Kollektivbestrafung. Zu den Implikationen des Terroranschlags auf die Crocus City Hall für die Situation zentralasiatischer Arbeitsmigranten in Russland.

Von Malika Bahovadinova (University of Amsterdam)

«Ничего, ничего не бойся,

Ни огня, ни звенящую тень,

Утром кровью своей умойся

И встряхни расцветающий день…»

.

»Nichts, fürchte dich vor nichts,

Weder dem Feuer noch dem hallenden Schatten,

Wasche dich morgens mit deinem Blut,

Und erwecke den aufblühenden Tag…«

.

Piknik in ihrem Song »Ничего, ничего не бойся«

.

Olga und Jefim[1] waren aufgeregt, als sie am Freitagabend des 22. März 2024 an der Crocus City Hall im Moskauer Vorort Krasnogorsk ankamen. Das Publikum strömte langsam in den großen Saal, in dem später die Rockband Piknik auftreten sollte. Das Konzert war restlos ausverkauft, entsprechend hoch waren die Erwartungen der eintreffenden Besucher an den Auftritt. Als Olga und Jefim durch den Eingangsbereich in Richtung Saal gingen, hörten die beiden Schreie und Lärm aus dem Bühnenbereich. Zuerst dachten sie, die Musiker stehen schon auf der Bühne und werden vom Publikum bejubelt, weshalb sie ihr Tempo in Richtung Saal erhöhten. Erst als sie die Schüsse hörten, verstanden Olga und Jefim, dass die Dinge anders lagen. Sie drehten auf der Stelle um, gingen eine Treppe runter, fanden eine Toilette und versteckten sich dort mit anderen. Sie hielten die Tür geschlossen und hofften, die Männer mit den Gewehren würden sie nicht finden. Als unter der Tür Rauch durchkam, rannten sie alle nach draußen. Es trafen bereits Krankenwagen ein und Olga schloss sich den Hilfskräften an.

An diesem Abend hat eine Gruppe von vier Männern, die mit Sturmgewehren und Messern bewaffnet waren, die Konzerthalle angegriffen. Nachdem sie die Wachen am Eingang erschossen hatten, gingen sie in die Lobby und ermordeten Besucher, die zu spät zum Konzert gekommen waren. Die Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen vier Männer, die ihre Waffen mit großer Sicherheit einsetzen und gezielt jeden erschießen, die oder der in ihr Sichtfeld kommt. Nach ihrer Tat, die nur 13 Minuten dauerte, setzten sie die Halle mit Benzin in Brand und verließen ungehindert das Gebäude. Bei dem Anschlag, dem tödlichsten in Russland seit der Geiselnahme von Beslan 2004, wurden 145 Menschen getötet und 551 weitere verletzt.

Nur zwei Tage nach diesem tragischen Ereignis wurden wir alle Zeugen eines weiteren Gewaltaktes. Am 24. März 2024 präsentierten die russischen Sicherheitsbehörden vor dem Moskauer Bezirksgericht Basmanny vier Männer, die noch in der Nacht des Anschlags während ihrer Flucht aus Moskau festgenommen wurden. Alle vier Verdächtigen wiesen Anzeichen extremer Folter auf, der sie offensichtlich während der Polizeigewahrsam ausgesetzt waren. Bei der Anklageverlesung wurde auch die Identität der vier Männer bekanntgegeben, wobei in russischen und westlichen Medien vor allem ihre tadschikische Staatsangehörigkeit und ihr Migrationsstatus herausgestellt wurden. Der russischen Öffentlichkeit schien am wichtigsten zu sein, dass einer der Männer nicht wusste, wo er in Russland gemeldet war. In Tadschikistan, der ärmsten Republik in Zentralasien, nahm man die unverhohlene Zurschaustellung von Folter durch die russischen Behörden mit Schock auf. Schließlich arbeitet jeder zehnte Staatsangehörige Tadschikistans in Russland, was auf den Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten im Land zurückzuführen ist, in dem es bis heute keinerlei Reformen gibt. Diejenigen, die wie ich zu Migration in Russland forschen, wussten sofort, dass eine kollektive Bestrafung tadschikischer Staatsangehöriger und anderer ausländischer Arbeiter in Russland bevorsteht, die sich als Welle rassistisch motivierter Rachegewalt entladen würde. Es war klar, dass Arbeitsmigranten die Hauptlast für einen Anschlag tragen würden, mit dem sie nichts zu tun hatten, für den sie jedoch trotzdem als kollektiver Sündenbock herhalten müssen.

