Am letzten Märzwochenende 2014 fanden erstmals in Polen »Tage des Atheismus« statt. Vorträge, Filmvorführungen und Diskussionen dienten in Warschau dazu, den Atheismus im katholischen Polen öffentlich zu machen und für ihn zu werben. Den spektakulären Höhepunkt bildete am 30. März die auf dem Markt der Altstadt nachgespielte Hinrichtung von Kazimierz Łyszczyński, einem Ex-Jesuiten und Sejmabgeordneten. An eben diesem Ort war an ihm 1689 wegen seiner Schrift »De nonexistentia Dei« (Über die Nichtexistenz Gottes) das Todesurteil durch den Strick vollstreckt worden.
In diesem frühen Märtyrer des Atheismus sehen Polens Atheisten ihren Patron. Seine Schrift enthält die auch heute noch gültigen Grundlagen atheistischer Überzeugung. Mit seiner Auffassung, Gott sei eine von Menschen erdachte Chimäre, nimmt er gleichsam Feuerbachs Projektionsthese vorweg. Und seine Meinung, die Gläubigen würden von ihren Religionswächtern betrogen, wobei die Religion lediglich ein Mittel zur Beherrschung der Menschen sei, zeigt eine deutliche Nähe zu Karl Marx und seiner Deutung der Religion als »Opium des Volkes«.
Den Warschauer »Tagen des Atheismus« gingen bereits ähnliche Kundgebungen voraus. So zogen im Oktober 2009 rund 500 bekennende Ungläubige durch Krakau, vorbei am Amtssitz des früheren Metropoliten Karol Wojtyła, dem späteren Papst Johannes Paul II., der diese Stadt in besonderer Weise katholisch geprägt hat. Inzwischen gibt es derlei Märsche in den verschiedensten polnischen Städten. Auf Transparenten finden sich Losungen wie »Weder Gott noch Herr«, »Weltliches Europa, weltliches Polen« oder »Ich töte nicht, ich stehle nicht, ich bin kein Ehebrecher, ich glaube nicht« – ein Bekenntnis zu den sittlichen Werten, die nach Auffassung der Atheisten keiner Religion bedürfen. Besonders dieses Motto füllt – neben anderen Sprüchen – gegenwärtig großflächige Plakatwände. Initiator ist die Stiftung »Freiheit von der Religion« (Wolność od religii).
Zudem gibt es Aufrufe im Internet, sich als Atheist zu outen. So kann man sich auf einer Liste eintragen, die dazu drei Rubriken vorsieht: Atheist, Agnostiker oder Ungläubiger. Diese Liste weist inzwischen über 20.000 Namen von Personen auf, die auf diese Weise ihre Abwendung von Kirche und Glaube bekunden. Doch in den Augen der Kirche handelt es sich hierbei noch nicht um Fälle von Apostasie. Weil es in Polen nicht, wie in der Bundesrepublik Deutschland, eine zwischen Staat und Kirche vereinbarte Kirchensteuer gibt, die gleich vom Gehalt einbehalten wird, kann dort ein Kirchenaustritt nicht an die Weigerung gekoppelt werden, Kirchensteuer zu zahlen. Polens Kirche besteht vielmehr darauf, dass ein Kirchenaustritt vor dem Pfarrer der zuständigen Gemeinde persönlich erklärt wird, ein Verfahren, zu dem sich nur wenige Austrittswillige bereitfinden. Damit bilden weder die Internet-Liste noch kirchliche Daten eine verlässliche Grundlage für eine Bestimmung der Anzahl polnischer Atheisten und ihrer Motive.
Die öffentlichen Aktivitäten polnischer Atheisten zeigen, dass es sich hier um eine durchaus wirksame Bewegung handelt, auch wenn sie im Vergleich zur Masse der sich immer noch zu 88 Prozent als Katholiken bekennenden Polen statistisch kaum ins Gewicht fällt. Doch ihr Versuch, politisch Fuß zu fassen, ist vorerst gescheitert. Zwar erreichte die von Janusz Palikot geführte politische Partei Deine Bewegung (Twój Ruch), ein Sammelbecken von Atheisten und Antiklerikalen, bei der Parlamentswahl vom 9. Oktober 2011 gleichsam aus dem Stand 10,1 Prozent der Wählerstimmen, doch inzwischen ist sie bedeutungslos geworden und dürfte bei den 2015 stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an der 5 Prozenthürde scheitern. Jedoch hat ihre kurzzeitige Aktivität merklich zu einer innergesellschaftlichen Verschärfung wechselseitiger Diskriminierung beigetragen – der Gläubigen und der Kirche aufgrund von Attacken gegen christliche Symbole in der Öffentlichkeit und den politischen Einfluss der Kirche sowie, als Reaktion darauf, durch nicht minder scharfen Angriffe von Gläubigen und der offiziellen Kirche auf derlei kirchenfeindliche Aktionen.
