Kein Weg mehr zurück. Philosophie und Stand des Reformprozesses in Usbekistan vor dem Hintergrund der Verfassungsreform 2023

Von Rustam Makhmudov (University of World Economy and Diplomacy (UWED), Taschkent)

Zusammenfassung
Die kürzliche Verfassungsreform in Usbekistan, die am 30. April 2023 per Referendum gebilligt wurde, ist das Ergebnis der komplexen Reformprozesse im Land seit der Wahl von Schawkat Mirsijojew zum Präsidenten im Jahr 2016. Im Rahmen dieser Prozesse soll die usbekische Gesellschaft aus einer langen Phase der Stagnation in ein neues Stadium sozialen Wandels und wirtschaftlichen Aufbruchs überführt werden. Im Mittelpunkt steht die Ermutigung der Bürger:innen, ihre Fähigkeiten und ihr Humankapital für die wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Entwicklung des Landes einzusetzen. Der Beitrag untersucht die bestimmenden Rationalitäten und zentrale konzeptionelle Grundlagen des usbekischen Reformprozesses, dessen jüngstes Ergebnis die Ausarbeitung und Verabschiedung einer reformierten Verfassung ist.

Einleitung

Die Verfassungsreform in Usbekistan ist Teil eines größeren Reformprozesses, der 2016 von dem zweiten Präsidenten Schawkat Mirsijojew angestoßen wurde. Mirsijojews erklärtes Ziel ist seitdem die grundlegende Transformation der usbekischen Gesellschaft, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sowie eine Neujustierung von Innen- und Außenpolitik. In dem Zusammenhang hat die Verfassungsreform drei Zwecken gedient: a) die verfassungsmäßige Verstetigung von positiven Entwicklungen seit den letzten sieben Jahren durch die Einführung von legalen Rahmenbedingungen, die eine Rücknahme erfolgreicher Reformen ausschließen; b) die Stärkung der nationalen Resilienz angesichts gegenwärtiger Entwicklungen in der Weltpolitik; sowie c) die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für die weitere langfristige Entwicklung des Landes. Dabei ist die reformierte Verfassung als solche Ausdruck und Resultat einer veränderten Entwicklungsphilosophie seit 2016, die für die Umsetzung von Mirsijojews Reformen handlungsleitend ist. Im Folgenden wird daher ein Blick auf diese oft vernachlässigten ideellen Grundlagen des Reformprozesses geworfen, welcher ohne diese nicht verstanden werden kann.

Die Veränderung der usbekischen Entwicklungsphilosophie seit 2016

Betrachtet man die zentralen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsparadigmen in Usbekistan vor 2016 wird schnell klar, dass diese im erheblichen Maße von Sicherheitsrationalitäten geprägt waren. Das lässt sich in vielerlei Hinsicht durch die spezifischen regionalen und globalen Bedingungen der 1990er- und 2000er Jahre erklären: unter den damaligen Umständen zielte das Handeln der usbekischen Regierung vor allem auf die Wahrung der Stabilität des Landes ab. Die Nebeneffekte bestanden in einer Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Abnahme gesellschaftlicher und politischer Aktivitäten und einer Abkühlung oder Komplizierung der Beziehungen zu anderen zentralasiatischen und westlichen Staaten. Schnell zeichnete sich ab, dass der Kurs das Land langfristig in die Stagnation führt. Es kamen Befürchtungen auf, dass Usbekistan in seiner Entwicklung dramatisch hinter andere Staaten zurückfallen und den Anschluss an wichtige Fortschritte in den Bereichen Technologie und Forschung verlieren würde.

Hierbei geht es in erster Linie um eine neue Welle von jüngeren Innovationen im Feld digitaler Fertigungstechnologien und cyber-physischer Systeme, seit deren Aufkommen sich das ökonomische und intellektuelle Antlitz der Welt zunehmend verändert. Der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, hat für diesen Vorgang den Begriff der »Vierten Industriellen Revolution« geprägt. Die Geschichte zeigt schließlich, dass jede industrielle Revolution – angefangen bei der ersten industriellen Revolution im Vereinigten Königreich des 18. Jahrhunderts – nicht nur die ökonomischen Grundlagen von Gesellschaft transformiert, sondern auch zu einer tiefgreifenden Veränderung von Kultur und Wertesystemen führt. Zudem bestimmt der Besitz von industriellen Schlüsseltechnologien einer jeden Epoche über die Verteilung von Macht und Wohlstand unter den Staaten.

