Zwischen Legalität, Korruption und ethnorassistischem Profiling. Zum Umgang mit zentralasiatischen Arbeitsmigranten in Russland

Von Bhavna Dave (London)

Zusammenfassung
In der Russischen Föderation – und dort vor allem in Moskau und Sankt Petersburg – leben geschätzt 11 Mio. Zuwanderer, von denen mehr als die Hälfte Arbeitsmigranten aus Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan sind. Genaue Zahlen gibt es nicht. Ihre Arbeitskraft wird zwar dringend gebraucht, doch macht der russische Staat den Zuwanderern aus Zentralasien legale Arbeit durch sich immer wieder ändernde gesetzliche Bestimmungen und hohe bürokratische Hürden für die Beschaffung einer Arbeitserlaubnis schwer. Korrupte und mit ethnischen Vorurteilen behaftete Bürokraten und Sicherheitskräfte tun ein Übriges, um vielen Migranten den Versuch der Legalisierung ihres Status zu erschweren oder sie sogar ganz davon abzuhalten.

Im Februar 2018 wies der Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin, in einem Interview darauf hin, dass in Moskau 2 Mio. Arbeitskräfte fehlen, und fügte hinzu, dass die Stadt »leider« auf Arbeitsmigranten angewiesen sei. Vermutlich ist Sobjanin der einzige Bürgermeister einer pulsierenden globalen Metropole, der bedauert, dass seine Megacity ausländische Arbeitskräfte benötigt. Zuwanderer, insbesondere aus den zentralasiatischen Staaten, bilden das dringend benötigte Arbeitskräftereservoir für gering- oder unqualifizierte Tätigkeiten und sind aus dem Leben Moskaus, wie jeder Weltstadt, nicht wegzudenken. Sie werden aber auch beschuldigt, den Einheimischen Jobs wegzunehmen, Löhne zu drücken sowie Verwahrlosung, Krankheiten, Korruption und fremde religöse und kulturelle Praktiken einzuschleppen.

Russland ist nach den USA weltweit das Land mit den meisten Zuwanderern. Die Kategorie »Migranten« ist nicht genau definiert. Hierunter fallen ethnische Russen und Russischsprachige aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die auf eigene Faust oder im Rahmen des Programms zur freiwilligen Übersiedlung von Landsleuten (sooteschestwenniki) nach Russland kommen, Flüchtlinge und Binnenvertriebene aus diversen Konfliktzonen, Studenten sowie seit Anfang der 2000er Jahre Arbeitsmigranten aus der Ukraine, Moldawien, Aserbaidschan, Armenien, Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan. Das Ausmaß der Arbeitsmobilität, der unterschiedliche Rechtsstatus der einzelnen Migrantengruppen sowie die Vielzahl der für sie geltenden Vorschriften machen differenzierte Datenerhebungen unmöglich.

Nach Schätzungen sind von den 146 Mio. in Russland lebenden Menschen ca. 12 bis 15 Mio. Migranten. In Moskau sind laut der letzten Volkszählung (2010) offiziell 11,5 Mio. Einwohner registriert. In der Großregion Moskau, d. h. innerhalb des Autobahnrings, leben 17 Mio. Menschen. Damit ist Moskau die größte Stadt Europas. Von den ca. 3 Mio. Arbeitsmigranten in Russland sind schätzungsweise 26–30 % in Moskau und Umgebung konzentriert. Sankt Petersburg, die zweitgrößte Stadt des Landes, ist nicht einmal halb so groß und seine Bevölkerung beträgt etwa ein Drittel der Einwohnerschaft der Hauptstadt. Ca. 52 % aller Migranten in Russland sind in diesen beiden Städten und den umliegenden Gebieten konzentriert. Am sichtbarsten sind die Zuwanderer aus Zentralasien – aus Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan – die zusammen ungefähr 60 % aller Migranten ausmachen.

Russlands demographische Herausforderungen

Russland zeigt zunehmend Merkmale eines Einwanderungslandes, doch in offiziellen Dokumenten und der öffentlichen Debatte wird der Begriff Einwanderung nicht verwendet, sondern die Wörter Migration und Migrant benutzt, um sowohl Binnenwanderungen (vom Land in die Stadt und von Gebieten jenseits des Ural in das europäische Russland) als auch Zuwanderung aus den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zu erfassen. In den 2000er Jahren war es nicht ungewöhnlich, Migranten aus Zentralasien als »gastarbeitery« zu bezeichnen, was einen abfälligen Beiklang hatte. Heutzutage werden die Zentralasiaten meist »Arbeitsmigranten« (trudovye migranty) genannt.

