Republik, Rebellion, Revanche

Von Jarosław Flis (Jagiellonen Universität, Krakau)

Zusammenfassung
Politik, Medien und Gesellschaft in Polen sind gespalten. Glaubt man den überspitzten Narrationen, dann kämpfen in Polen die »Partei der Diebe« und die »Partei der Verrückten« schon seit einem Jahrzehnt um die Macht. Seit den Wahlen 2015 stellt Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) nun den Präsidenten, die Regierungspartei und die absolute Mehrheit im Sejm. Das angestrebte »Durchregieren« erweist sich dennoch als schwierig. PiS sieht sich nicht nur mit der Opposition von Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und Modernen (Nowoczesna) konfrontiert, sondern auch mit politischen Flügeln innerhalb von PiS, die der Autor als Strömung der Republik, der Rebellion und der Revanche identifiziert. Die Aktivitäten von PiS führten zu einem erheblichen Anstieg der Spannungen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft sowie mit der Europäischen Union. Die Regierungspartei setzt dem die Überzeugung entgegen, dass die Schlüsselprobleme und -konflikte rasch gelöst werden müssen, um anschließend die Zeit und die Freiheit zu haben, gesellschaftliches Vertrauen aufzubauen. Das kann sich als Fehlkalkulation erweisen, doch auch aufdringliche Belehrungen von Seiten europäischer Institutionen können nicht kalkulierte Folgen nach sich ziehen.

Die Einordnung der politischen Bühne in Polen, das heißt eine Beschreibung, die für ihre Hauptakteure akzeptabel wäre, ist sowohl im Hinblick auf ihre Beteiligten wie auch die externen Beobachter schwierig. Das liegt an zwei Faktoren, die miteinander verknüpft sind. Erstens: Die politische Einteilung in Polen seit dem Jahr 2005 verläuft quer zu dem, was in den großen Ländern der Europäischen Union als normal erachtet wird, nämlich die Einteilung in das linke und das rechte politische Spektrum. Diese Einteilung ist auch in Polen in den Vorstellungen von Politik fest verankert, auch wenn die Wirklichkeit nicht richtig dazu passt. Wenn wir unter dem rechten Spektrum eine Gruppierung verstehen, die eine größere Rolle der Gemeinschaft im Bereich des Lebensstils und der Identität sowie eine geringere Rolle des Staates auf dem Gebiet der Wirtschaft einfordert, dann ist keine der polnischen parlamentarischen Parteien rechts. Insbesondere ist die Einstellung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) zur Wirtschaft zweifellos weniger rechts als die Haltung der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) oder von Die Moderne (Nowoczesna). Auch gehört keine von ihnen zum linken Spektrum, wenn man darunter versteht, dass die Rolle der Gemeinschaft bei Themen des Lebensstils und der Identität in Frage gestellt und angestrebt wird, die Rolle des Staates als Werkzeug der Einkommensverteilung zu stärken und zweifelhafte Folgen der Aktivitäten des Marktes einzudämmen. Weil aber in den Kategorien, die zum Beispiel im Europäischen Parlament angewendet werden, die PO als Mitte-Rechts-Partei gilt, wird PiS als Partei der »extremen Rechten« eingeordnet. Dies ist keine adäquate Identifizierung, sie trifft nicht den Kern des Konflikts zwischen dem »liberalen Polen« und dem »solidarischen Polen«. So wie der eine Pol des polnischen politischen Spektrums diejenigen anzieht, die für eine Beschränkung der Rolle der Gemeinschaft sowohl in der Wirtschaft als auch im Bereich des Lebensstils sind, so finden sich am anderen Pol diejenigen, die im Namen der Gemeinschaft die Rolle des Staates in der Wirtschaft sowie im Bereich der Familien- und der Geschichtspolitik stärken wollen. Diese Darstellung ist zwar eine große Vereinfachung, aber es ist dies die geringste Vereinfachung, die nicht völlig inadäquat und jenseits der Realität ist.

Das Wrestling der »Diebe« und der »Verrückten«

Die Entfernung von der Realität wird auch durch einen anderen Faktor beschleunigt, nämlich eine gewisse Theatralisierung des Konflikts. Der polnische Streit erinnert an Wrestling – die Argumente und Gesten sind in der Regel deutlich stärker als die tatsächlichen Handlungen. Die Rhetorik bauscht die Meinungsunterschiede, die Absichten und die Selbstdefinition der Konfliktseiten übermäßig auf. Dies ist auf den sozialen Hintergrund der hier thematisierten Einteilung zurückzuführen. Die modellhafte politische Einteilung in links und rechts, die Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, verläuft entlang der sozialen Leiter, sie teilt sowohl die Gruppe der Pförtner als auch die der Professoren. Beide politischen Kräfte haben ihre Mittel und Möglichkeiten, alle gesellschaftlichen Schichten zu erreichen, wenn auch nicht in gleichem, so doch in vergleichbarem Maße. In völligem Gegensatz dazu steht die Teilung, die quer zur sozialen Leiter verläuft, wenn also eine Partei von »den« Professoren und die anderen von »allen« Pförtnern unterstützt wird. Auf diese Weise werden gesellschaftliche Teilungen gewöhnlich von populistischen Bewegungen dargestellt. Die Antwort der »alten Parteien« darauf ist häufig, eine große Koalition zu bilden, die die grundsätzlichen Teilungen mit dem gemeinsamen Ziel zurückstellen soll, dass die als populistisch bestimmte Gruppierung nicht an die Regierungsmacht kommt. Eine solche Koalition bestätigt gewissermaßen die Thesen der Opponenten. Sie kann sich trotzdem erfolgreich an der Macht halten, wenn sie in der Lage ist, auf die realen Probleme der Mehrheit der Wähler zu reagieren, und wenn sie mit ihren Handlungsstandards nicht die Vorwürfe der Anti-Establishment-Bewegungen bestätigt.

