Belarus-Analysen

Ausgabe 53 (21.12.2020) — DOI: 10.31205/BA.053.01, S. 2–6

Revolution in Belarus – Faktoren und Werteorientierungen

Von Oksana Shelest (Zentrum für europäische Transformation, Minsk)

Zusammenfassung
Die gesellschaftliche Entwicklung in Belarus ist viele Jahre durch das bestehende politische Regime gehemmt worden. Das Spiel mit einer »vertieften Integration mit Russland« in den letzten Jahren und die Reaktionen des Regimes auf die Coronakrise haben die Charakteristika des bestehenden Systems der Staatsverwaltung deutlich zu Tage gefördert, was dann im Frühjahr 2020 zur politischen Mobilisierung führte. Der Beitrag analysiert die lang- und kurzfristigen Faktoren, die zum Beginn einer revolutionären Bewegung im Land geführt haben. Die belarusische Revolution 2020 hat keine geopolitische Ausrichtung; das Hauptziel ist eine Veränderung der bestehenden Ordnung im Land. Zu den wichtigen Merkmalen der Demokratiebewegung gehört, dass praktisch alle Gesellschaftsschichten involviert sind, sowie der hohe Grad der Selbstorganisation bei gleichzeitig schwachen Strukturen der politischen Führung und Repräsentation.

Langfristige Faktoren und der letzte Tropfen

Die politische Krise, die sich 2020 in Belarus entfaltete, hat ihren wichtigsten Ursprung in vielfältigen Prozessen, durch die sich die Systeme von Staat und Gesellschaft zumindest in den 10 Jahren seit den Präsidentschaftswahlen von 2010 verändert haben. Bereits 2006 waren Anzeichen einer »Kubanisierung des Regimes und einer Arafatisierung der Opposition« erkennbar, die sich 2010 vollends als charakteristische Merkmale der politischen Situation im Land herausgebildet haben. In den vergangenen zehn Jahren ist das Feld des Politischen aus der belarusischen Realität verschwunden. Das staatliche Regime hat mit Leichtigkeit den Widerstand seiner marginalisierten politischen Opponenten »reguliert«, indem es handlungsunfähigen »politischen Parteien« und Initiativen eine Existenz erlaubte, dabei jedoch die volle Kontrolle über die Lage im Land bewahrte.

Das belarusische politische Regime hat allerdings, ohne sich einer Konkurrenz oder realen Opposition gegenüber zu sehen, seine Möglichkeiten zur eigenen Entwicklung verloren. Das hat sich unter anderem im Stillstand des belarusischen Wirtschaftswachstums bemerkbar gemacht, wie auch im Ausbleiben tatsächlicher Reformen in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (obwohl diese – rhetorisch – als notwendig eingeräumt wurden) und in einer zunehmenden »Vertikalisierung« und Bürokratisierung der staatlichen Verwaltung. Dieser Prozess wurde von einer Schwächung und des fast völligen Verlustes des Feedbacks durch die Bevölkerung begleitet.

In der gleichen Zeit hat sich die Gesellschaft recht dynamisch entwickelt. Der spezifische »Sozialvertrag« der Belarusen mit ihrem Staat ging dahin, dass in jedem Bereich – außer dem politischen – eine gewisse Handlungsfreiheit zugestanden wurde (wenn auch in unbestimmten Grenzen). Wirtschaft, Unternehmertum, kulturelle und soziale Initiativen, Gestaltung der urbanen Räume und des gewünschten Lebenswandels – das ist nur ein Teil der Richtungen, in denen jene Belarusen initiativ waren, die ihr Leben und ihre Betätigung vielfach »parallel« zum bestehenden Staat aufbauten. Während die staatlichen Institutionen Normen und Vorstellungen zu vermitteln suchten, die immer stärker veraltet waren, wuchsen im individuellen und informellen Bereich des Landes innovative Technologien, neue Standards und Formen der Lebens- und Arbeitsorganisation heran, und es entstanden in Kultur und Bildung neue Orientierungspunkte.