In dem 2012 von Präsident Wladimir Putin nach ausführlichen Beratungen mit Wissenschaftlern, Interessenvertretern und anderen Akteuren abgesegneten »Migrationskonzept« wurden neue Ziele und ein strategischer Plan für die russische Migrationspolitik formuliert. Das Konzept, in dem offen gefordert wurde, dass Russland für Migranten attraktiver werden müsse, weckte Hoffnungen auf eine liberale Wende in den Migrationsgesetzen und der Migrationspolitik. Aber viele der seither verabschiedeten Gesetze und Verordnungen weichen eher von den zentralen Zielen des Konzepts ab, widersprechen ihnen teilweise sogar und machen sie zunichte.

Bei der Wahl des Moskauer Bürgermeisters im September 2013 spielte das Thema Migration eine zentrale Rolle. Sowohl Amtsinhaber Sobjanin wie auch der Kandidat der Opposition, Aleksej Nawalny, bedienten sich nationalistischer, migrationsfeindlicher Rhetorik und versprachen den Moskauern bessere Jobmöglichkeiten und die »Säuberung« der Stadt von illegalen Migranten. Nawalny übertraf Sobjanin sogar noch in seiner Radikalität, indem er die Einführung einer Visumspflicht forderte, um die Zahl der Migranten aus Zentralasien zu beschränken.

Seit 2013 setzt die russische Migrationspolitik zunehmend auf Sanktionen. Zu diesem Zeitpunkt wurden Zusatzbestimmungen ins Verwaltungsrecht eingefügt, die Migranten, die mehr als zwei Ordnungswidrigkeiten begangen haben, die Wiedereinreise nach Russland für drei bis fünf Jahre verbieten. Das Verbot wird automatisch von der zentralen Datenbank zur Erfassung von Migranten verhängt, wenn solche »Verstöße« registriert werden. Besonders umstritten ist die rückwirkende Anwendung der Bestimmungen. Ende 2014 hatten bereits mehr als 1 Mio. Arbeitsmigranten Einreiseverbote erhalten, Anfang 2018 war ihre Zahl auf über 2 Mio. angestiegen.

Wie man »legal« wird

Aufgrund des Fehlens klarer Regeln und geeigneter Verfahren zu ihrer Umsetzung waren viele Arbeitsmigranten aus Zentralasien von 2000 bis 2010 inoffiziell tätig. Sie wurden als ungeregelt, nicht registriert oder illegal bezeichnet. Das 2010 eingeführte Arbeitspatent (trudovoj patent, d.i. die Arbeitserlaubnis) berechtigte Zuwanderer nach Zahlung einer Vorabgebühr zu legaler Tätigkeit in Privathaushalten, aber nicht in Unternehmen. Zur Erlangung dieses Patents benötigten die Migranten zahlreiche Dokumente: einen gültigen Pass, eine Migrationskarte, eine Meldebescheinigung, notariell beglaubigte Kopien von Dokumenten mit russischen Übersetzungen, eine Krankenversicherung, beglaubigte Kopien von Fingerabdrücken, ein polizeiliches Führungszeugnis und eine Bescheinigung, dass sie weder drogenabhängig noch HIV-positiv oder mit einer ansteckenden Krankheit behaftet waren. Vermittler, die eng mit den Behörden zusammenarbeiteten, rissen den Markt zur Beschaffung der nötigen Papiere an sich und machten es Migranten sehr schwer, sich selbständig ein Patent zu besorgen. Viele in Firmen illegal beschäftigte Migranten beschafften sich eine Arbeitserlaubnis, um die Dauer ihres Aufenthalts zu verlängern und die zirkuläre Migration zu beenden, denn neue Gesetze beschränkten das Aufenthaltsrecht auf 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen, ihre Tätigkeit bei Unternehmen blieb dabei unverändert illegal. Viele andere Migranten arbeiteten einfach weiterhin ohne Erlaubnis.

2015 wurde die neue »einheitliche« Arbeitserlaubnis eingeführt, die den Migranten erlaubte, für einen legalen Betrieb oder ein Unternehmen zu arbeiten. Gleichzeitig wurde das vielkritisierte und korrupte Quotensystem für die Beschäftigung im Privatsektor abgeschafft. Zusätzlich zu den vielen oben erwähnten Dokumenten mussten Migranten nun auch einen Test über ihre Kenntnisse der russischen Sprache, Gesetze und Geschichte ablegen, um die Arbeitserlaubnis zu bekommen.

