Eine weitere »gestohlene« Revolution? – Macht und Informalität in Kirgistan

Von Aksana Ismailbekova (Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin)

Zusammenfassung
Der Regierungssturz von 2020 in Kirgistan reiht sich ein in eine Reihe von Revolutionen im Land, welche keine tatsächlichen politischen Veränderungen bewirkt haben. Warum sind sich scheinbar alle Kommentator:innen einig, dass die Revolution »den Frauen und jungen Menschen gestohlen wurde«? Und welche Folgen hat es, wenn junge Menschen den Glauben daran verlieren, dass sich an den Machtverhältnissen in ihrem Land etwas ändern lässt? Es wird argumentiert, dass es progressive Bewegungen in Kirgistan nach den jeweiligen Revolutionen bisher nicht vermocht haben, sich eine von den etablierten Eliten unabhängige Machtbasis aufzubauen. Etablierte Eliten wiederum konsolidieren ihre eigene Machtbasis, in dem sie Teile von progressiven Bewegungen in den informellen Regierungskomplex einbinden. Hierdurch werden diese in korrupte staatliche Strukturen integriert, deren Überwindung das ursprüngliche Ziel vorangegangener Revolutionen war.

Einleitung

Die Revolution in Kirgistan am 4. Oktober 2020 wurde vor allem von jenen Teilen der kirgisischen Gesellschaft getragen, die bisher am stärksten »marginalisiert« und »zum Schweigen gebracht« wurden: Frauen und junge Menschen. Angetrieben wurden diese »Revolutionäre« durch den Wunsch nach mehr Gerechtigkeit und einem Ende des Unrechts, das im aktuellen politischen System herrscht. Ihre Forderungen umfassten eine verbesserte Regierungsführung, die Einhaltung rechtstaatlicher Grundsätze, gerechte Wahlen, eine bessere Korruptionsbekämpfung, ein stärkeres Vorgehen gegen die kriminellen Netzwerke im Land und eine Abkehr vom alten, sowjetisch geprägten Regierungssystem. Die Abdankung von Präsident Sooronbaj Dscheenbekow am 15. Oktober 2020 erschien den Protestierenden wie ein Signal, dass sie nicht nur einen Machtwechsel, sondern einen umfassenden Sieg progressiver Ideen über ein ungerechtes politisches System, Wahlfälschung und Korruption errungen hatten. Dabei hatten sie anfangs lediglich eine Annullierung der Wahlergebnisse gefordert.

In diesem Kontext ist es wichtig zu erwähnen, dass Dscheenbekow im Vorfeld eine faire Parlamentswahl versprochen hatte. Stattdessen erwies sie sich jedoch als eine der schmutzigsten Wahlen in der jüngeren Geschichte des Landes, was vor allem daran lag, dass in großem Stil Stimmen gekauft wurden. Die heftigen Reaktionen junger Menschen auf die manipulierten Wahlen weckten die Hoffnung, dass die progressiven Kräfte des Landes dieses Mal einen nachhaltigeren Sieg davon tragen könnten.

Nachdem Präsident Dscheenbekow gestürzt wurde, kamen viele seiner politischen Gefangenen frei. Unter ihnen war auch Sadyr Dschaparow, der kurz darauf die Amtsgeschäfte als Präsident übernahm. Er war 2017 verhaftet worden, nachdem ihm ein gewaltsamer Umsturzversuch vorgeworfen wurde. Während der Revolution im Oktober 2020 stellte er seine politischen Fähigkeiten unter Beweis: Er machte sich die chaotischen Zustände im Land und das entstandene Machtvakuum zunutze und konnte so schnell die Kontrolle übernehmen. Obwohl er den Rückhalt der kirgisischen Jugend und vieler Menschen auf dem Land genoss, gewann er die Präsidentschaftswahl mit einem historisch niedrigen Wahlergebnis von weniger als 40 Prozent der Stimmen der Wahlberechtigten.

