Atomkraft als Allheilmittel? Das Nuklearreferendum in Kasachstan vom 6. Oktober 2024

Am 6. Oktober 2024 haben in Kasachstan über 5,5 Mio. Abstimmungsberechtigte, bzw. 71 Prozent der Abstimmenden, in einem landesweiten Referendum für den Bau des ersten Atomkraftwerkes (AKW) in Kasachstan seit 1999 abgestimmt. Damit ist ein Wendepunkt erreicht, der die fundamentale Neuausrichtung der kasachstanischen Energiepolitik seit der Unabhängigkeit markiert. 1999 wurde das einzige AKW des Landes in Aktau nach 26 Jahren Betrieb stillgelegt. Kasachstans jüngere Geschichte ist maßgeblich durch seine nukleare Sowjetvergangenheit geprägt. Zwischen 1949 und 1991 wurden auf dem Atomwaffentestgelände Semipalatinsk über 450 Atomtests durchgeführt, deren gesundheitliche und ökologische Folgen für Mensch und Umwelt bis heute andauern und die kasachstanische Regierung nach der Unabhängigkeit zu einer Politik der umfassenden Denuklearisierung veranlasst haben.[1] Nach dem Atomausstieg in den 1990ern wurde zur Stromgewinnung vor allem Kohle und Erdgas als Hauptenergieträger genutzt. Der Höhepunkt der Kohleverstromung war das Jahr 2011, in dem 81 Prozent des produzierten Stroms aus Kohle gewonnen wurde.[2] Allerdings begann der damalige Präsident Nursultan Nasarbajew schon 2013, Kasachstan durch den Ausbau der erneuerbaren Energien als Vorreiter des grünen Wandels in Zentralasien zu etablieren.[3] Als Kassym-Dschomart Tokajew 2019 die Nachfolge von Nasarbajew im Amt des Präsidenten antrat, war es gerade drei Jahre her, dass sich Kasachstan im Rahmen des Pariser Klimaabkommens zur Reduzierung seiner Treibhausgasemissionen um 15 Prozent bis 2030 verpflichtet hatte.[4] Tokajew, der als Präsident maßgeblich von Nasarbajew installiert wurde, hat die Energie- und Klimapolitik seines Vorgängers fortgesetzt und 2020 schließlich das ambitionierte Ziel verkündet, das Land bis 2060 CO2-neutral zu machen.[5]

In der Zwischenzeit hatte sich der energiepolitische Kontext allerdings gewandelt und u. a. der seit 2018 beobachtbare Trend zum Rückgang der Erdgasproduktion aufgrund fehlender Investitionen und stagnierender Förderkapazitäten weiter verstärkt.[6] Tokajew hatte daher bereits kurz nach seinem Amtsantritt 2019 die Idee aufgeworfen, per Referendum über den möglichen Bau eines AKW abstimmen zu lassen.[7] Seit 2023 muss Kasachstan Erdgas aus Russland importieren, um den wachsenden Energiebedarf auf dem Binnenmarkt abdecken und gleichzeitig eigenen Erdgasexportverpflichtungen gegenüber China weiter nachkommen zu können. Als Resultat wächst der russische Einfluss im kasachstanischen Energiemix und damit Astanas geopolitische Vulnerabilität gegenüber Moskau.[8] Auch haben häufige Stromausfälle in den letzten Jahren die dramatischen Folgen von veralteter Infrastruktur verdeutlicht. So kam es im November 2021 in mehreren Gebieten und Städten zu Stromausfällen, nachdem wenige Wochen zuvor mehrere Einheiten in drei der größten Kohlekraftwerke des Landes nach Fehlfunktionen gleichzeitig notabgeschaltet wurden.[9] Und im Januar 2022 hat ein Fehler in der nationalen Hauptstromleitung einen der größten Stromausfälle in Zentralasien verursacht.[10] Die nachhaltigste Lösung für Kasachstans Energieprobleme liegt im Bereich der erneuerbaren Energien wie Solar- und Windkraft, in dem Kasachstan immerhin regional führend ist.[11] Allerdings verlangsamt die Pfadabhängigkeit von jahrzehntelanger Kohlenwasserstoffförderung den Ausbau erneuerbarer Energien, sodass diese noch nicht im benötigten Maße zur Energiesicherheit beitragen können.[12]