Diejenigen, die zum Arbeiten nach Russland gehen, finden sich oft in den unteren Nischen des russischen Arbeitsmarktes wieder. Die ohnehin stark marginalisierten Arbeitsmigranten aus Tadschikistan sind daher in besonderem Maße dafür prädestiniert, den Rachegefühlen der russischen Öffentlichkeit als projektive Zielscheibe zu dienen. Zur Rationalisierung der kollektiven Bestrafung wurde umgehend das altbekannte Bild vom »illegalen Migranten« mobilisiert. Bei Polizeieinsätzen mit Codewörtern wie »illegal« sollten alle ausfindig gemacht werden, die irgendwie unter jene Kategorie fallen, die »die anderen« repräsentiert, also vor allem Menschen mit dunklerer Hautfarbe. Während Maßnahmen zur Abschiebung von Migranten intensiviert wurden und die Polizei auf der Straße wahllos Menschen mit dunklerem Phänotyp angehalten hat, wurden andernorts Geschäfte von Arbeitsmigranten angegriffen.

Es ist allerdings nicht das erste (und wohl auch nicht das letzte) Mal, dass vulnerable Arbeitsmigranten in Russland zum Ziel kollektiver Beschuldigungen werden. Und das ist natürlich kein auf Russland beschränktes Phänomen. Der amerikanische »Krieg gegen den Terror« hat einen organisatorischen Diskurs geschaffen, der sich in der Praxis zu einem globalen Krieg gegen Muslime entwickelt hat. Rechtsextreme Kräfte in Europa profitieren aktuell von einer Welle migrationsfeindlicher Stimmungen und mobilisieren dabei ebenfalls das Bild vom »illegalen Migranten« für den eigenen politischen Vorteil. In der Reaktion des russischen Staates auf den Terrorangriff zeigt sich schließlich eine Konvergenz dieser Diskurse über »die anderen«. Für Russland spezifisch ist dabei das gegenwärtige Ausmaß der offiziellen Billigung von Gewalt, die Migranten alltäglich als kollektive Bestrafung erfahren. Die Bedingungen, die dieser offiziell sanktionierten Gewalt zugrunde liegen, konnte man seit Jahren beobachten.

Russlands Migrationsgesetzgebung ist wie gemacht für die kollektive Bestrafung von Arbeitsmigranten. Aufgrund der obskuren Bestimmungen des russischen Migrationsrechts kann es Migranten in Russland sehr leicht passieren, ohne Papiere oder »irregulär« dazustehen. Nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 und insbesondere seit 2013 hat sich die russische Migrationsgesetzgebung zudem in Richtung Kriminalisierung und Finanzialisierung verschoben. Diese komplementären Entwicklungen gingen mit einer Fülle an Gesetzesänderungen und der Einführung eines elektronischen Systems zur Nachverfolgung ausländischer Staatsangehöriger einher. Unter diesem neuen System konnten Migranten fortan aufgrund von Ordnungswidrigkeiten den Status von »Illegalen« annehmen. So ziehen zum Beispiel Bußgelder für Taxifahrer die Verhängung von Wiedereinreiseverboten nach sich: drei Geldbußen für tatsächliche oder vermeintliche Verkehrsverstöße (selbst wenn diese bezahlt wurden) sind laut Strafgesetzbuch seitdem ein Grund für »illegal« erklärt zu werden. Außerhalb des offiziellen Wohnsitzes zu leben wurde ebenfalls kriminalisiert und führt zu Geldstrafen und anschließender Ausweisung mit Wiedereinreiseverbot (was im Grunde ein System der selbstfinanzierten Abschiebungen geschaffen hat, da diejenigen, die per gerichtlicher Anordnung zur Ausreise aufgefordert werden, Russland selbst verlassen müssen). Das Migrationsrecht hat sich rapide in Richtung Strafrecht verschoben und dadurch wenig überraschend neue Arten von Rechtswidrigkeiten generiert. Auch wurde 2016 der russische Föderale Migrationsdienst (FMS) aufgelöst und dessen Aufgaben dem Innenministerium unterstellt, was einmal mehr verdeutlicht hat, dass Migration fortan als Frage der inneren Sicherheit gilt.