Die Bildung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU) hat es für Migranten aus den Mitgliedsstaaten (Belarus, Kasachstan, Armenien und Kirgistan) seit 2015 einfacher gemacht, in Russland zu arbeiten. Bürger dieser Staaten benötigen nun weder ein Arbeitspatent noch ein Sprachzertifikat. Die weit höhere Zahl von Arbeitsmigranten aus anderen Ländern – Usbekistan, Tadschikistan und Aserbaidschan – muss weiterhin den Sprachtest absolvieren und sich der aufwendigen Prozedur zur Erlangung der Arbeitserlaubnis unterziehen. Ukrainische und moldawische Bürger sind von der Sprachprüfung befreit, nicht aber vom Arbeitspatent. Sie mischen sich jedoch meist einfach unter die Einheimischen und kommen auch ohne Erlaubnis durch.

Alle Migranten, auch die aus EEU-Staaten, müssen sich an ihrem Wohnort registrieren lassen und mit ihrem Arbeitgeber einen offiziellen Arbeitsvertrag abschließen. EEU-Bürger haben für die Registrierung 30 Tage Zeit, tadschikische Bürger inzwischen 15 Tage, alle anderen (einschließlich der Usbeken, deren Anteil an den zentralasiatischen Migranten fast 60 % ausmacht) müssen sich innerhalb von sieben Tagen anmelden. Wohnungseigentümer vermieten in der Regel nicht an Migranten aus Zentralasien oder dem Kaukasus, auch nicht, wenn sie russische Staatsbürger sind bzw. dauerhaft in Russland leben und fließend Russisch sprechen. Die am meisten verbreitete Methode, um kurzfristig eine Registrierung zu bekommen, ist inzwischen die Zahlung einer Gebühr von 20–50 US-Dollar an einen Mittelsmann oder eine der in der Stadt legal tätigen Firmen. Auch das Phänomen der »Gummiwohnungen« ist in Moskau und anderen großen russischen Städten oft zu beobachten: Vermieter oder Firmen bieten Dutzenden von Migranten gegen eine Gebühr eine fiktive Registrierung unter ihrer Adresse an. Die Beschaffung diverser Dokumente hängt davon ab, dass man einen Beleg über die Registrierung vorzeigen kann. Rund um das Problem der Meldepflicht, der Verlängerung der Anmeldung und der Beschaffung von Dokumenten, für die eine Anmeldebescheinigung vorgelegt werden muss, hat sich deshalb eine umfangreiche Schattenwirtschaft entwickelt.

Korruption und ethnorassistisches Profiling von Migranten

Durch eine Kampagne zur Bekämpfung »illegaler Migration« und Korruption im Jahr 2014 hat das Duma-Komitee für nationale Sicherheit zunehmend Druck auf den Föderalen Migrationsdienst (FMS) ausgeübt, »die Mittelsmänner zu liquidieren«, die durch ihre Zusammenarbeit mit dem FMS den Markt zur Beschaffung von Papieren an sich gerissen hatten. Die Moskauer Stadtverwaltung unter Bürgermeister Sobjanin arbeitete erfolgreich darauf hin, dem FMS die Kontrolle über die Registrierung, Verwaltung und steuerliche Erfassung der Migranten zu entziehen und dem neu eingerichteten, unter ihrer Zuständigkeit stehenden Multifunktionalen Migrationszentrum (MMZ) zu übertragen. Das MMZ in Moskau und später auch in anderen großen Städten soll als einzige zentrale Anlaufstelle für die Erfassung und Bearbeitung von Dokumenten dienen und alle administrativen und finanziellen Aspekte regeln, die mit der Migration verknüpft sind.

Seit das MMZ die Zuständigkeit für die Registrierung von Migranten übernommen hat, wurde die monatliche Vorauszahlung für Arbeitspatente in Moskau von 1.600 Rubel (nach dem Wechselkurs von 2010 etwa 28 US-Dollar) auf rund 4.200 Rubel (75 US-Dollar) im Jahr 2017 angehoben. Jede Stadt und jedes Gebiet hat das Recht, eigene monatliche Vorauszahlungen festzusetzen. Die Kosten für die Beschaffung aller für eine Arbeitserlaubnis notwendigen Papiere betragen in Moskau gegenwärtig im günstigsten Fall etwa 14.500 Rubel (230 US-Dollar), dazu kommt die monatliche Vorauszahlung für das Patent. Das entspricht mindestens zwei durchschnittlichen Monatslöhnen eines Migranten. Eine weitere Erhöhung wird innerhalb der nächsten zwölf Monate erwartet.