Die Neuartigkeit des Phänomens polnischer Atheisten
Dass es im postkommunistischen Polen zu einer atheistischen Bewegung kommen würde, mag überraschen. Die Begriffe »Atheismus« und »Unglaube« waren durch das kommunistische System diskreditiert und weckten negative Assoziationen. Sie verbanden sich nicht mit Freiheit, sondern mit Unterdrückung. Schließlich hatten die Polen regierenden Kommunisten aus ihrem Atheismus keinen Hehl gemacht. Ganz im Gegenteil. Auch sie waren, nicht anders als die Machthaber in der DDR, darum bemüht, die Gesellschaft zu atheisieren. Eine eigene »Gesellschaft zur Verbreitung weltlicher Kultur« (Towarzystwo Krzewienia Kultury Świeckiej) propagierte sozialistische Rituale und Lebensstile, allerdings mit mäßigem Erfolg. Während es in der DDR gelang, mit Einführung sozialistischer Namensgebung, Eheschließung und Begräbnis, vor allem aber durch die unter erheblichem Druck durchgesetzte Jugendweihe, eine weitgehende Abkehr der Bevölkerung von den Kirchen und dem von ihnen verkündeten christlichen Glauben zu erzielen, blieb Polen vor derlei atheistischen Einbrüchen verschont. Die katholische Kirche erwies sich wie in der Zeit der Teilungen Polens im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert als schützender Hort der Nation und der Bewahrung ihrer Identität. Sie gewann den Kampf um die Seelen. So schien mit dem Ende kommunistischer Herrschaft auch der von den Kommunisten vertretene Atheismus der Vergangenheit anzugehören, ging doch die Kirche aus dieser Auseinandersetzung als Siegerin hervor. Doch sie erlag – leider – der Versuchung des Triumphalismus.
Die Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems 1989/90 sind durch Bemühungen der Kirche bestimmt, unter Missachtung demokratischer Institutionen und Spielregeln politisch Einfluss zu nehmen. So sah etwa die Ordnung für die Parlamentswahlen vom Herbst 1991 ein Verbot von Wahlveranstaltungen in kirchlichen Räumen vor, das auf kirchlichen Druck zurückgenommen wurde, obwohl das Kirchenrecht eine Inanspruchnahme von Kirchenräumen für politische Zwecke untersagt. Ein beliebtes Mittel waren auch kirchliche Stellungnahmen vor den Wahlen, mit denen für der Kirche genehme Parteien und Abgeordnete geworben wurde. Mit diesen und anderen Initiativen setzte sich Polens Kirche dem Verdacht aus, einen katholischen Bekenntnisstaat anzustreben. Gegenreaktionen blieben nicht aus, und diese kamen nicht nur von außerhalb der Kirche. Auch intern gab es Warnungen vor ihrer Politisierung. Wenn sich bald nach der europäischen Wende in Polen antiklerikale Stimmen zu Wort meldeten, dann hat Polens Kirche durch ihre politische Einflussnahme jedenfalls selbst dazu beigetragen.
Erste Untersuchung des Phänomens polnischer Atheisten
Die atheistische Bewegung im katholischen Polen wirft Fragen auf, die nach Antworten verlangen. In welchem Sinn verstehen sich die Teilnehmer der atheistischen Märsche als ungläubig? Welche Gründe sind für ihre Entscheidung ausschlaggebend? Wie begründen sie ihre atheistische Überzeugung? In welchem Maße ist ihr Unglaube durch das Verhalten der Kirche mitbestimmt? Auf diese und weitere Fragen gibt eine Untersuchung von Dr. Radosław Tyrała am Lehrstuhl für »Allgemeine Soziologie und Soziale Anthropologie« der Krakauer Hochschule AGH Auskunft. Befragt wurden 7.500 nicht an Gott glaubende Personen.