Die vierte industrielle Revolution, in deren Rahmen eine umfassende Digitalisierung stattfindet und sich zunehmend künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, Roboter, grüne und »smarte« Energieerzeugung sowie erste Quanten- und Biotechnologien durchsetzen, eröffnet für entwickelte und weniger entwickelte Länder gleichermaßen neue Möglichkeiten. Letztere, also auch Usbekistan, können durch die Nutzung derartiger Technologien langfristige Quellen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand der breiten Bevölkerung erschließen. Auch können sich Entwicklungs- und Schwellenländer dadurch als vollwertige Akteure innerhalb globaler Produktionsketten und Handelsnetze behaupten und am internationalen Austausch von wissenschaftlichem und technologischen Know-how teilnehmen.

Allerdings entstehen innovative Technologien nicht aus dem Nichts. Sie sind das Ergebnis einer Vielzahl miteinander interagierender Faktoren innerhalb einer Gesellschaft und Volkswirtschaft. Ein Blick auf die technologisch führenden Länder offenbart Gesellschaften mit einer allgemein liberalen Atmosphäre, die sich durch demokratische Institutionen, Achtung der Menschenrechte, freies Unternehmertum und Freiheit der Wissenschaft auszeichnet. Es sind auch die Länder, die am stärksten in die globale Wirtschaft und den Austausch von Ideen und Technologien eingebunden sind. Hier zeigt sich auch, welche Faktoren technologische Innovation behindern. In ihrem 2012 erschienenen Bestseller »Why Nations Fail« haben die Ökonomen Daron Acemoğlu und James A. Robinson die Dominanz »extraktiver Institutionen« als Hauptgrund für stagnierendes Wirtschaftswachstum und ausbleibenden Wohlstand identifiziert. Zwar sind die Entwicklung von Hightech-Produkten und -Verfahren in einer Gesellschaft, in der extraktive politische und wirtschaftliche Institutionen dominieren, in einer bestimmten Phase möglich; doch werden zur Erschließung langfristiger Quellen von Innovation inklusive Institutionen benötigt, die sich durch die größtmögliche Teilnahme an politischen und wirtschaftlichen Prozessen auszeichnen. Acemoğlu und Robinson haben Usbekistan damals zu den Ländern mit extraktiven Institutionen gezählt.

Auch ist die Entwicklung einer modernen Volkswirtschaft nicht möglich, wenn ein Land nicht in globale Liefer- und Wertschöpfungsketten integriert ist, sowie zuverlässige Absatzmärkte fehlen und kein Zugang zu ausländischem Kapital in Form von Direktinvestitionen besteht. Doch Investitionen sind nur dann zielführend, wenn sie nicht nur dem Streben nach Gewinn dienen, sondern ebenfalls gemeinsame Werte stärken, die zum Beispiel die Entstehung einer regionalen »Sicherheitsgemeinschaft« ermöglichen, die wiederum Stabilität fördert und dadurch (im Idealfall) weitere Investitionen anzieht. Vor 2016 war Usbekistan für ausländische Investoren weder besonders profitabel, noch wurde das Land unter der Bevölkerung Zentralasiens als konstruktiver Akteur für die gemeinsame regionale Sicherheit empfunden. Es ist also wenig überraschend, dass ein nachhaltiges bzw. qualitatives Wirtschaftswachstum ausblieb. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage stand Usbekistan damals vor zwei großen Herausforderungen:

Die erste war das Bevölkerungswachstum. Während das Land zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1991 noch fast 21 Millionen Einwohner hatte, so waren es 2016 schon fast 32 Millionen. Im April 2023 wurde die Marke von 36 Millionen erreicht. Schon 2016 war klar, dass die extraktive Wirtschaft alten Typs der wachsenden Bevölkerung nicht genügend angemessen entlohnte Arbeitsplätze bieten können wird. Die Arbeitslosigkeit stieg auch nach 2016 weiter an, genauso wie die Arbeitsmigration ins Ausland, wodurch die angespannte Situation auf dem nationalen Arbeitsmarkt zumindest etwas gemildert wurde. Auch war ein zunehmender Brain-Drain zu beobachten.