Die Verwaltung und die Institutionen des Staates waren anfangs einfach nur nicht förderlich; dann behinderten sie immer stärker die Entwicklung gesellschaftlicher Initiative im weitesten Sinne, und zwar in allen Lebensbereichen. In der Gesellschaft wurde das Bedürfnis nach einem Wandel und die Emanzipation der Bürger von staatlichen Institutionen immer stärker. Hatte 2010 das Verhältnis jener, die eine Beibehaltung der gegen Lage wünschten, gegenüber denen, die einen Wandel wollten, noch 48,3 % zu 40,7 % betragen, so lag es 2016 bei 24,7 gegenüber 67,3 Prozent (Daten des NISEPI); es gab also fast drei Mal mehr Anhänger eines Wandels als Befürworter der »Stabilität«. Studien von 2018–19 (von »MIA Research«) weisen einen nachhaltigen Rückgang des Paternalismus in allen Bereichen der belarusischen Gesellschaft aus.

Die Studie »World Values Survey« (2017–2020) hat eine erhebliche Veränderung bei einer der nachhaltigsten Grundlagen der sozialen Ordnung aufgezeigt, nämlich bei der Werteorientierung der Belarusen: Es wurde gegenüber den Werten von Entwicklung und Selbständigkeit ein Rückgang von Werten festgestellt, die mit Stabilität, Konservierung und Paternalismus verbunden sind. Wir sehen aber auch, dass Belarus im gleichen Zeitraum hinsichtlich einer anderen Dimension der Werteskala »traditioneller« geworden ist, was darauf verweist, dass der Wertewandel sich nicht in die einfache Logik einer Europäisierung fügt, sondern sich komplexer darstellt.

Die zunehmende Disbalance in Belarus zwischen der Entwicklung des Staates einerseits und jener der Gesellschaft andererseits hat sich zu einer offenen Konfrontation entwickelt und zu einer politischen Mobilisierung der belarusischen Gesellschaft geführt; Auslöser hierfür waren zwei Ereignisstränge: 1) das Spielen mit einer »vertieften Integration mit Russland« 2019; und 2) die Reaktionen des Regimes auf die Krise durch Covid-19. In beiden Fällen ging das Regime auf seine gewohnte Weise vor, doch vielen nun die Dimensionen dieser Probleme ins Gewicht, die nun sämtliche Besonderheiten des bestehenden Systems äußerst deutlich (und für eine große Zahl von Leuten sichtbar) zu Tage treten ließen.

Zusammensetzung des aktiven Teils der Protestbewegung

Der aktuelle Konflikt lässt sich ohne große Übertreibung als Konfrontation zwischen dem derzeitigen politischen Regime und der Gesellschaft bezeichnen. Die anfänglichen Proteste, die später zu einer revolutionären Bewegung wurden, haben alle Teile der belarusischen Gesellschaft erreicht. Es liegen keine zuverlässigen Daten über die genauen »Kräfteverhältnisse« in der Gesamtgesellschaft vor, da repräsentative Meinungsumfragen weiterhin nicht möglich sind. Allerdings lassen die Daten verschiedener, auch nicht öffentlicher Studien mit annähernder Gewissheit den Schluss zu, dass die Unterstützung des derzeitigen Regimes sich im Bereich von 15 bis 30 Prozent bewegt. In diesem Bereich liegen sowohl die Ergebnisse der Online-Befragung von »Chatham House« vom September 2020, denen zufolge die Bevölkerungsgruppe, die von den Forschern als »Festung Lukaschenkas« bezeichnet wird, 23,1 Prozent der Stichprobe ausmacht. Wie bei allen Internet-Umfragen dieser Art können wir nicht sicher sein, dass sie repräsentativ ist, weil das Zufallsprinzip bei der Zusammensetzung der Stichprobe nicht gewährleistet ist. Allerdings verfügen wir bislang über keine zuverlässigeren, offen zugänglichen Daten.

Wenn sich jedoch eines eindeutig sagen lässt, dann, dass die Anhänger einer Veränderung der bestehenden Ordnung überzeugt sind, sie würden die Mehrheit der belarusischen Gesellschaft darstellen. Und diese Überzeugung, die durch die vielen Manipulationen während bei Wahlen sowie die Zahlenstärke und die geographische Verbreitung der Straßenproteste im ersten Monat nach den Wahlen gestützt wird, flößt den Protestierenden ein Gefühl der Legitimität und Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens ein.