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen sieht die Regierung im Bau eines AKW die einzige mittelfristige Lösung für die aktuellen Energieprobleme des Landes. Schließlich hat die Frage nach der zivilen Nutzung von Atomkraft angesichts der oben skizzierten Entwicklungen während der letzten Jahre eine neue Relevanz entfaltet, weshalb Tokajews Ankündigung im September 2023, besagtes Referendum 2024 durchführen zu lassen, nicht mehr überraschend kam.[13] In einer Ansprache kurz vor dem Referendum beschrieb Tokajew den geplanten AKW-Bau nicht nur als entscheidend für die Entwicklung und die Energiesouveränität des Landes, sondern als »das größte Projekt in der Geschichte Kasachstans« überhaupt.[14] Damit war nicht mehr zu übersehen, wie zentral Atomkraft in den letzten Jahren für Tokajews Entwicklungsstrategie geworden ist.[15] Die Entscheidung, die Bevölkerung durch ein Referendum formal in das Projekt miteinzubeziehen, markierte Tokajews Bewusstsein für den kontroversen Charakter der Angelegenheit und die Notwendigkeit, die Frage der nationalen Energiesicherheit und die historisch bedingte Skepsis gegenüber Atomkraft in Kasachstan auszubalancieren.

Tokajews Pläne entfachten intensive Debatten über die Risiken und Chancen der Atomkraft und die mögliche Zukunft des Landes mit oder ohne AKW.[16] Dabei transzendiert das Spektrum der diskutierten Meinungen eine bloße Polarisierung zwischen Ablehnung oder Zustimmung zum AKW-Bau. So richtet sich ein Teil der Kritik nicht gegen das Projekt per se, sondern gegen die mögliche Vergabe des Auftrags für Bau und Betrieb an den russischen Atomkonzern Rosatom, wodurch Kasachstans Abhängigkeit von Russland im Energiebereich erneut zunehmen würde.[17] Befürworter argumentieren dagegen, dass ein AKW die Energiesouveränität des Landes gegenüber Russland stärken würde, da Kasachstan als größter Uranlieferant der Welt eigene Ressourcen nutzen und somit die Abhängigkeit von Energieimporten sowie von Kohle massiv verringern könnte.[18] Die Regierung selbst hat mittels autoritärer Maßnahmen intensiv in den Prozess der öffentlichen Willensbildung eingegriffen, um eine mögliche Gegenkampagne gegen das Projekt zu verhindern. So wurden Atomkraftgegner an Versammlungen gehindert und zwei Tage vor dem Referendum dutzende Aktivisten aus fingierten Gründen in Verwaltungshaft genommen.[19] Gleichzeitig wurde die öffentliche Debatte von staatlicher Seite aktiv zugunsten des Projektes beeinflusst, u. a. durch das wiederholte Versprechen, nur neueste Technologien zu nutzen, um höchste Sicherheitsstandards zu gewährleisten.[20]

Abseits der nationalen Energiesicherheit scheint Tokajew in der zivilen Nutzung von Atomkraft auch ein Element zur Stärkung von Kasachstans strategischer Autonomie im Rahmen der multivektoralen Außenpolitik des »Complex Balancing« beziehungsweise »Omni-Enmeshment« zu sehen.[21] Demnach soll ein internationales Konsortium mit dem Bau beauftragt werden, für das laut Energieministerium u. a. die führenden Atomkonzerne von China, Russland, Südkorea und Frankreich infrage kommen.[22] Damit könnte der AKW-Bau nicht nur ein großes Spektrum der internationalen Partner Kasachstans involvieren, sondern sogar rivalisierende Staaten wirksam zum Vorteil Kasachstans miteinander »verstricken«. Erst im November hat sich Tokajew mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron auf eine Vertiefung der bilateralen Zusammenarbeit im Nuklearbereich verständigt, womit er aktiv Kasachstans strategische Beziehungen zu einem der erbittertsten geopolitischen Rivalen von Russland innerhalb der EU ausbaut.[23]