Was die Altersstruktur polnischer Atheisten betrifft, so handelt es sich vorwiegend (54 Prozent) um Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 26 Jahren. Betroffen sind vor allem Großstädte, kaum die Landbevölkerung. Ein traditioneller, von Generation zu Generation vererbter Unglaube ist in Polen (noch) selten. Ungefähr 88 Prozent der polnischen Atheisten gehörten oder gehören formal immer noch der katholischen Kirche an. Ein eventueller areligiöser Einfluss in der Familie geht vor allem vom Vater (50 Prozent), weniger von der Mutter (30 Prozent) aus. Typisch für die Befragten ist eine fassadenhafte religiöse Sozialisation, eine rein rituelle Praxis, ohne ein grundlegendes Glaubensfundament. Der vorherrschende Moment, diese rein äußerliche Praxis zu beenden, fällt zeitlich mit dem Empfang der Firmung zusammen, die paradoxerweise ihrem Wesen nach der Glaubensstärkung und Zeugnisbefähigung dient.
Mit dem persönlichen Unglauben muss nach westlichen Erfahrungen nicht unbedingt eine feindselige Einstellung zur Kirche verbunden sein. Bei den polnischen Atheisten ist dies allerdings der Fall. Über 85 Prozent von ihnen bekennt sich zur Kirchenfeindschaft. Dies belegt einen stark negativen Bezug polnischer Atheisten zur katholischen Kirche. Andererseits ist ihr Kirchenbezug nicht eindeutig. Trotz ihrer ablehnenden Haltung besteht bei vielen von ihnen weiterhin eine kirchliche Bindung. So nehmen über 10 Prozent, wenn auch zumeist aufgrund eines äußeren Drucks, an der sonntäglichen Messe teil; 30 Prozent von ihnen stehen als Taufpaten zur Verfügung; 75 Prozent lassen ihre Kinder taufen. Dieses widersprüchliche Phänomen erklärt sich dadurch, dass diese und andere religiöse Rituale von ihnen nicht als Bekenntnis des Glaubens, sondern als Teil polnischer Kultur verstanden werden. Nur etwa 8 Prozent taten den formellen Schritt zur Apostasie.
Als hauptsächlichen Grund ihres Unglaubens gaben die Befragten eine wissenschaftliche Weltdeutung (54 Prozent) sowie eine negative Einstellung zur Kirche und ihren Vertretern (50 Prozent) an. Theodizeeprobleme (8,4 Prozent), atheistischer Familieneinfluss (2,5 Prozent) sowie eine marxistische Überzeugung (2,1 Prozent) spielten in den Angaben dagegen kaum eine Rolle.
Auseinandersetzung um den »Neuen Atheismus«
Wenngleich sich, im nachkommunistischen Polen sehr bald ein Antiklerikalismus herausgebildet hat, so kann von einer atheistischen Bewegung doch erst mit Beginn des neuen Jahrtausends gesprochen werden. Dass sich 54 Prozent polnischer Atheisten zur Begründung ihres Unglaubens auf eine wissenschaftliche Weltdeutung berufen, legt die Vermutung nahe, dass hier ein Zusammenhang mit dem Einfluss von Richard Dawkins, Sam Harris, Ronald Dworkin und Christopher Hitchens, den Vertretern des »Neuen Atheismus«, vorliegt. Sie alle haben ihre Werke, die bereits im Titel auf ihre atheistische Tendenz verweisen, nach dem 11. September 2001 veröffentlicht, nach jenem Tag also, an dem die islamistischen Flugzeugentführer ihre Terrorangriffe auf das World Trade Center und das Pentagon flogen und die USA zutiefst erschütterten. Den Anfang machte der amerikanische Neurowissenschaftler Sam Harris mit seinem Buch »Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft«, das er, wie er selbst sagt, unter dem Eindruck des 11. September verfasst hat. Darin nimmt er diese islamistischen Terroranschläge zum Anlass, sich grundsätzlich zur religiös motivierten Gewalt zu äußern. Er sieht in ihr einen integralen Bestandteil jeglicher Religion, auch des Christentums, wobei er neben den Kreuzzügen und Ketzerverbrennungen auch auf den christlichen Antisemitismus verweist, der den Weg zu Auschwitz geebnet habe. Auch der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, ein besonders kämpferischer Atheist, hat dazu aufgerufen, jeder möge sich öffentlich zu seinem Atheismus bekennen. Neben der von ihm vertretenen These, dass es zur biologischen Entwicklung weder eines Schöpfers noch eines planenden Projektors bedarf, sondern sich diese durch Selektion schlüssig erklären lasse, wendet er sich in seinem Buch »Der Gotteswahn« gegen die drei abrahamitischen Weltreligionen, deren Glaube er als rein irrational bezeichnet und denen er ausschließlich negative Auswirkungen auf den Geschichtsverlauf zuschreibt.