Der aktive Teil der Befürworter eines Wandels besteht heute aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen, wenn man als Kriterium anlegt, wie ihre politische Erfahrung aussieht und wie lange sie bisher am politischen Kampf gegen das Regime von Aljaksandr Lukschenka beteiligt waren.

1. Die erste, nicht unbedingt zahlenstärkste Gruppe sind Aktivisten aus dem dritten Sektor, intellektuelle und kulturelle Initiativen, der national ausgerichtete Teil der Gesellschaft und Vertreter der »traditionellen Opposition«, also Menschen mit einer mehr oder weniger gewichtigen persönlichen Geschichte eines politischen Engagements, die sich in den vergangenen 25 Jahren in dieser oder jener Form am Kampf gegen das Regime beteiligt haben.

2. Die zweite, sehr viel zahlenstärkere und vielfältigere Gruppe, das sind jene, die sich seit dem Frühjahr im Wahlkampf engagiert haben. In ihrer Mehrheit sind das Menschen, die zumindest die letzten zehn Jahre eine Beteiligung an Politik vermieden haben, oder die in einem solchen Engagement keinen Sinn oder keine Notwendigkeit gesehen hatten. Das Vorgehen des Regimes während der Wahlen, mit dem potenzielle Führungspersönlichkeiten aus dem Weg geräumt werden sollten (indem die aussichtsreichsten Kandidaten nicht registriert und verhaftet wurden), hatte nämlich eine entgegengesetzte Wirkung: Sie führte zur Vereinigung der Wahlkampfstäbe, zur Gründung des »Frauen-Triumvirats« und schließlich dazu, dass sich prinzipiell unterschiedliche Bevölkerungsteile zu einer Kraft zusammenschlossen, nämlich die potenziellen Wählerschaften von Waleryj Zapkala und Wiktar Babaryka einerseits (belarusische »Mittelschicht«, innovative Unternehmer*innen, IT-Sektor, »kreative« Industrien etc.) und die potenzielle Wählerschaft von Sjarhej Zichanouski andererseits (Bevölkerung der »Peripherie«, kleinerer Städte und depressiver Regionen; Kleinunternehmer*innen in den Regionen und Privatunternehmer*innen). Bei der politischen Mobilisierung in der Wahlzeit gab es Formen des Engagements, angefangen bei den Unterschriftensammlungen, Aktionen zur Unterstützung der Kandidaten und Protesten gegen die bereits im Wahlkampf einsetzenden Repressionen bis hin zur Entwicklung prinzipiell neuer Aktionsformen und technischer Mittel der Bürgerinitiativen (siehe die Plattform »Holas« und »Subr«) und zur Beteiligung bei der Besetzung der Wahlkommissionen und dem Organisieren einer unabhängigen Wahlbeobachtung u. v. m.

Der Ablauf der Präsidentschaftswahlen von 2020, das Vorgehen des Regimes und seiner Opponenten führten zu einem einzigartigen, in einer anderen Situation wohl kaum möglichen Zusammengehen aller »drei Welten« der Gesellschaft (diese Konzeption einer neuen sozialen Strukturierung wurde von Uladsimir Mazkewitsch entwickelt); Angehörige der »ersten Welt« verfügen über innovative Technologien und ihre Selbstbestimmung bezieht sich eher auf einen globalen Kontext (was ihr Engagement bei innenpolitischen Prozessen seltener macht); Vertreter*innen der »zweiten Welt« definieren sich selbst in einer nationalen Dimension; und Angehörige der »dritten Welt« sind Menschen, die vorwiegend mit lokalen und individuellen Interessen leben und sich häufiger an äußere Veränderungen anpassen als aktiv an ihnen teilzunehmen.

3. Den dritten Kreis des Widerstands gegen das derzeitige Regime bilden schließlich jene, für die die Gewalt und die Willkür vom 9. bis 11. August und in der Zeit danach den letzten Anstoß für aktiven Widerstand gab. Die in der jüngsten belarusischen Geschichte beispiellose Brutalität, mit der in den ersten Tagen nach der Wahl gegen die Protestierenden vorgegangen wurde, die Ausweitung und Verstärkung der Repressionen (unter anderem mit Morden, Folter und Vergewaltigungen) führen dazu, dass sich die Reihen der Protestierenden schon vier Monate lang immer wieder füllen, weil mehr und mehr Menschen betroffen sind.