Die zweite Herausforderung bestand in der allmählichen Abnahme der eigenen Vorräte an Energieressourcen wie Erdöl und Erdgas. Das erforderte sowohl die strategische Neuorientierung als auch eine technologische Transformation der Wirtschaft. Beides setzte schließlich einen neuen Ansatz in der Außenpolitik voraus. Die dritte Herausforderung sind die Folgen ökologischer Katastrophen und des Klimawandels. Usbekistan leidet bis heute stark unter der Austrocknung des Aralsees, einer der größten Umweltkatastrophen des 20. Jahrhunderts. Außerdem zeigen sich für Usbekistan zunehmend negative Folgen des Klimawandels, vor allem in Form von Wassermangel, Desertifikation und Bodendegradierung. Veraltete und ressourcenintensive Technologien in Industrie und Landwirtschaft hatten zum Zeitpunkt der Machtübernahme Mirsijojews also genauso ausgedient wie die Vorstellung, dass alleiniges wirtschaftliches Wachstum – ohne Nachhaltigkeit – alle Probleme lösen kann (im Englischen auch »growthism« genannt).

Fortschritte von Mirsijojews Reformprogramm unter dem Primat der »Ökonomisierung«

Im Jahr 2016, als Mirsijojew zum Präsidenten gewählt wurde, war Usbekistan in einer Situation, in der die Entwicklungsrichtung des Landes und die Methoden der staatlichen Verwaltung grundlegend verändert werden mussten. Hierfür brachte der neue Präsident die »Strategie zur Umsetzung von Maßnahmen in fünf prioritären Bereichen der nationalen Entwicklung im Zeitraum 2017–2021« auf den Weg. Diese fünf Bereiche sind

  • die Weiterentwicklung von Staat und Gesellschaft in Richtung allgemeiner Demokratisierung; die praktische Implementierung öffentlicher Kontrollmechanismen sowie die Stärkung von Medien und zivilgesellschaftlichen Institutionen;
  • die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit;
  • die Liberalisierung und Entwicklung der Wirtschaft;
  • die Entwicklung des sozialen Bereichs mit dem Ziel, die Beschäftigung und Realeinkommen der Bevölkerung zu erhöhen; die Verbesserung des Systems der sozialen Absicherung, die Förderung des politischen und gesellschaftlichen Engagements von Frauen und eine Aktualisierung der Jugendpolitik; und
  • die Gewährleistung von Sicherheit, interethnischer Harmonie und religiöser Toleranz; sowie die Umsetzung einer ausgewogenen, konstruktiven und gegenseitig vorteilhaften Außenpolitik, die auf eine Stärkung der Unabhängigkeit und Souveränität des usbekischen Staates, die Schaffung einer Sicherheitszone um Usbekistan, die Förderung von Stabilität und guter Nachbarschaft und eine Verbesserung des internationalen Images des Landes ausgerichtet ist.

Ein auffälliges Merkmal der bisherigen Umsetzung dieser damals definierten Entwicklungsziele, die maßgeblich die Richtung des Reformprozesses vorgeben, ist die Ablösung der Sicherheitsrationalität durch eine der »Ökonomisierung«. Im Rahmen dieser neuen handlungsleitenden Rationalität wird vor allem das Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung, wie auch der gesellschaftlichen Modernisierung an sich, als eine Frage von sozialer und technologischer Innovation begriffen. Die Frage der Sicherheit nimmt in dieser Rationalität eine zweitrangige Rolle ein und gilt in dem Zusammenhang als bloße Bedingung für den Erfolg von multilateralen Wirtschafts- und Entwicklungsprojekten und die Anziehung ausländischer Investitionen. Auch die Versuche, neue Partnerschaften mit internationalen Wirtschafts- und Finanzakteuren zu knüpfen, dienen dem Zweck, das internationale Vertrauen in den Wirtschaftsstandort Usbekistan zu stärken und neue Märkte zu erschließen.