Auch der 2011 verstorbene Journalist und Autor Christopher Hitchens argumentiert ähnlich. In seinem Buch »Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet« bezeichnet er die Religion als »gewaltsam, irrational und intolerant«. Die genannten Werke sind allesamt in polnischer Übersetzung erschienen, und Polens Atheisten berufen sich auf sie.
Ist der von diesen Autoren erhobene Vorwurf der Gewalttätigkeit jeglicher Religion berechtigt? Es ist wenig sinnvoll, ihm lediglich polemisch zu begegnen. Schließlich ist Gewaltausübung im Namen Gottes und der Religion, auch der christlichen, so offensichtlich, dass sie nicht geleugnet werden kann. Aber ist Gewalt wirklich ein integraler Bestandteil jeglicher Religion? Zählt sie zu ihrem Wesen oder ist sie nicht vielmehr eine Entartung der Religion? Und lässt sich Religion auf Gewalt und Intoleranz reduzieren? Ist nicht das Evangelium eine Gegenbotschaft der Liebe, der Barmherzigkeit, der Vergebung und der Versöhnung? Und selbst wenn man der These vom Gewaltpotential der Religion zustimmen würde, wäre dann eine religionslose Welt frei von Gewalt? Ganz sicher nicht. Schließlich haben wir im 20. Jahrhundert reichlich Erfahrungen mit zwei gottlosen Systemen gemacht und unter ihrer Inhumanität schwer gelitten – auch und vor allem die Polen.
Zudem ist, was die Nichtexistenz Gottes betrifft, die Beweisführung der »Neuen Atheisten« keineswegs so schlüssig, wie sie vorgeben. Die Tatsache, dass Dawkins in der erklärenden Beschreibung der Evolution ohne Gott auskommt, besagt noch nicht, dass es ihn nicht gibt. Seine Negativbehauptung stellt eine der vielen Grenzüberschreitungen dar, an denen der Jahrhunderte alte Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Theologie überaus reich ist – auf beiden Seiten. Dabei wiederholen sich die Argumente, so dass die Begründungen der »Neuen Atheisten« keineswegs so neu sind, wie sie glauben machen. Dies ist auch die Meinung des niederländischen Zoologen Frans de Waal, der sich selbst als Atheist bezeichnet. Als Verhaltensforscher entdeckte er im Tierreich, zumal unter Schimpansen, ein Moralverhalten, woraus er in seinem Buch »The Bonobo and the Atheist« folgert, dass sittliche Prinzipien bereits vor der Religion belegbar sind und nicht erst durch sie begründet werden. Während er auf diese neue Erkenntnis verweisen könne, würden seine Kollegen zur Problematik nichts Neues beigetragen. Sie zielten mehr darauf ab, »neue Gewänder zu finden für jedes der Argumente, die bereits seit Jahrhunderten gegen die Religion gesammelt wurden.« In Hitchens könne man aufgrund seiner Feststellung, »die Religion vergifte alles«, einen wahren Marxisten erkennen. Harris übernähme »die Pariser Fackel der Vernunft«, indem er sich eine »Religion der Vernunft« ersehne, und Dawkins’ »Trugbild« unterscheide sich nicht sonderlich von »Freuds Illusion«. Die Religion könne nicht – so de Waal weiter – durch ein wissenschaftliches Weltbild ersetzt werden. Zudem sei es schwierig, in der Wissenschaft Wegweiser für einfache Menschen zu finden. Auch wenn man in der Entstehung der Wissenschaft einen Triumph der Vernunft sehen könne, so bedeute dies nicht, »dass Menschen ihrer Natur nach zur Gänze rationale Wesen seien.« Psychologische Untersuchungen würden beweisen, »dass wir in unserem Alltagsleben von logischen Regeln häufig abweichen.«
Von dieser Auseinandersetzung innerhalb des »Neuen Atheismus« abgesehen, finden sich, zumal unter Physikern, viele Theisten, die in der Harmonie des Alls und seiner mathematischen Naturgesetze das Wirken eines Schöpfergottes erkennen. Sowohl sie als auch das Schisma unter den »Neuen Atheisten« sollte für Polens Kirche eine Herausforderung sein, sich sachlich und kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, statt sie zu negieren oder die »Neuen Atheisten« lediglich polemisch zu bekämpfen. Es scheint, dass diese Aufgabe von Polens Kirche derzeit nur ungenügend wahrgenommen wird. Man findet zwar reichlich kirchliche Stellungnahmen zur In-vitro-Fertilisation oder »Gender bzw. Genderismus«, nicht aber eine kritische und selbstkritische, theologische und pastorale Versäumnisse einräumende Beschäftigung mit dem »Neuen Atheismus«, und dies, obwohl er offensichtlich für die Entscheidung polnischer Atheisten von besonderer Relevanz ist.
