Ein Meilenstein auf dem Weg nach…? Anmerkungen zum Verfassungsreferendum in Kasachstan

Von Beate Eschment (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin)

Einleitung

Anfang Juni hat die Bevölkerung Kasachstans per Referendum eine Vielzahl von Änderungen in der Verfassung ihres Landes gebilligt. Präsident Kassym-Dschomart Tokajew, der die Überarbeitung der Verfassung wie die Volksabstimmung initiiert hatte, bezeichnete das Ergebnis als wichtigen Meilenstein in der Geschichte des Landes sowie als Zeichen der Einigkeit und der Bereitschaft der Nation zu wirklichen Veränderungen. Im Folgenden soll daher den Fragen nachgegangen werden, wie Referendum und Verfassungsänderungen in der bisherigen Geschichte Kasachstans einzuordnen sind und welche Bedeutung sie für den Präsidenten und die Bevölkerung haben.

Rückkehr oder Fortschritt?

Anders als im benachbarten Kirgistan sind Referenden in Kasachstan tatsächlich etwas Besonderes. Die Volksabstimmung vom 5. Juni 2022 war erst die dritte in seiner Geschichte. Die letzten beiden fanden vor 27 Jahren statt. Im April 1995 ließ sich Präsident Nursultan Nasarbajew auf diesem Weg unter Umgehung von Neuwahlen seine Amtszeit verlängern. Und im August 1995 wurde die erste nachsowjetische Verfassung, die damals gerade einmal zwei Jahre alt war und ein parlamentarisches System vorsah, durch eine Präsidialverfassung ersetzt. Sie wurde dies noch mehr durch ohne Befragung der Bevölkerung vorgenommene Änderungen 1998, 2007, 2011 und 2017, die vor allem Wahl und Kompetenzen des Präsidenten betrafen und Sonderregeln für Nasarbajew als Ersten Präsidenten einfügten.

Durch das jetzige Referendum wurden Veränderungen in praktisch allen Abschnitten der Verfassung vorgenommen. Sie betreffen z. B. Erleichterungen bei der Registrierung von Parteien, die Einführung des Amtes eines/r Menschenrechtsbeauftragten oder Maßnahmen zur Dezentralisierung. In Bezug auf das höchste Staatsamt wurden die Sonderregeln für den Ersten Präsidenten gestrichen und um wie eine Lehre aus der Geschichte wirkende neue Bestimmungen ergänzt, nach denen eine Parteimitgliedschaft des Präsidenten ausgeschlossen ist und seine Familienangehörigen keine Schlüsselpositionen im öffentlichen Sektor einnehmen dürfen. Darüber hinaus verliert der Präsident aber nur wenige Kompetenzen. Vor allem behält er die Besetzungsrechte für nahezu alle wichtigen Ämter, darunter auch für die Gebietsgouverneure und die Bürgermeister der drei wichtigsten Städte (Nur-Sultan, Almaty und Schymkent), deren Wahl durch die Bevölkerung von Aktivisten schon lange gefordert wird. Im offiziellen Kasachstan werden die Verfassungsreformen zurecht als Rückkehr vom superpräsidialen zum Präsidialsystem bezeichnet. Es handelt sich weniger um einen grundsätzlichen Neubeginn, als um eine Beseitigung der Auswüchse der Ära Nasarbajew.

Was will Tokajew?

Die Verfassungsänderungen stehen im Kontext der gesamten Reformbemühungen Tokajews der letzten Jahre, die durch das Referendum legitimiert werden sollten. Neben der Stabilisierung des Landes ging es dem Präsidenten dabei auch um die Absicherung seiner eigenen Herrschaft. Auffällig ist zum einen seine große Vorsicht, zum anderen seine Distanzierung von der Ära, aber weniger der Person Nasarbajew. Die Folgen der Unruhen im Januar 2022 ermöglichen es Tokajew nun, ohne den Ersten Präsidenten und seine einflussreiche Familie zu agieren. Außerdem kann er, der aufgrund seiner beruflichen Laufbahn von vielen als Vertreter der alten Zeit wahrgenommen wird, ihnen bisherige Missstände in die Schuhe schieben und seine Herrschaft unter dem Motto der Errichtung eines »Neuen Kasachstan« davon abgrenzen. Gleichzeitig ruft Tokajew aber dazu auf, Nasarbajews Rolle in der Geschichte Kasachstans mit Respekt zu begegnen.