Eine weitere Besonderheit, die sich bei der Umsetzung der Reformziele unter der neuen vorherrschenden Rationalität der »Ökonomisierung« zeigt, ist die zunehmende Synchronisation von Innen- und Außenpolitik. Hierbei ist vor allem der Durchbruch zu nennen, den Usbekistan in seinen Beziehungen zu den anderen zentralasiatischen Staaten, vor allem zu Kirgistan und Tadschikistan, erreicht hat. Wie erhofft haben hiervon vor allem die usbekische Industrie und Landwirtschaft profitiert, die ihr Import- und Exportgeschäft mit Kirgistan und Tadschikistan massiv ausbauen konnten. Bis zum Beginn der Reformen 2016 waren die Beziehungen zwischen Taschkent und Bischkek bzw. Taschkent und Duschanbe, vor allem wegen Grenzstreitigkeiten und Differenzen bei der Nutzung geteilter Wasserressourcen, sehr kompliziert. Schließlich hat Mirsijojew bereits kurz nach Antritt seiner Präsidentschaft eine rasche Wiederannäherung zwischen Usbekistan und diesen beiden Nachbarstaaten eingeleitet, was in einer regelrechten Explosion des Handelsvolumens resultierte. Im Zeitraum zwischen 2017 und 2022 verfünffachte sich der Handel zwischen Usbekistan und Kirgistan von 253,7 Millionen auf 1,26 Milliarden US-Dollar. Im Handel mit Tadschikistan hat sich das Volumen im gleichen Zeitraum von 237,9 auf 674,4 Millionen US-Dollar fast verdreifacht.

Auch im Handel mit Kasachstan und Turkmenistan war eine rasche Zunahme des Volumens zu beobachten, was auf die gesteigerte Interaktion usbekischer Firmen mit ausländischen Partnern zurückzuführen ist. Das bilaterale Handelsvolumen mit Kasachstan stieg im Zeitraum zwischen 2017 und 2022 von 2 auf 4,6 Milliarden US-Dollar, mit Turkmenistan sogar von 177,9 auf 926,3 Millionen US-Dollar. Insgesamt stieg das Handelsvolumen Usbekistans mit den vier anderen zentralasiatischen Staaten in den fünf Jahren von 2,6 auf 7,5 Milliarden US-Dollar. Dadurch wurde die Region insgesamt zum drittgrößten Handelspartner Usbekistans, nach Russland (9,3 Mrd. USD) und China (fast 9 Mrd. USD).

Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Verknüpfung von außen- und innenpolitischer Strategie ist zunehmende Integration Usbekistans in den internationalen Finanz- und Investitionsmarkt. Seit dem Beginn der Reformen 2016 hat Usbekistan zum ersten Mal in seiner Geschichte belastbare Kreditratings der »Großen Drei« (Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch) erhalten. 2019 hat Usbekistan erstmals Eurobonds emittiert, mit einem Gesamtvolumen von einer Milliarde US-Dollar und Laufzeiten von fünf oder zehn Jahren. 2021 hat Usbekistan im Rahmen des Allgemeinen Präferenzsystems Plus (APS+) von der EU den Status eines Präferenzlandes erhalten. Auch die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank wurde intensiviert, was das Vertrauen ausländischer Investoren in den Wirtschaftsstandort Usbekistan ebenfalls gestärkt hat. Ein Blick auf die Statistik belegt den Erfolg dieser Schritte. In den vergangenen fünf Jahren wurden Ausländische Direktinvestitionen (FDI) im Gesamtwert von 31 Milliarden US-Dollar angezogen, wodurch das Volumen der Industrieproduktion um 40 Prozent und das der Exporte um 50 Prozent gesteigert werden konnte.