Die Einführung eines komplizierten Systems von kostenpflichtigen Arbeitserlaubnissen (russ.: »patenty«) für ausländische Staatsangehörige aus visumbefreiten Nicht-EAWU-Ländern (wie Tadschikistan) sollte Arbeitsmigration finanzialisieren und die Präsenz von Arbeitsmigranten für den russischen Staat profitabel machen. Gleichzeitig ist die Finanzialisierung ein weiteres Mittel zur Ausweitung der staatlichen Kontrolle von Arbeitsmigranten. Für den Erhalt einer Arbeitserlaubnis muss ein Migrant eine Reihe von Tests absolvieren, darunter einen Russisch-Sprachtest und solche zur russischen Geschichte und zum Migrationsrecht. Eine weitere Voraussetzung ist der Erhalt einer medizinischen Bescheinigung über die körperliche »Eignung« für eine Arbeitstätigkeit in Russland. Dabei sind alle diese Prozeduren monetarisiert: für das »Privileg«, in Russland arbeiten zu dürfen, wird von den Migranten die Bereitschaft erwartet, Hunderte von Dollar aufzuwenden. Damit hören die Kosten aber nicht auf, da ausländische Staatsangehörige für die Arbeitserlaubnis eine saftige monatliche Gebühr zahlen müssen, die in Wirklichkeit einer Migrationssteuer entspricht. Zusammengenommen bedeutet das alles nichts anderes, als dass es für Migranten extrem schwierig und teuer ist, immer allen rechtlichen Vorgaben ihres Aufenthaltes in Russland zu entsprechen. Das bürokratisierte Verfahren für den Erhalt einer Arbeitserlaubnis dient hauptsächlich der Überwachung und Kontrolle von Migranten, die den Behörden im Verlauf der Prozedur ihre biometrischen Daten und andere Informationen bereitstellen müssen. Die staatliche Überwachung wird durch alltägliche Kontrollmaßnahmen seitens der Polizei weiter verschärft. Eines der wichtigsten Instrumente zur Identifizierung von Verstößen gegen das Migrationsrecht ist schließlich die Polizeirazzia, wobei es sich in Wirklichkeit um überfallartige Aktionen zur Einschüchterung von Migranten an ihren Arbeitsplätzen und Wohnorten handelt.

Für den russischen Staat ist die Polizeirazzia, als besonders institutionalisierte Form der Repression, seit März das Mittel der ersten Wahl, um Arbeitsmigranten und insbesondere jene aus Tadschikistan für den Anschlag zu bestrafen. Trotz der Erklärungen des russischen und tadschikischen Präsidenten, dass Terroristen keine Nationalität hätten, sehen wir anhand der Hervorhebungen in den Berichten von Polizei und Medien, dass sie sehr wohl eine haben. Für die betroffenen Migranten zeigen sich die Implikationen dieser Umstände in einer Zunahme des Racial Profiling, der verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen, der unangekündigten Durchsuchungen am Arbeitsort und der Diskriminierung auf der Straße. Die Stadtregierungen von Moskau und St. Petersburg haben sich damit gebrüstet, 1.500 »illegale« Personen ausfindig gemacht zu haben, die daraufhin auf Anordnung lokaler Gerichte ausgewiesen wurden. Traurigerweise wird das alles wohl noch eine Zeit lang so weitergehen. Auch fühlen sich ultrarechte und nationalistische Gruppen in ihrer Ausübung von Gewalt gegen unschuldige Arbeitsmigranten und Angehörige ethnischer Minderheiten in Russland weiter bestärkt, was dem ohnehin inhumanen Migrationsregime eine weitere abscheuliche Facette hinzufügt.

Vereinzelte Forderungen nach Einführung einer Visumpflicht für die zentralasiatischen Staaten werden wahrscheinlich nicht greifen: Zur Bewältigung seiner demographischen Krise braucht Russland ausländische Arbeitskräfte. Doch selbst mit den Millionen Arbeitern aus Zentralasien wird es Russland kaum möglich sein, den langfristigen Bevölkerungsrückgang aufzuhalten. Die russische Bevölkerung schrumpft jährlich um eine halbe Million und wird bis 2030 vermutlich auf 143 Millionen zurückgehen[2]. Russland wird also auch weiterhin jene aktuell besonders geringschätzig behandelten Menschen brauchen, die Häuser und Gebäude bauen, Straßen reinigen, Patienten pflegen, in den Fabriken schuften und als Studenten die Universitäten füllen. Eine grundlegende Revision der aktuellen Migrationspolitik ist daher nicht zu erwarten. Der Bedarf an Arbeitskräften wird weiter zunehmen, genauso wie die Praktiken, ausländische Staatsangehörige mittels Migrationsrecht, Polizei und Tolerierung von rechtsextremer Gewalt[3] zu disziplinieren. Es wäre jedoch ein Irrtum, den Menschen, die auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten, besseren Bildungschancen und Lebensperspektiven nach Russland kommen, jegliche Handlungsmacht abzusprechen. Die Implikationen vom Anschlag auf die Crocus City Hall machen nur deutlich, dass Migranten in Russland diese Handlungsmacht in harschen und immer brutaleren Bedingungen ausüben müssen.

Aus dem Englischen von Hartmut Schröder

Verweise

[1] https://iz.ru/1672812/2024-03-27/vyzhivshie-vo-vremia-terakta-v-krokuse-suprugi-priekhali-na-vecher-pamiati

[2] https://novayagazeta.ru/articles/2023/05/02/do-dna-iamy-v-kotoruiu-my-sezzhaem-primerno-sem-let-media

[3] https://www.sova-center.ru/files/books/pe23-text.pdf

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