Die Revolutsia, wie sie vor Ort genannt wird, mag zwar zu einem Machtwechsel geführt haben. Ob die marginalisierten Teile der kirgisischen Gesellschaft und ihre Interessen in Zukunft jedoch wirklich mehr Gehör finden werden, ist unklar. Hat die Revolution das Schweigen der jüngeren Generation gebrochen? Können Frauen nun offener am politischen Leben teilhaben? Wurden die progressiven Hoffnungen der Demonstrant:innen von den älteren Eliten und Patriarchen im Land aufgegriffen und erkennen sie diese an? Und werden sich diese progressiven Ideen langfristig in der politischen Arena behaupten können oder doch wieder an den Rand gedrängt? Binnen weniger Monate nach der Wahl der neuen Regierung begannen die anfänglichen Hoffnungen der kirgisischen Gesellschaft bereits wieder zu schwinden.

Die symbolische Bedeutung der »Lustration«

Sadyr Dschaparows Aufstieg zur Macht wurde vom Versprechen der »Lustration« begleitet. Seine Befreiung aus dem Gefängnis war dem Druck junger Aktivist:innen zu verdanken. Im Gegenzug versprach er, den Staatsapparat von den alten Garden zu säubern, um einer neuen, »unverbrauchten« Generation die Möglichkeit zu bieten, die politische Zukunft des Landes mitzugestalten. In seiner Rolle als Interims-Premierminister ernannte Dschaparow in der Zeit zwischen der Revolution und den darauffolgenden Wahlen sogar zwei prominente junge Aktivist:innen zu Minister:innen: Tilek Toktogasijew zum Agrarminister und Elmira Surabaldijewa zur stellvertretenden Premierministerin. Nach der Wahl Dschparows zum Präsidenten wurde jedoch schnell klar, dass er viele seiner früheren Versprechen brechen würde. Auch die beiden Aktivist:innen verloren ihre Posten wieder. Für manche seiner Anhänger:innen, vor allem jenen aus ländlichen Regionen, sind solche gebrochenen Versprechen noch kein Grund zur Enttäuschung. Da sie grundsätzlich alle Politiker:innen für korrupt halten, gingen sie ohnehin davon aus, dass sich auch Dschaparow nicht an die Regeln halten werde. Er ist ihnen jedoch lieber als andere Politiker:innen, weil er zumindest Ähnliches durchgemacht hat wie sie, und sie hoffen, dass er die im Land herrschende Korruption noch zu ihrem Vorteil wenden könnte. Für diejenigen, die ihm während der Revolution zur Rückkehr auf die politische Bühne verholfen haben, ist sein Verhalten als Präsident jedoch mehr als enttäuschend. Sie befürchten, dass die versprochene Lustration nicht mehr stattfinden wird.

Wie genau eine Lustration in Kirgistan überhaupt aussehen würde, ist schwer zu sagen. Als Symbol stand sie schon immer sehr weit oben auf der politischen Agenda. Bei allen drei Revolutionen mit anschließenden Regimewechseln, die Kirgistan seit der Unabhängigkeit erlebt hat, spielte sie eine entscheidende Rolle. In der Vergangenheit mangelte es jedoch am politischen Willen, sie auch wirklich umzusetzen. Das lag daran, dass die neuen Machthaber:innen lieber an der Politik ihrer Vorgänger:innen festhielten und Lustrationen als Waffe gegen ihre eigenen Widersacher:innen gebrauchten. Hinzu kommt, dass der Begriff der Lustration nicht in allen Teilen der Gesellschaft gleich verstanden wird. Obwohl sich alle über die allgegenwärtige Korruption beschweren, finden einige Leute es zum Beispiel vollkommen in Ordnung, die Macht, die den alten Eliten entrissen wurde, an die eigenen Kinder weiterzureichen. Lustration war nichtsdestotrotz eine der zentralen Forderungen der Revolution von 2020 und bildete die Grundlage zahlreicher Kundgebungen. Aktivere Teilnehmer:innen der Revolution sind sich der Tatsache, dass sie von Dschaparows Agenda verschwunden ist, daher schmerzlich bewusst.