Die Vergabe von Arbeitslizenzen ist so zu einer der wichtigsten Einkommensquellen für die Stadt geworden. 2015 nahm die Moskauer Stadtverwaltung rund 10,5 Mrd. Rubel (24 Mio. US-Dollar) an Vorauszahlungen für Arbeitserlaubnisse ein, im Jahr 2016 waren es 12 Mrd. Rubel (26 Mio. US-Dollar), 2017 – 14 Mrd. Rubel (28 Mio. US-Dollar), für 2018 geht man von 16 Mrd. Rubel (30 Mio. US-Dollar) aus. Die Erlangung eines legalen Status ist für Migranten vor allem eine Frage der Zahlungsfähigkeit und der Beachtung der strengen Aufenthalts- und Beschäftigungsvorschriften. Darüber hinaus gilt es, Fehler zu vermeiden und dem Kontakt mit der Polizei zu entgehen, um Probleme oder die Ausweisung zu vermeiden.

Die gestiegenen öffentlichen Einnahmen aus den Arbeitspatenten werden zwar als Indikator für die »Legalisierung« von Migranten herangezogen, doch es gibt keine verlässlichen Angaben darüber, wieviel Prozent der Migranten solche Lizenzen erworben haben. Nach Daten des FMS von 2015 hatten nur ungefähr 3,7 Mio. von geschätzt 11 Mio. Migranten – also rund ein Drittel – eine Arbeitserlaubnis. Seitdem sind in Moskau im Durchschnitt jährlich 400.000 Patente erteilt worden, wobei die Hälfte der Empfänger schon vorher über eine Arbeitserlaubnis verfügte. Daraus kann man schließen, dass mehr als 50 % der Migranten in Moskau immer noch ohne Arbeitspatent arbeiten.

46 % der 2017 in Moskau erteilten Arbeitserlaubnisse gingen an Usbeken, 32 % an Tadschiken, 12 % an Ukrainer, 7 % an Moldawier und 3 % an Aserbaidschaner. Die Verdreifachung der monatlichen Einkünfte aus den Vorauszahlungen für 2015 kompensierte die erwarteten Einnahmeverluste durch den Wegfall der Zahlungen kirgisischer Staatsbürger. Usbeken und Tadschiken hatten die meisten Arbeitspatente und trugen am stärksten zu diesen Steuereinnahmen bei. Der Anteil von legal arbeitenden Kirgisen war jedoch im Vergleich mit allen anderen zentralasiatischen Migranten am niedrigsten, nur 20 % von 750.000 – 1 Mio. in Russland lebenden Kirgisen hatten eine Arbeitserlaubnis.

Das komplexe und ständigen Veränderungen unterworfene Gefüge von Gesetzen, Dienstvorschriften, Weisungen und Ausführungsverordnungen zur Steuerung der Migration hat diverse Anreize für Bürokraten und Sicherheitskräfte geschaffen, gezielt zentralasiatische Migranten unter dem Vorwand der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ins Visier zu nehmen.

Schlechte Kenntnisse der russischen Sprache wie auch ihrer Rechte machen Zuwanderer aus Zentralasien zum leichten Ziel für Schmiergelderpressung. Wenn sie die Zahlung verweigern, werden sie mit Strafzahlungen, Ausweisung oder Internierung bedroht. Viele Kirgisen wie auch manche Tadschiken, die im Rahmen erleichterter Verfahren zwischen 2008–2011 die russische Staatsbürgerschaft erlangt haben, aber auch andere eingebürgerte Migranten werden regelmäßig von der Polizei aufgegriffen, die die Echtheit ihrer Staatsbürgerschaftsnachweise in Frage stellt und ihnen für das angebliche Fehlen gültiger Meldebescheinigungen Strafen auferlegt. Ein Offizier des FMS erklärte während eines Gesprächs im August 2017: »sie [die Kirgisen] sind keine russischen Bürger« und fügte hinzu »sie sprechen nicht gut Russisch«, womit er implizierte, dass die etwa 500.000 ethnischen Kirgisen, die die russische Staatsbürgerschaft besitzen, nicht denselben Status hätten wie die Russen. Kirgisen verfügen in der Regel über bessere Russischkenntnisse als ihre Nachbarn aus Usbekistan und Tadschikistan. Viele Kassierer und Verkäufer in Supermärkten und Läden in Russland sind Kirgisen. Dennoch ist unter Sicherheitskräften und Gesetzgebern die Auffassung weit verbreitet, dass Zuwanderer aus Kirgistan schlecht Russisch sprechen.