An der aktiven Konfrontation mit dem derzeitigen Regime sind heute Angehörige aller Generationen, aller Sektoren, verschiedener Berufsstände und sozialer Schichten beteiligt. Ein Mittel, um diese Vielfalt sichtbar zu machen, sind die Erklärungen der »Zünfte«, die schriftlichen und Videobotschaften, speziellen Protestaktionen der verschiedenen sozialen und Berufsgruppen, die es besonders zahlreich im August und September gegeben hat, sich aber zum Teil bis heute fortsetzen. Schauspieler*innen und Sportler*innen, die IT-Branche, Wissenschaftler und Lehrer, Mediziner*innen und Bauarbeiter*innen, Mitarbeiter*innen im Handel und in der Dienstleistungsbranche, Rentner*innen und Studierende, sie alle nehmen nicht einfach nur an Protestaktionen teil, sondern organisieren eigene Formate, mit denen sie ihr Engagement und die Zugehörigkeit zu ihrer »Zunft« deutlich machen.

Auch hier verfügen wir nicht über repräsentative Daten, mit denen sich ein sozio-demographisches Portrait der Anhänger eines Wandels der herrschenden Ordnung zeichnen ließe. Keine der vorliegenden Umfragen erhebt einen Anspruch auf Repräsentativität, doch stützen sich alle auf eine recht große Stichprobe. In erster Linie geht es um die systematischen Querschnittsuntersuchungen des Projektes »Narodnyj opros« (dt.: »Volksbefragung«; https://narodny-opros.net/) und die Daten der Plattform »Holas« (dt.: »Stimme«; https://belarus2020.org/home) zum soziodemographischen Portrait ihrer Abonnenten, wie auch die darin enthaltenen Beobachtungen und Befragungen bei den Protestaktionen im August und September (Projekt »Holas wulizy«) Aufgrund dieser Umfragedaten, die sich vor allem auf den protestierenden Teil der Gesellschaft richten, können wir folgendes konstatieren:

Es besteht praktisch ein Geschlechtergleichgewicht, weder Männer noch Frauen überwiegen;Es überwiegt die Altersgruppe von 20 bis 45, dominiert aber nicht; alle Generationen sind involviert;Es überwiegen, jedoch nicht mit absoluter Dominanz der privater Sektor und neue Beschäftigungsformen (Freischaffende, Selbständige usw. gegenüber dem öffentlichen Sektor (aus dem kommt ungefähr ein Drittel derjenigen, die sich an aktiven Protestformen beteiligen);Es besteht eine ungefähr gleiche Verteilung der Aktivität auf Minsk einerseits und die Regionen andererseits (rund 50 % der Aktivitäten entfallen auf die Hauptstadt);Es überwiegen Menschen mit höherer Bildung.

Der Inhalt der Forderungen und die Besonderheiten der belarusischen Revolution

Der Inhalt der Hauptforderungen des protestierenden Teils der Gesellschaft wurde in der ersten Woche nach den Wahlen formuliert und bleibt bis heute konsolidiert. Sie laufen praktisch auf zwei Forderungen hinaus, von denen jede eine Reihe von Maßnahmen umfasst:

1) Herstellung von Recht und Gerechtigkeit: Ende der Gewalt und der Repressionen, Freilassung der politischen Gefangenen und Einstellung der politisch motivierten Strafverfahren, objektive Ermittlung und Bestrafung derjenigen, die an der Gewalt, den Folterungen und Ermordungen Schuld sind. 2) Gewährleistung eines Übergangs der Macht: Verhandlungen und Machtübergabe, Sicherstellung fairer und transparenter Neuwahlen in Belarus.