Die »gestohlene« Revolution

Warum lässt sich nun aber von einer »gestohlenen« Revolution sprechen? Trotz ihrer großen Altersunterschiede, verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten und politischen Ansichten schaffte es die progressive Generation, geschlossenen Widerstand gegen Gesetzlosigkeit, Willkür, Missbrauch administrativer Ressourcen, Bestechung und Manipulation zu leisten. In der politischen Arena konnten sich progressive Ideen trotzdem nicht durchsetzen und spielen dort auch weiterhin nur eine untergeordnete Rolle. Teilweise lässt sich diese Tatsache damit erklären, dass die Politik über bewährte Mittel verfügt, die politischen Aktivitäten junger Menschen zu sabotieren oder zu verhindern, zu denen auch unrechtmäßige Methoden wie Bedrohung, Gewalt, Erpressung und Verfolgung gehören.

Aber auch wenn sie nicht solchen Methoden ausgesetzt sein würde, würde es der progressiven Generation an politischer Durchsetzungskraft mangeln. Verglichen mit den etablierten politischen Kräften verfügt die jüngere Generation über zu wenig Ressourcen, politischen Einfallsreichtum und Vernetzungsfähigkeit. Kleine Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen entwickeln sich schnell zu unüberbrückbaren politischen Gräben. Als 2020 Versuche zur Bildung von Koalitionen unternommen wurden, schaffte es die Reforma-Partei zum Beispiel nicht, sich mit einer der beiden anderen Oppositionsparteien, Ata-Meken oder Respublika, auf eine Zusammenarbeit zu einigen, da keine von ihnen dazu bereit war, von eigenen Prinzipien abzurücken. Wahrscheinlich ist der Idealismus junger, politisch aktiver Menschen schlichtweg zu groß. Ihnen liegt die Vorstellung fern, dass es sich bei der Politik um ein »dreckiges, unfaires Geschäft« handelt. Womöglich müssten sie jedoch flexibler, kompromissbereiter und manchmal auch manipulativer sein, um ihre Ziele durchsetzen zu können – auch dann, wenn es ihnen eigentlich um eine Stärkung der »Prinzipien guter Regierungsführung« geht.

Das Scheitern der Protestbewegungen von 2020 hat allem Anschein nach auch mit den politischen Prägungen der kirgisischen Bürger:innen zu tun. Vereinfacht gesagt hätten die Demonstrant:innen überzeugend darstellen müssen, wie liberale Vorstellungen von Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung durch frühere revolutionäre Generationen verraten wurden. Nur so hätten sie ihrer politischen Agenda Wirksamkeit verleihen können. Die Aufstände von 2020 haben dem Kampf für einen wirklichen Wandel im Land auch deshalb geschadet, weil wichtige Aspekte wie die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Sprachbarrieren zwischen kirgisisch- und russischsprachigen Bürger:innen, ungleiche Bildungschancen, Armut, Klassenunterschiede und soziale Ungleichheit einfach ausgeblendet wurden. All diese Faktoren bestimmen jedoch die politischen Interessen verschiedener Wähler:innengruppen. Auf dem Land glauben viele Menschen nicht mehr an liberale Gerechtigkeitsvorstellungen, demokratische Prinzipien und den Kampf gegen die Korruption.

Alles in allem kann die Revolution aufgrund ihres Scheiterns als »gestohlen« bezeichnet werden. Zwar konnten die von jungen Menschen getragenen Bewegungen die staatlichen Behörden zu fairen Parlamentswahlen zwingen. Die von ihnen bewirkten Veränderungen an der Staatsspitze waren jedoch rein kosmetischer Art. Wie bereits nach den Revolutionen von 2005 und 2010 konnten sich die etablierten politischen Netzwerke auch dieses Mal an der Macht halten. Bei allen drei Revolutionen verwarfen die aus ihnen hervorgegangenen Übergangskoalitionen ihre anfänglichen Versprechen und nutzen stattdessen die instabile Situation im Land für ihre eigenen Zwecke aus. Die Forderungen der Frauen und der kirgisischen Jugend – die ohnehin gespalten ist – blieben dabei auf der Strecke.

