Ich möchte meine tiefe Dankbarkeit für die Auszeichnung zum Ausdruck bringen, die heute der »Solidarność« verliehen wird. Den unserer Gewerkschaft zuerkannten Freiheitspreis der Kurt-Schumacher-Stiftung verstehen und empfinden wir als einen Akt der Solidarität mit allem, was uns teuer ist und worum zu kämpfen wir nicht aufgehört haben.
In unserer Zeit wurde zur großen Frage, besonders im zweigeteilten Europa, wie in der Welt, in der wir leben und deren Teilung kein tödlicher Kampf überwinden wird, auf unserer Seite dieser Welt eine Bewegung in Richtung Freiheit möglich ist. Für uns und für andere in unserem Teil Europas lebende Völker ist dies eine fundamentale Frage, die darüber entscheidet, wie wir heute sind und wie wir morgen sein werden. Ich glaube, daß aber auch in dem Teil Europas, zu dem Sie gehören, diese für uns so wichtige Frage nicht etwas ist – oder jedenfalls nicht sein sollte –, das bloß als ein von weitem herüberdringender Ruf vernommen werden sollte. Auch über Probleme des Friedens, mit dem größere menschliche Zuversicht einhergehen könnte, oder über die Angelegenheiten Europas, in dem das Gefühl der Gemeinsamkeit nicht vom Zerfall bedroht wäre, kann man nur dann ernsthaft denken und glaubwürdig sprechen, wenn man sich des Gewichts dieser Frage wirklich bewußt ist.
Zusammen mit dieser Frage stellt sich jedoch eine weitere, nicht minder wesentliche Frage, die jene erste ergänzt. Es ist die Frage danach, was in diesem Prozeß, der unsere Freiheit erweitern könnte, am bedeutungsvollsten ist, worin vor allem Hoffnung zu suchen ist. Eine Antwort auf diese Frage ohne Illusionen und ohne Vorurteile zu suchen ist wichtig. Deshalb sollte nicht die Bedeutung dessen übersehen werden, was unter unseren Bedingungen eine größere Öffnung der Machtstrukturen für die Erwartungen und das Streben der Menschen bewirken könnte. Trotz schlimmer Erfahrungen wäre es töricht zu glauben, daß in dieser Beziehung die Geschichte schon das letzte Wort gesprochen hat. Die Geschichte hat uns aber auch gelehrt, daß unsere Stärke nur in etwas anderem ihre Quelle haben kann. Alle unsere Erfahrungen beweisen, daß es am wichtigsten ist, wie der Mensch ist und wie es um seine innere Freiheit steht; wie die Gesellschaft ist und wie weit ihr Bewußtsein entwickelt ist, daß sie nicht nur Objekt fremden Handelns, sondern Subjekt ihres eigenen Schicksals ist. Unsere ganze Erfahrung zeigt nämlich, daß der Freiheitsraum nur unter dem Druck authentischer Initiativen in der Gesellschaft erweitert werden kann, wie er auch nur unter diesem Druck auf Dauer erhalten bleibt.
Der Weg der »Solidarność« war ein neuer, noch ungebahnter Weg. Diese Bewegung der arbeitenden Menschen, gleichsam von Natur antitotalitär ausgerichtet, wenn man die Entstehungsgeschichte und die Umstände, unter denen sie arbeitete, betrachtet, diese Bewegung kämpfte nicht nur gegen etwas, sondern vor allem für etwas. Es ging um Mitwirkungsrechte, weil die Menschen fühlten, daß ihnen diese Mitwirkung verwehrt wurde. Mitwirkung, Mitentscheidung waren und sind für diese Bewegung Ausdruck der Freiheit.
Dieser Weg besteht fort. Denn die »Solidarność« gehört nicht nur der Vergangenheit an. Große Kapitel der Geschichte werden nicht abgeschlossen, ohne zugleich neue zu eröffnen. Einmal errungene Rechte schlagen Wurzeln in den Seelen der Menschen, und dieses Gefühl drängt nach Verwirklichung. Einmal errungene Rechte schaffen eine neue Qualität der Gesellschaft, setzen Maßstäbe für das Streben der Menschen wie für unumgängliche Veränderungen.
Das, worum wir kämpfen, gehört zu den grundlegenden Menschenrechten. Es ist eine wichtige Tatsache, daß im Laufe der letzten etwa fünfzehn Jahre die Idee der Menschenrechte ihre Bedeutung wiedergewonnen hat. Man versteht unter diesem Begriff jedoch immer noch eher den Widerstand gegen extreme Akte der Gewalt gegenüber Individuen. Wir sind die letzten, die dies nicht gebührend zu schätzen wissen. Zu den Menschenrechten gehört aber auch all das, was z. B. die Meinungs- oder die Vereinigungsfreiheit ausmacht.
Wir hoffen, daß unser Kampf von der öffentlichen Meinung in Europa und der Welt durch ein ebensolches Verständnis der Menschenrechte unterstützt wird; der Rechte des arbeitenden Menschen, der Rechte der Gesellschaften, der Rechte der Völker. Europa wird nicht Europa bleiben, wenn es nicht für die so verstandenen Menschenrechte kämpfen und diese nicht zum Programm erheben wird, das von Weitsicht getragen ist und die Werte unserer gemeinsamen Kultur zum Ausdruck bringt.
26. September 1987, aus Anlass der Verleihung des Freiheitspreises der Kurt-Schumacher-Stiftung an die Gewerkschaft »Solidarność«
Quelle: Tadeusz Mazowiecki, Partei nehmen für die Hoffnung. Über die Moral in der Politik.© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1990