Wir haben nicht aufgehört zu kämpfen

Von Tadeusz Mazowiecki

Ich möchte meine tiefe Dankbarkeit für die Auszeichnung zum Ausdruck bringen, die heute der »Solidarność« verliehen wird. Den unserer Gewerkschaft zuerkannten Freiheitspreis der Kurt-Schumacher-Stiftung verstehen und empfinden wir als einen Akt der Solidarität mit allem, was uns teuer ist und worum zu kämpfen wir nicht aufgehört haben.

In unserer Zeit wurde zur großen Frage, besonders im zweigeteilten Europa, wie in der Welt, in der wir leben und deren Teilung kein tödlicher Kampf überwinden wird, auf unserer Seite dieser Welt eine Bewegung in Richtung Freiheit möglich ist. Für uns und für andere in unserem Teil Europas lebende Völker ist dies eine fundamentale Frage, die darüber entscheidet, wie wir heute sind und wie wir morgen sein werden. Ich glaube, daß aber auch in dem Teil Europas, zu dem Sie gehören, diese für uns so wichtige Frage nicht etwas ist – oder jedenfalls nicht sein sollte –, das bloß als ein von weitem herüberdringender Ruf vernommen werden sollte. Auch über Probleme des Friedens, mit dem größere menschliche Zuversicht einhergehen könnte, oder über die Angelegenheiten Europas, in dem das Gefühl der Gemeinsamkeit nicht vom Zerfall bedroht wäre, kann man nur dann ernsthaft denken und glaubwürdig sprechen, wenn man sich des Gewichts dieser Frage wirklich bewußt ist.

Zusammen mit dieser Frage stellt sich jedoch eine weitere, nicht minder wesentliche Frage, die jene erste ergänzt. Es ist die Frage danach, was in diesem Prozeß, der unsere Freiheit erweitern könnte, am bedeutungsvollsten ist, worin vor allem Hoffnung zu suchen ist. Eine Antwort auf diese Frage ohne Illusionen und ohne Vorurteile zu suchen ist wichtig. Deshalb sollte nicht die Bedeutung dessen über­sehen werden, was unter unseren Bedingungen eine größere Öffnung der Machtstrukturen für die Erwartungen und das Streben der Menschen bewirken könnte. Trotz schlimmer Erfahrungen wäre es töricht zu glauben, daß in dieser Bezie­hung die Geschichte schon das letzte Wort gesprochen hat. Die Geschichte hat uns aber auch gelehrt, daß unsere Stärke nur in etwas anderem ihre Quelle haben kann. Alle unsere Erfahrungen beweisen, daß es am wichtigsten ist, wie der Mensch ist und wie es um seine innere Freiheit steht; wie die Gesellschaft ist und wie weit ihr Bewußtsein entwickelt ist, daß sie nicht nur Objekt fremden Handelns, sondern Subjekt ihres eigenen Schicksals ist. Unsere ganze Erfahrung zeigt nämlich, daß der Freiheitsraum nur unter dem Druck authentischer Initiativen in der Gesellschaft er­weitert werden kann, wie er auch nur unter diesem Druck auf Dauer erhalten bleibt.

Der Weg der »Solidarność« war ein neuer, noch unge­bahnter Weg. Diese Bewegung der arbeitenden Menschen, gleichsam von Natur antitotalitär ausgerichtet, wenn man die Entstehungsgeschichte und die Umstände, unter denen sie arbeitete, betrachtet, diese Bewegung kämpfte nicht nur gegen etwas, sondern vor allem für etwas. Es ging um Mit­wirkungsrechte, weil die Menschen fühlten, daß ihnen diese Mitwirkung verwehrt wurde. Mitwirkung, Mitent­scheidung waren und sind für diese Bewegung Ausdruck der Freiheit.

Dieser Weg besteht fort. Denn die »Solidarność« gehört nicht nur der Vergangenheit an. Große Kapitel der Ge­schichte werden nicht abgeschlossen, ohne zugleich neue zu eröffnen. Einmal errungene Rechte schlagen Wurzeln in den Seelen der Menschen, und dieses Gefühl drängt nach Verwirklichung. Einmal errungene Rechte schaffen eine neue Qualität der Gesellschaft, setzen Maßstäbe für das Streben der Menschen wie für unumgängliche Veränderun­gen.

Das, worum wir kämpfen, gehört zu den grundlegenden Menschenrechten. Es ist eine wichtige Tatsache, daß im Laufe der letzten etwa fünfzehn Jahre die Idee der Men­schenrechte ihre Bedeutung wiedergewonnen hat. Man ver­steht unter diesem Begriff jedoch immer noch eher den Widerstand gegen extreme Akte der Gewalt gegenüber Indi­viduen. Wir sind die letzten, die dies nicht gebührend zu schätzen wissen. Zu den Menschenrechten gehört aber auch all das, was z. B. die Meinungs- oder die Vereinigungs­freiheit ausmacht.

Wir hoffen, daß unser Kampf von der öffentlichen Mei­nung in Europa und der Welt durch ein ebensolches Ver­ständnis der Menschenrechte unterstützt wird; der Rechte des arbeitenden Menschen, der Rechte der Gesellschaften, der Rechte der Völker. Europa wird nicht Europa bleiben, wenn es nicht für die so verstandenen Menschenrechte kämpfen und diese nicht zum Programm erheben wird, das von Weitsicht getragen ist und die Werte unserer gemeinsa­men Kultur zum Ausdruck bringt.

26. September 1987, aus Anlass der Verleihung des Freiheitspreises der Kurt-Schumacher-Stiftung an die Gewerkschaft »Solidarność«

Quelle: Tadeusz Mazowiecki, Partei nehmen für die Hoffnung. Über die Moral in der Politik.© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1990

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Analyse

Tadeusz Mazowiecki – Politik und Werte

Von Thomas Behrens
Mit Tadeusz Mazowiecki ist in Polen einer der Gründerväter der Dritten Republik gestorben. Er wurde 86 Jahre alt. Als hervorragender Vertreter der jüngeren Generation der katholischen Intelligenz im kommunistischen Polen seit den 1950er Jahren und geistiger Vordenker der Solidarność war er einer der Hauptakteure bei der Moderation des Systemwechsels am Ende der 1980er Jahre. Anschließend legte er als Ministerpräsident der Jahre 1989/90 die Fundamente für ein freies Polen und machte sich maßgeblich um die Versöhnung und Verständigung mit Deutschland im europäischen Einigungsprozess verdient.
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