Jedoch wurde die Revolution nicht komplett »gestohlen« – genauso wie auch frühere nicht. Erstens ist es schwer vorstellbar, wie die jungen Aktivist:innen hätten gewinnen können, selbst wenn alle Bedingungen zu ihren Gunsten gewesen wären: Wie auch von jungen Menschen angeführte Revolutionen andernorts hatten die Bewegungen von 2020 weder eine Alternative zum existierenden parlamentarischen System und seinen Prozeduren anzubieten, noch hatten sie überhaupt das Ziel, die Macht zu übernehmen. Zweitens konnte die Revolution auch einige Gewinne erzielen. Manche Gruppen vermochten es, in der weiter existierenden Grauzone zwischen revolutionären Bewegungen und alten Eliten den mobilisierenden Geist von ersteren in kleine Siege gegenüber letzteren zu übersetzen.

Informelle Arten der Regierungsführung

Angesichts der überproportionalen Macht des politischen Establishments ist es überall auf der Welt für junge Menschen schwierig, eine nachhaltig wirksame politische Opposition zu bilden. Im Folgenden wird jedoch ein Blick auf die andere Seite der Medaille geworfen. Dabei steht weniger die Frage im Mittelpunkt, warum von jungen Menschen ausgehende Revolutionen trotz ihres zunehmenden Organisationsgrades immer wieder scheitern, sondern vielmehr, wie die ältere Generation es immer wieder vermag, sich an der Macht zu halten, während sie gleichzeitig Menschen mit neuen Ideen absorbiert.

Wer in Kirgistan politisch Erfolg haben möchte, muss mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen von sozialen Beziehungen umgehen und sie für sich zu nutzen wissen. Erfolgreiche Politiker:innen (und Parteien) stützen sich auf umfangreiche informelle Netzwerke. Durch die Arbeit mit und innerhalb dieser Netzwerke werden die revolutionären Bemühungen »der Jugend« immer wieder unterlaufen. Auch der neue Präsident Dschaparow ist sehr geschickt darin, sich unterschiedliche Arten von informellen Netzwerken zunutze zu machen, ob Verwandtschaftsbeziehungen und Heiratsallianzen, Freundschaften, Patronage und Klientelismus, Geschäftskontakte oder Verbindungen zu korrupten und kriminellen Beamten. Vor dem Hintergrund dieser informellen Netzwerke lässt sich das Scheitern der Revolution, aber auch der Erfolg der älteren Generation besser analysieren und erklären. Dschaparows Beteuerungen, etwas verändern zu wollen, mögen anfangs ehrlich gewesen sein, seine tatsächliche Regierungspraxis spricht mittlerweile jedoch eine andere Sprache.

Die Effektivität informeller Netzwerke besteht in ihrer Flexibilität und der mit ihnen einhergehenden Möglichkeiten, mit verschiedenen Akteuren ins Gespräch zu kommen. Mit ihrer Hilfe können politische Akteure Macht gewinnen und monopolisieren sowie politischen Rückhalt sichern. Sie versprechen sich von diesen Netzwerken vor allem Zugang zu politischen Ressourcen und persönlichen Einflussgewinn. Weitere wichtige Aspekte informeller Netzwerke sind u. a. Kooptation (die ergänzende Aufnahme von Mitgliedern durch die übrigen Mitglieder einer Gemeinschaft) und die Etablierung einer politischen Unterstützer:innenbasis.

Der Erfolg der alten Eliten basiert darauf, dass sie gezielt eigene Interessen verfolgen, indem sie sich lukrative Geschäfte sichern, ihren Kindern Regierungsposten verschaffen und bestimmte Privilegien auf den Kreis ihrer engsten Vertrauten beschränkt halten. Dadurch stabilisieren sie das bestehende Machtsystem und reproduzieren altbewährte politische Strategien; indem sie ihre Entscheidungen ausbalancieren, wahren sie erfolgreich ihre eigenen Interessen. Hier trifft die Beobachtung des Soziologen James Coleman zu, dass die Verwirklichung eigener Interessen am besten durch die Fähigkeit zum gegenseitigen Austausch von Macht über bestimmte Handlungen, die diesen Interessen entsprechen, erzielt wird.