Trügerische Legalität

Da es keine verlässlichen Zahlen gibt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Migranten sich legal und wie viele sich illegal, d. h. ohne Arbeitspatent und andere Papiere, in Russland aufhalten. Der dynamische Charakter von Migrationsbewegungen und die häufigen Änderungen von Gesetzen und Verordnungen machen die Zusammenstellung von Statistiken zu einer großen logistischen Herausforderung. Zwischendurch befinden sich die Migranten auch immer wieder in einen halblegalen Status, z. B. wenn sie ihren Aufenthaltsstatus aktualisieren oder aus einer Aufenthaltskategorie in eine andere überwechseln.

Die Rechtmäßigkeit vieler Gesetze ist fraglich: Das 2013 eingeführte Wiedereinreiseverbot wurde rückwirkend angewendet und Migranten für kleine Vergehen bestraft, die sie vor der Verabschiedung des Gesetzes begangen hatten, wie z. B. die Überschreitung der Aufenthaltsdauer. Informelle Gepflogenheiten und subjektive Interpretationen der Gesetze durch Polizei und Richter haben oft Vorrang vor ihrem tatsächlichen Inhalt. Auf diese Weise ist eine Reihe von Gesetzen zur Quelle illegaler Praktiken und zur Rechtfertigung für ethnorassistisches Profiling von Migranten geworden.

Angesichts des Fehlens verlässlicher Daten und fließender Grenzen zwischen Legalität und Illegalität neigen Politiker, Vertreter von Behörden und Medien wie auch angebliche »Experten« dazu, mit unerschütterlichem Absolutheitsanspruch ihre eigenen Statistiken über die Zahl illegaler Migranten und »Krimineller« zusammenzustellen. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa erklärte zum Beispiel, dass im Jahr 2017 8–10 Mio. illegale Migranten in Russland arbeiteten. Die meisten der als »illegal« Bezeichneten haben ihre Aufenthaltsdauer überschritten oder geringfügige Ordnungswidrigkeiten begangen.

Migrationskontrolle und die Legalisierung von Migranten sind für jeden Staat legitime Anliegen. Im Fall der zentralasiatischen Arbeitsmigranten sind sie aber zu Instrumenten geworden, die von Regierungsstellen, Verwaltungsbehörden und Sicherheitskräften benutzt werden, um die Zuwanderer zu drangsalieren und unter Vorwänden Bestechungszahlungen von ihnen zu erpressen.

Die Auflösung des Föderalen Migrationsdienstes im Jahr 2016 und die Übernahme der Migrationssteuerung durch das Innenministerium, dessen Personal aus Militärs und Sicherheitsbeamten besteht, hat die sanktionierende Stoßrichtung der Migrationsgesetze und -verordnungen verstärkt. Die komplizierten Prozeduren der Legalisierung führen dazu, dass eine große Zahl der Migranten den illegalen Status beibehält und abgeschoben werden kann – und der Staat die Migranten als Bedrohung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen kann.

Gleichzeitig hält sich weiterhin eine unbekannte Anzahl von Migranten, die mit Wiedereinreiseverboten und drohenden Abschiebungen aufgrund von auf ihren Namen eingetragen Ordnungswidrigkeiten belegt ist – es könnte sich um mehr als 1 Mio. Menschen handeln – in Russland in einer prekären Lage ohne Rechtsstatus auf. Letztlich ist die Illegalität von Migranten eher eine Folge der unzulänglichen Gesetze und ihrer mangelhaften bürokratischen Umsetzung sowie der strategischen Profitchancen, die die Gesetzgebung den Staatsbeamten eröffnet, als ein Ergebnis von Straftaten und Gesetzesübertretungen von Seiten der Migranten.

Aus dem Englischen von Brigitte Heuer

Lesetipps / Bibliographie

Bitte beachten Sie auch: Sergej Abaschin, Postsowjetische Migration aus Zentralasien nach Russland. Neue Akteure in globalen Migrationsprozessen, und die dazu gehörigen Tabellen und Grafiken in den Zentralasien-Analysen 120, Dezember 2017, = <http://www.laender-analysen.de/zentralasien/pdf/ZentralasienAnalysen120.pdf>

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