Das zunehmende Vertrauen ausländischer Investoren ist auch das Resultat des erfolgreichen Vorgehens gegen Kinder- und Zwangsarbeit. Wegen dieser hatten die Vereinigten Staaten 2010 ein Verbot für den Ankauf usbekischer Baumwolle erlassen. Über 330 Marken und Einzelhändler hatten sich im Rahmen der internationalen »Cotton Campaign« zum Boykott usbekischer Baumwolle zusammengeschlossen. Gleich nach Beginn der Reformen 2016 hat Mirsijojew innen- und außenpolitische Maßnahmen eingeleitet, um dieses Problem zu lösen. Mittlerweile haben die Vereinigten Staaten den Import von usbekischer Baumwolle wieder zugelassen und »Cotton Campaign« hat 2022 das Ende des weltweiten Boykotts verkündet. Seitdem erhält die usbekische Textilindustrie wieder Aufträge von weltweit führenden Bekleidungsmarken und Handelsketten wie C&A, Gap, Levi Strauss & Co., Tesco oder Walmart.

Auch im Bereich der vierten industriellen Revolution zeigen sich die Früchte der erfolgreichen Synchronisation von usbekischer Innen- und Außenpolitik unter dem Primat der »Ökonomisierung«, vor allem in Form der zunehmenden Einbindung des Landes in die globale Digitalwirtschaft. Zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde das Projekt »One Million Uzbek Coders« gestartet, in dessen Rahmen Programmierfähigkeiten und digitales Know-how vermittelt werden sollen. 2019 wurde der »IT-Park« in Taschkent gegründet, der sich allmählich zu einem Hauptexporteur von Softwareprodukten und Diensten im Bereich Business Process Outsourcing entwickelt. 2021 hat der IT-Park Softwareprodukte im Gesamtwert von 140 Millionen US-Dollar exportiert, 2022 waren es bereits 323 Millionen US-Dollar. Taschkent plant den internationalen Export von usbekischen Softwareprodukten und -Dienstleistungen auf eine Mrd. US-Dollar zu steigern. Durch die weitere Integration in die globale Digitalwirtschaft kann Usbekistan neue Kenntnisse, Technologien und Innovationen erlangen, die dem Land helfen werden, den Herausforderungen in den Bereichen Umwelt, Klima, Wasserverbrauch und Demographie zu begegnen.

Die Entwicklung der Digitalwirtschaft ist einer der wichtigsten Treiber der gesellschaftlichen Transformation in Usbekistan, die mit einem tiefgreifenden Wandel sozialer Werte und Normen einhergeht. Schon heute arbeiten 100.000 Fachleute in der usbekischen IT-Branche, deren gute Gehälter immer mehr Menschen anzieht. Wie in anderen Ländern auch entwickelt sich die IT-Branche zum integrativen Bestandteil einer wachsenden usbekischen Mittelschicht. In der Soziologie gilt die Mittelschicht bekanntermaßen als Trägerin einer jeden bürgerlichen Gesellschaft mit gefestigten demokratischen und liberalen Werten. Usbekistan lädt also ein, in den nächsten Jahren erneut Francis Fukuyamas These zu untersuchen, laut der eine wirtschaftliche Liberalisierung unmittelbar zu einer politischen Liberalisierung führt.

Zu guter Letzt strebt Usbekistan mit der eigenen Integration in die Weltwirtschaft eine flächendeckende Umstellung auf Green Economy an. In dem Zusammenhang soll vor allem der Ausbau von erneuerbaren Energien unter aktiver Beteiligung ausländischer Investoren vorangetrieben werden. Laut offiziellem Plan soll der Ausstoß von Treibhausgasen pro BIP-Einheit bis 2030 auf 35 Prozent des Niveaus von 2010 reduziert werden, während der Anteil erneuerbarer Energien an der Gesamtenergieerzeugung auf über 30 Prozent steigen soll. Damit befindet sich Usbekistan auf dem Weg, die Abhängigkeit der Wirtschaft von fossilen Rohstoffen zu verringern, den Rückgang der eigenen Förderung von Kohlenwasserstoffen zu kompensieren und langfristig CO2-neutral zu werden.