Trotz fehlender schneller Erfolge bleibt die Motivation zum Protest groß, wird aber komplexer und vielschichtiger. Neben einer Ausrichtung auf Veränderungen und eine Neuordnung des Staates und der Verwaltung führt das Vorgehen des Regimes zu einer immer breiteren ethischen Abneigung. Darüber hinaus wächst der »Preis« für das Regime, der bei einer Niederlage zu zahlen wäre: Es gibt immer mehr politische Gefangene, politisch motivierte Strafverfahren, Menschen, die ihre Arbeit verloren oder von anderen Repressionen betroffen sind, weil sie ihre Haltung bekundet haben – das erhöht die kollektive Verantwortung für einen gemeinsamen Erfolg der Protestierenden.

Ein zusätzlicher Motivationsfaktor ist die Vorstellung, dass in dem Fall, dass das Regime nicht abgelöst werden kann, auf Belarus eine neue Welle der Repressionen und der Verfolgung Andersdenkender, eine internationale Isolation des Landes, eine verstärkte Abhängigkeit von Russland bis hin zu einem völligen Verlust der Souveränität, eine tiefgreifende Wirtschaftskrise und der massivste Braindrain in der Geschichte des unabhängigen Belarus wartet.

Qualitative Untersuchungen der Stimmungen unter den Teilnehmer*innen der Protestaktionen habe sowohl im August und September wie auch im Oktober eine hohe Bereitschaft festgestellt, sich weiterhin und solang persönlich, in unterschiedliche Form und für lange Zeit an dem Druck auf das Regime zu beteiligen, bis das Ergebnis erreicht ist. Dabei bleibt die Ausrichtung auf eine gewaltlose Form der Protestaktionen weiterhin am stärksten verbreitet. Ein selbst in minimaler Weise radikales Vorgehen wie Straßenblockaden finden im Vergleich mit friedlichen Aktionen (Straßenaktionen, Hofversammlungen, individuelle und kollektive Videobotschaften, offene Briefe usw.) eine nur geringe Unterstützung; auch im Vergleich mit dem Kampf um den semiotischen Raum (weiß-rot-weiße Flaggen und Installationen, Wandbilder, Aufkleber, Graffitis usw.) und mit Streiks und Maßnahmen, um wirtschaftlichen Druck auszuüben.

Eine der Besonderheiten der belarusischen Revolution, über die man sich besonders im Vergleich mit den Prozessen in anderen postsowjetischen Staaten klar sein sollte, ist das Fehlen einer geopolitischen Komponente in den Forderungen und Stimmungen der Protestierenden. Die derzeitigen Transformationsprozesse in der belarusischen Gesellschaft haben keine geopolitische Dimension, weder ursächlich noch inhaltlich. Mit anderen Worten: Für die Belarusen ist nicht eine Entscheidung zwischen einem vermeintlichen Osten und einem vermeintlichen Westen, sondern eine Neugründung, ein Neustart des eigenen Staates und eine Änderung der politischen Struktur im Land das wichtigste Thema. Bereits 2014 war die Tendenz deutlich geworden, sich einer Entscheidung zwischen den geopolitischen Blöcken (EU und Russland) zu entziehen (IISEPS); seinerzeit war die Anzahl der Gegner beider geopolitischer Blöcke Umfragen zufolge gestiegen, was bedeutete, dass die Wahl der Belarusen sich immer weniger in der Logik »entweder nach Russland oder nach Europa, einen dritten Weg gibt es nicht« bewegte und immer stärker in der Logik einer eigenständigen Entwicklung.

Diese Haltungen sind bis heute vorhanden, was auch durch die Daten der Online-Umfrage von »Chatham House« vom September 2020 bestätigt wird, denen zufolge ein großer Teil (über 60 %) der Befragten entweder die Antwort »Beitritt zu beiden geopolitischen Blöcken gleichzeitig« oder »kein Beitritt zu einem der Blöcke« gab. Zweifellos hat die Unterstützung, die Russland dem Regime von Lukaschenka gewährt, negative Folgen für dessen Image bei den Belarusen (wie das schon 2019 während der »Nötigung zur Integration« der Fall war), während die Unterstützung der Demokratiebewegung durch die europäischen Länder Dankbarkeit hervorruft. Allerdings verfügen wir über keinerlei Belege, dass diese Prozesse einen nachhaltigen Einfluss auf die geopolitischen Orientierungen in der belarusischen Gesellschaft haben.