Negatives Image der polnischen Kirche
Wenn über 50 Prozent der sich als ungläubig bekennenden Polen als Grund für ihren Atheismus eine negative Einstellung zur Kirche und ihren Vertretern angeben, dann sollte dies Anlass zu einer kirchlichen Selbstkritik sein. Es stellt sich nämlich die Frage, welches Bild die Kirche in der Öffentlichkeit abgibt. Entspricht es der Vorstellung, die Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben »Evangelii Gaudium« von ihr entwirft? Ist es das Bild einer Kirche, die sich nicht verschließt, sich nicht an die eigenen Sicherheiten klammert, sondern zu den Menschen hinausgeht? Das einer Kirche, »die nicht darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein«, die sich nicht »in fixe Ideen und Streitigkeiten verstrickt«? Das Bild einer Kirche, die sich nicht verschließt »in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: ›Gebt ihr ihnen zu essen!‹« Diese (49) und weitere Aussagen in »Evangelii Gaudium« könnten für Polens Kirche die Grundlage einer Gewissenserforschung bilden.
Eine solche Gewissenserforschung unterbreitet der Dominikanerpater Ludwik Wiśniewski mit seinen in der katholischen Wochenzeitung »Tygodnik Powszechny« veröffentlichten Adventsbetrachtungen. Bereits 2013 hatte er sich zu Wort gemeldet und sich insbesondere gegen eine Kirche und Gesellschaft spaltende Politisierung des Glaubens durch Pater Tadeusz Rydzyk und sein Medienimperium von Radio, Fernsehen und Zeitschriften gewandt. An dieser Situation habe sich nichts geändert. In seinem Beitrag »Wir sind an einem Wendepunkt« beklagt er die manichäische Weltsicht, die in den von Pater Rydzyk kontrollierten Medien ihren Ausdruck finde. Als pars pro toto sei ein Zitat aus dem Munde von Bischof Czesław Napierała in der rechtsnationalen Tageszeitung »Nasz Dziennik« angeführt: »Sehr schwer haben es die Verkünder der Wahrheit der Guten Nachricht. Sie stehen vor einer ihnen nicht nur feindlichen Welt, sondern vor einer Welt, die Gott geradezu hasst, die das Gewissen bricht, die der Ausschweifung und Entartung huldigt, die die Mehrheit der Medien zu ihrer Verfügung hat. Hinter dieser Welt stehen die Mächte und Kräfte des Fürstens der Finsternis, des Lügners und Mörders von Anbeginn. Den Verkündern der Wahrheit drohen Verfolgung, Schikanen bis zur sozialen Vernichtung.« Das gibt ein Bischof eines Landes von sich, dessen Bewohner sich zu 88 Prozent als Katholiken bezeichnen.
Zu den Feinden der Kirche zählen für den Radiosender von Pater Rydzyk »Radio Maryja« nicht nur antiklerikale und atheistische Kräfte, sondern auch eine imaginäre »politische jüdische Lobby« sowie die Vertreter einer »offenen Kirche« samt ihren Medien. Vor allem sie bilden die Zielscheibe von Czesław Bartnik, Theologieprofessor an der Katholischen Universität Lublin (Katolicki Uniwersytet Lubelski – KUL), einem der prominentesten Mitarbeiter von Pater Rydzyk. Unter Verdrehung der Tatsachen und Behauptung von Halbwahrheiten unterstellt er den »offenen Katholiken«, sie seien darum bemüht zu beweisen, »dass die Verbindung des Evangeliums mit der polnischen Tradition, mit Politik, Ökonomie, Kultur, Wissenschaft und Kunst ein Verrat an eben diesem Evangelium ist. […] Die Vertreter der sogenannten offenen Kirche […] betrachten die Stimme der Kirche zur Verteidigung des Lebens als Fundamentalismus, das öffentliche Bekenntnis des Glaubens als Fanatismus, Patriotismus als Feindschaft gegenüber Minderheiten, die Verteidigung der Rechte der Kirche als Klerikalismus und die liturgische Feier verschiedener polnischer Feiertage als Verbreitung eines katholischen Bekenntnisstaates.« Jüngstes Beispiel eines nationalen Gedächtnisses unter kirchlicher Assistenz ist der von Jarosław Kaczyński und seiner Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) veranstaltete, gegen die regierende Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) gerichtete Warschauer Marsch am 13. Dezember 2014, dem Gedenktag der Verhängung des Kriegsrechts, zu dessen Ehrenkomitee fünf eng mit »Radio Maryja« verbundene Bischöfe zählten, die allerdings, offenbar auf Druck des Nuntius, kurz vor Beginn der Veranstaltung ihren Rückzug erklärten.
