, die in Aktionen, vor allem aber in ihren Texten auf die massiven Umweltprobleme Kasachstans aufmerksam machen.
Anfang Januar 2022 sind zumindest in Almaty viele Aktionskünstler:innen an den friedlichen Protesten beteiligt. Sie posten Bilder und Forderungen der friedlich Demonstrierenden auf ihren Social Media-Accounts und dokumentieren damit die Ereignisse. Sie sind aber auch unter den ersten, die dazu aufrufen, nach Hause zu gehen, als die friedlichen Proteste in Gewalt umschlagen. So schreibt die seit Jahren in der kasachstanischen Demokratiebewegung engagierte Künstlerin Suinbike Suleimenova am 5. Januar auf Instagram: »Jetzt ist es wichtig, die Gewalt zu stoppen, […], es ist Zeit, darüber nachzudenken, was als nächstes zu tun ist. Welche Reformen brauchen wir wirklich? Das Schlimmste, was jetzt passieren kann, ist die Übertragung / Machtergreifung von einem Diebesregime zum anderen. Es ist uns wichtig, unsere Unabhängigkeit, unsere Staatlichkeit zu bewahren! Wir brauchen eine neue unabhängige Regierung, die wirklich an die Menschen denkt.«
Obwohl es sich bei der engagierten Kunstszene in Kasachstan um eine überschaubar große Personengruppe handelt, sollte ihre Reichweite nicht unterschätzt werden. Insbesondere durch ihre Social Media-Präsenz erreichen sie Menschen über Kasachstans kulturelles Zentrum Almaty hinaus. Sie sind – oft auch international – gut vernetzt und bereit, sich in ihrer Kunst und darüber hinaus zu engagieren und zur Entwicklung der kasachstanischen Kulturlandschaft, aber auch der Zivilgesellschaft, beizutragen.
Literarische Zivilgesellschaft
Die Gründung der Offenen Literaturschule Almaty (kurz OLSCHA) ist dafür ein gutes Beispiel. Der Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete auch das Ende der staatlich kontrollierten sowjetischen Literaturlandschaft: nicht nur die staatliche Zensur, sondern auch Verlage, literarische Zeitschriften, finanzielle Förderungen für regimetreue Autor:innen sowie Institute für den literarischen Nachwuchs standen plötzlich vor dem Aus. Während es in Russland relativ schnell gelang, einen nach privatwirtschaftlichen Prinzipien organisierten Literaturmarkt zu etablieren, gab es in Kasachstan jenseits der veralteten, für junge Autor:innen nur schwer zugänglichen Strukturen des nach wir vor existierenden regimenahen Schriftstellerverbands kaum Möglichkeiten, Texte zu publizieren. Bis heute wird der kasachstanische Buchmarkt deshalb von russischen Importen dominiert.
Es ist dem Einsatz einer einzelnen Person zu verdanken, dass sich in Kasachstan dennoch eine innovative junge Literaturszene entwickeln konnte. Die Autorin und Philologin Olga Markova hatte 1993 unter dem Dach der von ihr gegründeten Stiftung Muzaget begonnen, Kurse für Nachwuchsautor:innen zu organisieren, eine Zeitschrift herauszugeben und Publikationsmittel einzuwerben. Nach Markovas Tod im Jahr 2008 setzten ihre Schüler:innen rund um Michail Zemskov ihre Mission fort und gründeten 2009 die OLSCHA, in der Interessierte in Wochenendkursen eine umfassende theoretische und vor allem praktische Schreibausbildung erhalten. Durch die Corona-Pandemie, die auch die OLSCHA in den virtuellen Raum zwang, wurden die Seminare der Schule erstmals für Menschen zugänglich, die außerhalb Almatys leben.
Im Umfeld der OLSCHA sind seit ihrer Gründung nicht nur viele literarische Texte entstanden, es wurden auch Lesungen und Festivals veranstaltet, die literarische Online-Zeitschrift Daktyl gegründet (2019) und zuletzt mit Unterstützung des renommierten internationalen Schreibprogramms der Universität Iowa und des US-amerikanischen Konsulats Almaty die Almaty Writing Residency eingerichtet (2021). Diese internationale Vernetzung könnte perspektivisch zu einer größeren internationalen Sichtbarkeit von Kasachstans Schriftsteller:innen beitragen, deren Texte bislang kaum in andere Sprachen übersetzt wurden.
Zwar werden nicht alle Absolvent:innen der OLSCHA Autor:innen, viele von ihnen werden aber Leser:innen, die sich für die Entwicklung der sie umgebenden Literatur- und Kulturlandschaft interessieren und Texte lesen wollen, die die eigenen Lebenswirklichkeiten abbilden und gesellschaftliche Diskurse aufgreifen. Das Entstehen von etwas, das man als eine neue literarische Zivilgesellschaft bezeichnen könnte, spiegelt sich ganz langsam auf dem kasachstanischen Buchmarkt wider: immer mehr kasachstanischen Autor:innen gelingt es, ihre Texte in heimischen Verlagen zu veröffentlichen und auch zu verkaufen. Entscheidender ist aber, dass diese Menschen nicht länger auf staatliche Hilfe warten, die in Kasachstan – wenn überhaupt – bislang primär in prestigeträchtige Großprojekte fließt, sondern selbst bereit sind, sich mit eigenen Ressourcen zu engagieren. Nach den Ereignissen von Anfang Januar bleibt zu hoffen, dass die Freiräume erhalten bleiben, die dafür bislang zur Verfügung standen. Die teilweise sehr offenen Äußerungen kasachstanischer Literat:innen zu den aktuellen Ereignissen lassen darauf schließen, dass sie selbst zumindest fürs Erste nicht mit Repressionen rechnen.
Unterstützen ließe sich dieser Teil der kasachstanischen Zivilgesellschaft übrigens bereits mit geringen Mitteln: mit Stipendien, insbesondere für junge Autor:innen, mit Kooperations-Veranstaltungen wie sie das US-amerikanische Konsulat mit der OLSCHA veranstaltet, aber auch durch die Förderung von Übersetzungen zeitgenössischer literarischer Texte ins Deutsche. Den Literaturschaffenden – aber auch anderen Künstler:innen – würden finanzielle Mittel, und mehr noch wachsende internationale Aufmerksamkeit, einen Fortbestand ihrer Unabhängigkeit sichern. Den deutschsprachigen Leser:innen böten sie Einblicke in eine Kultur, die jenseits von Ereignissen wie den Unruhen von Anfang Januar viel zu selten Thema im deutschsprachigen Raum ist.