Der Anthropologe Marshall Sahlins hat das Verhältnis zwischen der Dimension sozialer Distanz (die sich auf unterschiedliche Beziehungsformen wie Verwandtschaft, Interessensgruppen, Geschäftskontakte, kriminelle Netzwerke und Korruption unter Beamt:innen bezieht) und verschiedenen Formen der Wechselseitigkeit (generalisiert, ausgeglichen, negativ) konzeptualisiert. Sahlins’ Konzeptualisierung hilft zu verstehen, wie Praktiken der informellen Vernetzung in Kirgistan ins soziale Leben und moralische Wertesysteme eingebettet sind.

Generalisierte Wechselseitigkeit: Verwandtschaft und Heiratsallianzen

Formen generalisierter Wechselseitigkeit finden sich in Beziehungen der familiären Verwandtschaft, Verwandtschaft durch Eheschließung (kuda söök), Freundschaft und der rituellen Verwandtschaft (ökül bala; zum Beispiel Patenschaften). Im Gegensatz zu anderen Formen der Wechselseitigkeit sind die Kosten für die Beteiligten in solchen Austauschbeziehungen gering, da sie nicht mit der Erwartung unmittelbarer Gegenleistungen verbunden sind und auf Faktoren wie gegenseitiger Unterstützung, Vertrauen und Solidarität beruhen. Generalisierte Wechselseitigkeit ist ein wichtiger Bestandteil informeller Politik, da es schwieriger ist, sich aus Verwandtschaftsbeziehungen zu lösen, die durch generalisierte Wechselseitigkeit geprägt sind, als mit ehemaligen Parteikolleg:innen zu brechen. Dschaparow hat Schlüsselpositionen in seiner Regierung, wie das Amt des Premierministers und des Sicherheitschefs, mit angeheirateten Verwandten und engen Freunden besetzt (z. B. mit Kamtschybek Taschijew, der aktuell Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Nationale Sicherheit ist). Diese haben wiederum ihre eigenen nahen und entfernten Verwandten in entsprechende Posten gebracht, um das Netzwerk weiter zu konsolidieren.

Ausgeglichene Wechselseitigkeit: Geschäftsbeziehungen und politische Parteien

Abseits von Verwandtschaftsbeziehungen und Heiratsallianzen macht Dschaparow sich Beziehungen zunutze, die auf einer ausgeglichenen Form der Wechselseitigkeit beruhen. Dabei handelt es um einen interessensbasierten Austausch zwischen verschiedenen Gruppen (politische Parteien, wirtschaftliche Verbände und korrupte Beamte). Ausgeglichene Wechselseitigkeit kennzeichnet Transaktionen zwischen Parteien mit bestimmten gemeinsamen Interessen, die kurz- oder langfristig vom gegenseitigen Austausch profitieren. Ein Gefallen, eine Dienstleistung oder die Erfüllung anderer Bedürfnisse können auch erst zu einem späteren Zeitpunkt erwidert werden, entscheidend für den Austausch sind Vertrauen, gemeinsame Interessen und Verbindungen.

Mit der Unterstützung des Parlaments konnte Dschaparow sich in kürzester Zeit die Macht sichern. Ihm war bewusst, dass es sich bei der Mehrheit des Parlaments um Unternehmer:innen handelt, die ihr Geschäft schützen wollen. Ihre politische Prinzipien sind nur schwach ausgeprägt, weshalb sie dazu bereit sind, Präsident:innen zu unterstützen, solange sie sich davon den Schutz ihrer eigenen Geschäftsinteressen versprechen, auch wenn es sich um einen Präsidenten handelt, der zu seinen Gunsten die Verfassung ändern möchte.