Tokajews politische Grundüberzeugungen unterscheiden sich in einem entscheidenden Punkt von denen seines Vorgängers. Für Nasarbajew stand immer die Wirtschaft an erster Stelle, politische Reformen wurden auf die Zukunft verschoben. Tokajew hat dagegen schon 2019 erklärt, dass wirtschaftliche Entwicklung nur bei politischer Modernisierung möglich sei und entsprechend erste Reformschritte in Gang gesetzt. Da er seine Aufgabe aber grundsätzlich nicht in der Änderung, sondern der Bewahrung des politischen Systems sieht, verläuft die Liberalisierung sehr vorsichtig und von oben kontrolliert. Die Bevölkerung, die mangels Alternativen im Januar 2022 ihre Unzufriedenheit durch Demonstrationen zum Ausdruck gebracht hatte, kann, abgesehen von dem Referendum, ihre Meinung zu den Reformen auch weiterhin nicht direkt äußern. Stattdessen wurde durch die Verfassungsreform mit dem Kurultai eine neue Institution geschaffen, in der 117 Bürger des Landes, die zwar die Bevölkerung geographisch, ethnisch, altersmäßig und beruflich repräsentieren, aber von der Präsidialverwaltung handverlesen sind, dem Präsidenten beratend zur Seite stehen und Vorschläge zur gesellschaftlichen Konsolidierung machen. Grundlegende Kritiker Tokajews sind dort nicht vertreten und haben nach wie vor keine Möglichkeit, ohne die Gefahr einer Strafverfolgung ihre Position bekannt zu machen. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen formalen Erleichterungen bei der Parteienregistrierung unter diesen Vorzeichen wirklich zu mehr Pluralismus führen.

Ausdruck von Einigkeit und des Wunsches nach Veränderung?

Wenn das Referendum Tokajews Reformen legitimieren sollte, ist die Frage wichtig, inwieweit die Ergebnisse – nach offiziellen Angaben 77,2 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 68,1 % – überhaupt die Haltung der Bevölkerung wiedergeben. Auch dieses Mal wurde von Unregelmäßigkeiten im Abstimmungsgeschehen berichtet, vor allem aber stellt sich die Frage, ob die Menschen überhaupt wussten, wofür sie ihre Stimme abgaben. Selbst ein hochrangiger Berater des Präsidenten erklärte im Vorfeld der Volksabstimmung, dass es für Nicht-Spezialisten sehr schwer sei, sich einen Überblick über die vielen Änderungen zu verschaffen. Es wurde auch wenig getan, um dem Wahlvolk dabei zu helfen. Zudem war die Zeit zwischen Veröffentlichung der Vorschläge und der Abstimmung mit einem Monat sehr knapp. Damit reduzierte sich die Entscheidung bei vielen Wählern auf: Zustimmung bedeutet »Nasarbajew ist weg«, was ganz im Sinne Tokajews war.

Es gab aber auch andere, die sich aus Unzufriedenheit mit Tokajews Reformen der Abstimmung ganz verweigerten, wie die erheblichen regionalen Unterschiede bei den Ergebnissen zeigen. Grundsätzlich lässt sich eine positive Korrelation zwischen Höhe der Wahlbeteiligung und Zustimmungsrate beobachten: Je geringer die Zahl der abgegebenen Wahlzettel, desto niedriger auch die der Ja-Stimmen. Das betrifft vor allem die Stadt Almaty mit 65 % Ja-Stimmen bei einer Beteiligung von nur 33 %, beides die mit Abstand die schlechtesten Zahlen. Auch im Westen des Landes zeigt sich eine deutlich andere Stimmung als im übrigen Land. Man kann davon ausgehen, dass die ablehnendere Haltung gegenüber den Verfassungsänderungen hier nicht den Wunsch nach Erhalt des Status quo impliziert, sondern nach tiefergreifenden Veränderungen – vom Westen des Landes gingen die Januar-Unruhen aus, in Almaty eskalierten sie… Ganz so einig, wie von Tokajew postuliert, ist die Bevölkerung also nicht und der Wille der Nation zu Veränderungen scheint in einigen Teilen des Landes größer als der des Präsidenten.

Fazit

Tokajew strebt sicherlich nicht an, der nächste Nasarbajew zu werden. Doch stellt sich die Frage, ob sein vorsichtiges Vorgehen wirklich die Stabilität des Staates wie seiner Herrschaft wahrt und stärkt, oder ob es nicht, im Gegenteil, die Geduld der Bevölkerung, vor allem in Almaty und im Westen, auf eine zu harte Probe stellt. Entscheidend wird sein, dass sich die wirtschaftliche Lage in naher Zukunft zumindest nicht verschlechtert und dass die Verfassungsänderungen nicht nur auf dem Papier stehenbleiben, sondern realisiert werden. Der Präsident hat nach dem Referendum erklärt, die jetzigen Verfassungsänderungen seien nicht der Endpunkt, sondern der Beginn der Modernisierung des Landes. Hoffen wir das Beste!

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Territorialreform in Kasachstan

Laut Präsidialdekret No. 887 vom 03. Mai 2022, mit Gültigkeit seit 08. Juni 2022 Quelle: https://adilet.zan.kz/rus/docs/U2200000887 (zuletzt aufgerufen am 30.7.2022)
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