Es ist vor allem diese von Teilen der Kirche betriebene Politisierung, ihre offene Unterstützung der nationalkatholisch geprägten Partei Recht und Gerechtigkeit, die das Image der Kirche in der Öffentlichkeit negativ bestimmt und entsprechende Gegenreaktionen hervorruft. Diese Situation im Blick, schreibt Pater Wiśniewski: »In einem freien Land behandelt man nicht die demokratisch gewählte Regierung wie Okkupanten und Diebe, mit denen man nicht menschlich redet und auf die man nur mit einer vieltausendköpfigen Demonstration ›einprügelt‹ – eben diese Überzeugung und dieses Handeln wurden zum täglichen Brot, ja zur ›patriotischen Tat‹ vieler unserer Landsleute. Man mag es bedauern, dass sich parteigebundene Politikaster zu dieser Doktrin bekennen, doch es schmerzt mehr, wenn die Lehrer des Evangeliums der Gerechtigkeit und der Liebe so handeln – Priester und Bischöfe. Das ist dieser unselige ›polnische Dialog‹, der die Ordnung von Recht und Moral in unserem Land destabilisiert, der viele Menschen mit Pessimismus und Wut infiziert und tiefe Gräben aufreißt zwischen Menschen derselben Mutter – des Vaterlandes, aber auch zwischen Kindern unserer zweiten Mutter – der Kirche.« Und der viele der Kirche entfremdet und in den Unglauben führt.
Unter Anspielung auf »Radio Maryja« vermerkt Pater Wiśniewski, dass es in den letzten Jahren an einer Stimme der Bischöfe gefehlt habe, die aus der Mitte der Kirche kommenden »Lügen, Heucheleien sowie die gewöhnliche Gemeinheit zu brandmarken.« Doch anstatt zu brandmarken hat unlängst der Krakauer Kardinal Stanisław Dziwisz im Rahmen einer Feier zum 23-jährigen Bestehen von »Radio Maryja« dem Sender den »gebührenden Dank der Kirche und der Menschen guten Willens« ausgesprochen und betont: »Ihr habt ein großes Gut in Händen.« Dabei hatte der Kardinal noch auf einem Treffen der Bischöfe im September 2007 im Wallfahrtsort Tschenstochau (Częstochowa) erklärt: »Immer häufiger ist Radio Maryja kein Bestandteil der Einheit der polnischen Kirche, sondern ein Element politischer Offerten und eines politischen Tauziehens.« Warum diese Kehrtwendung? »Schließlich hat der Thorner Sender seine Weltsicht weder revidiert, noch seine Funktionsweise geändert. Weiterhin blickt er durch eine manichäische Brille auf die Welt, teilt die Menschen in gute und böse ein, sieht in der Kirche eine belagerte Festung und vermischt die Pastoral mit einem stark einseitigen politischen Engagement.«5
Es ist dieses Bild der belagerten Festung und der Vermischung von Pastoral und einem einseitigen politischen Engagement, das Polens Kirche in der Öffentlichkeit abgibt und das die Menschen, statt dass es sie anzieht, von ihr abstößt. Soweit der Atheismus der Polen hier seinen Grund hat, könnte er für die Kirche reinigend wirken – vorausgesetzt, sie nimmt die kirchenfeindlichen Argumente ernst und weist sie nicht gleich ungeprüft polemisch zurück. Vielleicht könnte ein solcher Dialog zwischen Atheisten und der Kirche, käme er denn zustande, zu einer Verbesserung des Image der Kirche beitragen.