Eine weitere markante Besonderheit der belarusischen Revolution von 2020 ist der hohe Grad der Selbstorganisation und Dezentralisierung zunächst der Protest- und später der revolutionären Bewegung. In Belarus gehört die Frage der politischen Führerschaft zu den heikelsten Aspekten: All die Jahre hat das Regime in Belarus alles daran gesetzt zu verhindern, dass eine Person aus der Oppositionsbewegung oder auch nur aus der Wirtschaft oder dem Staatsapparat in der Gesellschaft große Popularität erlangt. Der personalistische Charakter des Regimes macht es erforderlich, dass allein die Figur Lukaschenka auf dem Bildschirm des Massenbewusstseins präsent ist. Das hat unter anderem dazu geführt, dass sich jetzt die gesamte Protestenergie auf diese Figur konzentriert. Die Wahlkampagne von 2020, deren Beginn deshalb so aufsehenerregend war, weil neue und recht überraschende Anwärter auf eine Führung auftraten (Sjarhej Zichanouski, Wiktar Babaryka, in geringerem Maße Walery Zapkala), drohte diesen »Fluch des Schweigens« aufzubrechen. Somit entsprach die harte Neutralisierung potenzieller Anführer zu Beginn des Wahlprozesses durchaus dem Geist der Politik des Regimes. Allerdings hatte das gewohnte Vorgehen diesmal nicht die gewohnte Wirkung. Die Verstärkung der Repressionen und der Druck auf alle, die auch nur versuchen würden, sich in eine Führungsposition zu bringen, führten dazu, dass die Bewegung für einen Wandel im Land sich vollkommen von unten entwickelte, durch eine Vielzahl einzelner Bürgerinitiativen und Gruppen, die unterschiedliche Aufgaben und die Selbstorganisation der Bürger übernahmen.

Ab dem September gewann die Bildung lokaler Gemeinschaften von Bewohnern der Städte, Stadtteile und Höfe an Schwung. Sie begannen zusammenzuarbeiten und ihr Vorgehen mit Hilfe lokaler Telegram-Chats zu koordinieren (heute gibt es landesweit über 1.000 solcher Chats; gefolgt von einer realen Koordination. War das Vorgehen der lokalen Gemeinschaften in der Anfangszeit mit einer Beteiligung an den landesweiten Protestaktionen verbunden (sonntägliche Protestmärsche, Streikbewegung, Initiativen zur Abberufung von Parlamentsabgeordneten), so begannen sie mit der Zeit, eigene Aktionsrichtungen zu schaffen und weiterzuentwickeln und ihre lokalen Aktivitäten zu organisieren.

Gleichzeitig bleibt das Vertrauen zu den Führungspersönlichkeiten und Strukturen der Bewegung, die versuchen, repräsentative und politische Funktionen auszuüben, auf recht hohem Niveau. Straßenumfragen im September und periodische Querschnitte des Projektes »Volksbefragung« zeigen, dass Swjatlana Zichanouskaja weiterhin die symbolische Anführerin ist, der man bereit ist, in der »Übergangsperiode« bis zur Abhaltung von Neuwahlen die Leitung zu übertragen. Die meisten Aktionen, die Swjatlana Zichanouskaja und ihr Team in Litauen initiieren, wie auch die Initiativen, die der Koordinationsrat startet, stoßen auf Zustimmung (die umstrittenste Initiative war wohl jene, die auf eine Abkoppelung von Belarus vom Zahlungssystem »SWIFT« abzielte). Andererseits hat dieses Vorgehen bis heute nicht zu einer grundsätzlichen Änderung der Lage geführt, und keine der Strukturen, die versuchen, politische Funktionen zu übernehmen, hat bisher eine schlüssige Strategie für ein weiteres Vorgehen vorgelegt. Somit verbleibt bei allem Vertrauensvorschuss an die Personen und Strukturen, die ein politisches Mandat übernommen haben, die Führungsrolle innerhalb des Landes de facto bei der selbstorganisierten Zivilgesellschaft, die das Tempo und die Richtung vorgibt, in der das Regime unter Druck gesetzt wird.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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