Die Kosten für das AKW mit einer geplanten Kapazität von 2,4 Gigawatt, das in Ulken am Balchaschsee gebaut werden soll, werden auf 5,6 Mrd. bis 15 Mrd. US-Dollar geschätzt, wobei sich die Kosten vergleichbarer AKW-Projekte in anderen Ländern auf bis zu 25 Mrd. US-Dollar belaufen.[24] Derartige Summen werden voraussichtlich nicht allein als ausländische Direktinvestitionen angezogen werden können. Das AKW-Projekt wird daher finanzielle Ressourcen binden, die eigentlich zur Instandhaltung und Modernisierung der bestehenden Energieinfrastruktur oder den Ausbau der erneuerbaren Energien benötigt werden. Mit einer geplanten Bauzeit von zehn Jahren kann außerdem nicht von einer kurzfristigen Lösung für Kasachstans Energieprobleme gesprochen werden. Das Projekt illustriert schließlich Tokajews Bestrebungen, eine langfristige Balance zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und ökologischer Verantwortung zu finden und sich dabei den Herausforderungen von heimischer Energiekrise und globalem Klimawandel zu stellen. Atomkraft soll für die Zukunft des Landes also gleichzeitig Allheilmittel und strategischer Alleskönner sein. Das erfolgreiche Referendum vom 6. Oktober markiert allerdings nur den Anfang einer ganzen Reihe von Hürden, die Tokajew auf dem Weg zu Kasachstans erstem AKW seit 1999 wird meistern müssen, wenn es am Ende kein Luftschloss bleiben soll.

Richard Schmidt, Redakteur der Zentralasien-Analysen

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Verweise

[1] https://laender-analysen.de/zentralasien-analysen/151/kasachstans-langer-weg-zur-atomaren-abruestung-und-nuklearen-nichtverbreitung/

[2] https://www.macrotrends.net/global-metrics/countries/KAZ/kazakhstan/coal-usage-consumption

[3] https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-29831-8_8

[4] https://climateactiontracker.org/countries/kazakhstan/2019-12-02/pledges-and-targets/

[5] https://www.undp.org/kazakhstan/news/kazakhstans-vision-achieve-carbon-neutrality-presented-high-level-conference-nur-sultan

[6] https://www.ceicdata.com/en/indicator/kazakhstan/natural-gas-production-opec-marketed-production; https://www.mondaq.com/oil-gas-electricity/1013586/overview-of-the-current-energy-mix-and-the-place-in-the-market-of-different-energy-sources

[7] https://thediplomat.com/2021/10/nuclear-energy-in-kazakhstan-the-problem-of-accountability/

[8] https://laender-analysen.de/zentralasien-analysen/165/russlands-krieg-ukraine-einfluss-kasachstan/

[9] https://www.rferl.org/a/central-asia-severe-electricity-shortages/31564293.html

[10] https://www.aljazeera.com/news/2022/1/25/millions-left-without-power-after-huge-blackout-hits-central-asia

[11] https://www.rifs-potsdam.de/en/blog/2024/07/kazakhstan-central-asias-energy-transition-pioneer

[12] https://laender-analysen.de/zentralasien-analysen/160/konferenz-energy-transition-sustainability-and-inclusive-development-central-asia/

[13] https://www.reuters.com/world/asia-pacific/kazakhstan-hold-referendum-nuclear-plant-construction-president-2023-09-01/: https://caspianpolicy.org/research/energy/across-central-asia-governments-bet-big-on-nuclear-power

[14] https://www.aa.com.tr/en/energy/nuclear/construction-of-nuclear-power-plant-to-be-largest-project-in-kazakhstan-s-history-president/43735

[15] https://www.usip.org/publications/2024/10/back-future-kazakhstans-nuclear-choice