Die Verfassungsreform von 2023

Als Gesamtergebnis der seit 2016 implementierten Reformen kann festgehalten werden, dass sich Staat und Gesellschaft vom statischen Zustand unter dem früheren Primat der Sicherheit gelöst und seitdem zunehmend dynamisiert haben. »Dynamisierung« meint in dem Fall die Zunahme und Intensivierung von innergesellschaftlichen Trans- und Interaktionen, wodurch sich auch das System der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gezwungenermaßen weiterentwickelt. Im Vorwort der russischen Ausgabe von »Institutions, Institutional Change and Economic Performance«, einem Klassiker der Neuen Institutionenökonomik von Douglass North aus dem Jahr 1990, definiert der russische Ökonom Benzion Milner Institutionen als »Set von Regeln, vorschriftsgeleiteten Verfahren, [sowie] moralischen und ethischen Verhaltensweisen von Individuen, dem das Interesse der Maximierung von Reichtum zugrunde liegt«. Mit Verweis auf North schreibt er, dass »neue Institutionen dann entstehen, wenn eine Gesellschaft neue Gewinnmöglichkeiten erblickt, die unter dem gegebenen institutionellen System nicht genutzt werden können.«

Im Rahmen dieser Logik ist in Usbekistan die Idee einer Verfassungsreform herangereift, da die bisherige Verfassung von 1992 qualitativ nicht mehr dem Entwicklungsstand des Landes im Jahr 2022 entsprach. Die reformierte Verfassung sollte einerseits die neuen wirtschaftsliberalen Werte als rechtliche Normen kodifizieren. Andererseits sollte sie einen rechtlichen Ausgangspunkt für die weitere gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes schaffen. Aus diesem Grund wurden 27 neue Artikel in die Verfassung aufgenommen, wodurch deren Anzahl auf 155 anstieg. Die Gesamtzahl der in den 155 Artikeln definierten Verfassungsbestimmungen hat sich von 275 auf 434 erhöht, womit die Verfassung von 1992 zu rund 65 Prozent erneuert wurde.

In dieser »Generalüberholung« der Verfassung zeigte sich schließlich auch der Wunsch der herrschenden Elite, angesichts der veränderten Umstände mit der usbekischen Bevölkerung einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen. Mit einer breiten Beteiligung am Referendum von 84,5 Prozent der Abstimmungsberechtigten bzw. 16,6 Millionen Abstimmenden, von denen 90,2 Prozent die Verfassungsänderungen unterstützten, scheint mit der reformierten Verfassung tatsächlich ein neuer Gesellschaftsvertrag verabschiedet worden zu sein.

Im Rahmen der Synchronisation von Innen- und Außenpolitik unter dem Primat der »Ökonomisierung« sind vor allem die Artikel 17 und 18 der reformierten Verfassung interessant, welche die Grundsätze der Außenpolitik definieren. Die Artikel schreiben eine friedensorientierte Außenpolitik vor und behalten Usbekistan gleichzeitig die Möglichkeit bei, Allianzen zu schließen sowie Staatenbünden und zwischenstaatlichen Organisationen beizutreten, oder diese im Sinne nationaler Interessen, wie dem Wohlergehen und der Sicherheit der Bevölkerung, wieder zu verlassen. Damit kodifiziert die reformierte Verfassung auch die geopolitische Blockfreiheit Usbekistans, deren strategische Bedeutung für die weitere erfolgreiche Umsetzung des Reformkurses heute wichtiger ist als je zuvor.