Negative Wechselseitigkeit: kriminelle Netzwerke und korrupte Beamte

Austauschbeziehungen zeichnen sich durch negative Wechselseitigkeit aus, wenn sich eine Seite Vorteile auf Kosten der anderen sichert. Zu Dschaparows informellem Netzwerk gehören auch kriminelle Strukturen und für ihre Korruption bekannte Personen, die ihm dabei helfen sollen, seine Macht zu erweitern. Ein Beispiel ist die Matraimow-Familie, eine oligarchische, korrupte und supranational agierende kriminelle Organisation um den Geschäftsmann Rajymbek Matraimow. In Kirgistan gilt Matraimow vielen Menschen als Symbol der Korruption. Sie fordern u. a. eine Reduzierung des Einflusses von Matraimow auf die Politik und eine Rückzahlung der von ihm veruntreuten Gelder. Seine Verbindungen zu Matraimow haben deshalb Zweifel an Dschaparows Legitimität aufkommen lassen.

Während der Revolution und des anschließenden Wahlkampfes versprach Dschaparow, dass er Matraimow vor Gericht bringt, wenn er zum Präsidenten gewählt würde. Tatsächlich wurde Matraimow festgenommen und war einen Monat lang in Haft, kam dann jedoch wegen »Gesundheitsproblemen« wieder frei. Der wahre Grund für seine Freilassung lag wahrscheinlich in einer vorherigen Abmachung, in deren Rahmen er Dschaparow für die anstehende Wahl finanzielle und politische Unterstützung zugesichert hat. Zur Zufriedenstellung beider Seiten musste Dschaparow eine negative Wechselseitigkeit mit Matraimow herstellen, in der auch beide Seiten Kosten akzeptieren mussten: Matraimow verlor finanzielle Ressourcen, während Dschaparow gegenüber einer kleinen Gruppe Oppositioneller, nicht aber gegenüber der Mehrheit der Menschen im Land, an Autorität einbüßte.

Fazit

Kirgistans politisches System gleicht einem Karussell. Jede Umdrehung, jede politische Krise bring nur eine »neue« Version desselben alten Systems hervor. Der Beitrag hat versucht eine Einschätzung darüber zu geben, welche Aussichten die Oppositionsbewegungen nach 2020 noch haben, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Die aufgezeigten internen Dynamiken informeller Netzwerke werden durch spezifische Formen von Wechselseitigkeit definiert, die wiederum durch die Wirksamkeit struktureller sozialer Mechanismen geprägt sind. Dies wirft die Frage auf, was Vertreter:innen nicht-korrupter Netzwerke von korrupten Netzwerken lernen können. Einerseits sehen wir die Entstehung von Jugendbewegungen, die sich den alten Eliten widersetzen. Andererseits sehen wir aber auch, dass es sich bei jungen Nachwuchspolitiker:innen und politischen Neubesetzungen in der Regel um leibliche oder »rituelle« Kinder der alten Eliten handelt. Es scheint so, als ob etablierte soziale Beziehungen unverändert als eigentlichem Medium politischen Handelns fortbestehen; ohne relevante soziale Beziehungen bleiben politische Prinzipien wenig wert.

Es ist wichtig hervorzuheben, welche Macht junge aktivistische Gruppen in den sozialen Medien besitzen, durch die sie ihren Stimmen heutzutage mehr Gehör verschaffen können als je zuvor. Anstelle der alten Stimmen möchte die junge Opposition einer neuen Generation einen Platz in der Politik verschaffen und ihr Möglichkeiten eröffnen, das Land im Rahmen formaler Gesetze politisch voranzubringen. Trotz ihrer gut organisierten Präsenz im öffentlichen Raum haben die progressiven Bewegungen jedoch bisher keine Veränderungen des politischen Regimes erreicht – weil sie noch keinen Weg gefunden haben, eine von den alten Eliten unabhängige Machtbasis aufzubauen.

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Lesetipps / Bibliographie

  • Coleman. James. Individual interest and collective action. Selected essays. Cambridge: Cambridge University Press, 1986.
  • Sahlins, Marshall D. Stone Age Economics. London: Routledge. 2009 (1972).

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