[16] https://www.rferl.org/a/kazakhstan-nuclear-power-plant-debate-construction/32563042.html; https://astanatimes.com/2024/08/kazatomexpo-exhibition-discusses-kazakhstans-potential-nuclear-power-plant/

[17] https://www.rferl.org/a/majlis-podcast-kazakhstan-nuclear-power/33139392.html

[18] https://inkstickmedia.com/in-kazakhstan-division-over-the-future-of-nuclear-power/; https://bisi.org.uk/reports/kazakhstans-nuclear-power-vote; https://www.euractiv.com/section/eet/news/nuclear-energy-kazakhstans-golden-opportunity-to-engage-the-west/

[19] https://www.rferl.org/a/kazakhstan-hotel-vadim-ni-nuclear-power-plant-gathering-cancellation/33119099.html; https://www.rferl.org/a/kazakhstan-nuclear-referendum-arrests/33146404.html

[20] https://www.rferl.org/a/kazakhstan-nuclear-power-referendum/33146657.html

[21] Vgl. https://academic.oup.com/ia/article/96/4/975/5855019

[22] https://www.intellinews.com/international-consortium-should-build-kazakhstan-s-first-nuclear-plant-says-president-347161/

[23] https://timesca.com/kazakhstans-tokayev-in-france-its-all-about-nuclear-energy/; https://en.europarabct.com/?p=80567

[24] https://kz.kursiv.media/en/2024-08-28/chinese-bidder-reveals-estimated-cost-of-nuclear-power-plant-in-kazakhstan/

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Analyse

Kasachstan und das Atom – Zur Gründung der Bank für schwach angereichertes Uran

Von Birgit Wetzel
Mit der Unterzeichnung der entsprechenden Verträge im Sommer 2015 in Astana wurde die Schaffung der weltweit ersten Bank für schwach angereichertes Uran im kasachstanischen Ust-Kamenogorsk besiegelt. Sie wird in einem Staat errichtet, der aus der Sowjetzeit ein besonderes Verhältnis zum Thema Atom mitbringt, erinnert sei an die dramatischen Folgen der Atomwaffentests in Semipalatinsk und die entschiedene Abkehr von Atomwaffen nach der Unabhängigkeit, aber auch das positive Verhältnis zur Energiegewinnung durch Atomkraft und den Handel mit Uran. Die neue Einrichtung unter Kontrolle der IAEA wird nach Ansicht der Autorin weltweit mehr Sicherheit nicht nur bei der regelmäßigen Versorgung von Leichtwasserreaktoren mit atomarem Brennstoff, sondern auch bezüglich der internationalen Kontrolle über nukleares Material bringen. Allerdings besteht noch Aufklärungsbedarf für die örtliche Bevölkerung.
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Analyse

Kasachstans langer Weg zur atomaren Abrüstung und nuklearen Nichtverbreitung

Von Togzhan Kassenova
Der Osten Kasachstans wurde Mitte der 1940er Jahre zum Zentrum des sowjetischen Atombombenprojektes, in Semipalatinsk entstand das größte Kernwaffentestgelände der Sowjetunion. Zwischen 1949 und 1989 wurden ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung in Semipalatinsk Hunderte Kernwaffentests durchgeführt, deren verheerende Folgen für Mensch und Umwelt von der sowjetischen Führung jahrzehntelang verschwiegen wurden. Während der Öffnung unter Gorbatschow ist in der späten Sowjetrepublik Kasachstan eine internationale Anti-Atom-Bewegung entstanden, die entscheidende Impulse für den Weg der Denuklearisierung setzen konnte, den Kasachstan nach der Unabhängigkeit eingeschlagen hat. Nach dem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag 1993 ist Kasachstan seit 1995 atomwaffenfrei und hat die Bemühungen um eine Welt ohne Kernwaffen seitdem zu einem Eckpfeiler der Außenpolitik gemacht. Mehrgenerationale gesundheitliche Folgen und anhaltende Traumata manifestieren das atomare Erbe Kasachstans, das bis heute die Debatten über mögliche Formen der zivilen Nutzung von Kernenergie prägt.
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