Schließlich entwickelt sich das internationale Umfeld Usbekistans in eine Richtung, die eine extrem negative Dynamik für das Land entfaltet. Vor allem die drastisch verschlechterten Beziehungen der USA und EU zu Russland und die Verschärfung der geopolitischen und technologischen Konkurrenz zwischen den USA und China stellen Usbekistans außenpolitische Strategie der multivektoralen Ausgewogenheit vor Herausforderungen. Wie sich abzeichnet werden diese Entwicklungen den weltweiten Handel, die Stabilität von internationalen Finanz- und Investitionsmärkten sowie die Möglichkeiten zum globalen Austausch und Transfer von Technologien und Ideen auf Jahre hin beeinträchtigen. Mit der zunehmenden Verschärfung geopolitischer Konfrontationen wächst auch der Druck auf Entwicklungsländer, Partei zu ergreifen. Für die usbekische Führung, die sich bereits gegen eine derartige »Blockmentalität« ausgesprochen hat, ist das jedoch vollkommen inakzeptabel. Stattdessen deklariert die reformierte Verfassung die unbedingte Achtung der Normen und Grundsätze des Völkerrechts, in dessen Rahmen Usbekistan weiterhin ausgeglichene Beziehungen mit sämtlichen regionalen und globalen Akteuren unterhalten wird. Hier zeigt sich wieder die handlungsleitende Rationalität der »Ökonomisierung«, die im außenpolitischen Zusammenhang darauf abzielt, dem Land maximalen Zugang zu externen Ressourcen zu ermöglichen, um den Reformkurs fortführen zu können.

Fazit

Nach der erfolgreichen Verfassungsreform und der Verabschiedung eines neuen Grundgesetzes müssen nun alle Anstrengungen darauf gerichtet werden, dessen Normen und Bestimmungen zu beachten und umzusetzen, um einem neuen System von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen den Weg zu ebnen. Nur so kann die aktuelle Dynamik des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels aufrechterhalten und für die weitere Entwicklung des Landes genutzt werden. Usbekistan befindet sich mitten im Prozess einer tiefgreifenden Ausdifferenzierung der sozialen Verhältnisse und Lebenswelten. Die neue Entwicklungsphilosophie mit der handlungsleitenden Rationalität der Ökonomisierung wirkt als Katalysator für eine rapide Modernisierung von Staat und Gesellschaft. Die zentrale Aufgabe von Eliten, Zivilgesellschaft und Medien besteht darin, die moderne usbekische Gesellschaft in ihrer zunehmenden Komplexität gleichzeitig adäquat abzubilden und weiter zu fördern. Vom Eintritt der Republik Usbekistan in die vierte industrielle Revolution darf kein Weg mehr zurück oder daran vorbeiführen.

Aus dem Russischen von Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

  • Acemoğlu, Daron; James A. Robinson: Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty, Crown Publishers: New York, 2012.
  • Fukuyama, Francis: The End of History?, in: The National Interest, Sommer 1989; https://pages.ucsd.edu/~bslantchev/courses/pdf/Fukuyama%20-%20End%20of%20History.pdf.
  • North, Douglass: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung [Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Band 76], Mohr Siebeck: Tübingen, 1992.
  • Schwab, Klaus: Die Vierte Industrielle Revolution, Pantheon: München 2016.

Zum Weiterlesen

Analyse

Usbekistan ein Jahr unter Mirsijojew: Vom Saulus zum Paulus?

Von Shuhrat Kadirzhanov
Das unter seinem ersten Präsidenten im Inneren jahrzehntelang bewusst »eingefrorene« und nach Außen isolierte Usbekistan scheint nach Islam Karimows Tod in Bewegung geraten zu sein. Seit nunmehr einem Jahr ist sein Nachfolger Schawkat Mirsijojew bemüht, mit vielerlei Initiativen und Verordnungen die Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik des Landes zu verändern. Ob dahinter eine tatsächliche Reformagenda steckt und ob der neue Präsident überhaupt die Macht und vor allem den Willen hat, wirkliche Veränderungen durchzusetzen, wird derzeit unter Beobachtern durchaus kontrovers diskutiert. Der Autor des folgenden Textes ist in beiden Punkten recht skeptisch. Er sieht eine Reihe von marginalen Verbesserungen für die Bevölkerung, aber keine grundsätzlichen und vor allem realen Schritte in die richtige Richtung. (…)
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