Die Rhetorik des »wir sind die Repräsentanten der gewöhnlichen Polen, die gegen den Missbrauch von Seiten der Eliten kämpfen« ist Teil der Narration von PiS. So etwas wie eine große Koalition wurde die PO im Jahr 2005. Sie – und insbesondere ein Teil ihrer medialen und gesellschaftlichen Verbündeten – hatten nichts dagegen, die grundsätzliche Trennungslinie als eine solche darzustellen, die quer zur sozialen Leiter verläuft. Sie versuchte, daraus Kraft zu schöpfen, dass sie den »besseren« Teil der Gesellschaft repräsentiert. Die Quintessenz dessen war die Einteilung in »rationale« und »radikale« Polen, die von Präsident Bronisław Komorowski im Präsidentschaftswahlkampf 2015 suggeriert wurde. Diese Strategie führte allerdings zu einer Niederlage. In der Realität verläuft nämlich die Trennung zwischen dem »liberalen Polen« und dem »solidarischen Polen« weder ideal entlang der sozialen Leiter noch quer zu ihr – sondern schräg. Auch wenn unter der Professorenschaft die Anhänger des »liberalen Polen« und unter den Pförtner die des »solidarischen Polen« überwiegen, ist das Übergewicht dabei nicht vernichtend. Es reicht allenfalls dafür, Stereotype, Unverständnis und das Gefühl des Unrechts zu pflegen, jedoch birgt es keine Chance, die Konflikte eindeutig zu entscheiden und die unumstößliche Unterstützung, sei es der »Eliten« oder des »Volks«, zu erlangen. Für diejenigen, die sich in der Mitte der sozialen Leiter aufhalten, hat keine der politischen Kräfte eine große Überlegenheit. Dennoch lassen beide politischen Kräfte nicht nach, die emotionale Beteiligung ihrer Anhänger zu entfachen. Glaubt man beiden extremen und überspitzten Narrationen, dann kämpfen in Polen die »Partei der Diebe« und die »Partei der Verrückten« um die Macht. Zweifellos fassen beide Parteien die Bezeichnung über sich als Unrecht auf, für den anderen aber als Beschreibung, die »nicht weit von der Realität entfernt« ist. Das wiederum rechtfertigt, ein möglichst breites Repertoire an Mitteln aufzubieten, um sich den daraus ergebenden Gefahren entgegenzustellen. So gehen beide Seiten auf modellhafte Weise ihrer eigenen Rhetorik in die Falle.

Der Kampf von PiS gegen Institutionen und Establishment

Bei der gesellschaftlichen Basis beider politischen Lager ist ein kompliziertes Motivationsgeflecht festzustellen. Schlüsselbedeutung hat hier die Situation des Wahlsiegers PiS. In ihr verflechten sich in der Wahrnehmung der polnischen Politik und ihrer Institutionen drei Strömungen, die der Republik, die der Rebellion und die der Revanche. Schon die Reihenfolge ihrer Nennung ist eine unsichere Angelegenheit, die sich abhängig von der Position des Beobachters unterscheidet, und vielleicht werden manche Gruppen gar vollkommen übergangen. Hält man sich jedoch an den Grundsatz, dass die Beschreibung für die Akteure selbst akzeptabel sein sollte, muss als erstes die Gruppe mit republikanischer Einstellung genannt werden. Das sind diejenigen, die um den Zustand der staatlichen Institutionen in Polen besorgt und daran interessiert sind, ihnen den demokratischen Modellcharakter zurückzugeben. Bisher war dieser Charakter ihrer Meinung nach vom Establishment missachtet worden. In ihrer Interpretation haben sich die Institutionen, die über das Gemeinwohl wachen sollen, vor allem um die Interessen privilegierter Gruppen gekümmert, insbesondere derjenigen, die ihre Position zu Beginn der Transformation kraft der Vereinbarung der Eliten des alten Regimes und der Solidarność-Linken aufgebaut haben.

Ursprung der Einstellung der zweiten Gruppe, der rebellischen, ist die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Stand der Dinge. Sie wird in Form eines schlichten, eingleisigen Protests gegen die existierenden Institutionen und das bestehende Establishment operationalisiert, denn wenn diese für den Status quo verantwortlich sind, dann führt ihre Auflösung und Absetzung zu einer Verbesserung der Situation. Es gibt keinen konkreten Plan, aber es herrscht die Überzeugung, dass man auf jeden Fall das »Establishment-Institutionen-Geflecht« zerschlagen müsse und dann werde sich schon alles irgendwie fügen. Erst auf den Trümmern der Institutionen könne man neue Lösungen erarbeiten, denn so wie es ist, dürfe es nicht bleiben, auch wenn das Ausmaß der Veränderung und ihre Richtung noch nicht präzisiert sind. Das Schlüsselmotiv ist die Verbesserung der Lage der Menschen mit sozial niedrigerem Status, derer sich die dominierenden Eliten nicht nur nicht annähmen, sondern sie profitierten auch von diesem Zustand.

Die dritte Strömung, die der Revanche, stellt die bestehenden Institutionen und ihre Gestalt nicht in Frage, sondern nur deren personelle Besetzung. Hier herrscht die Überzeugung vor, dass die Institutionen grundsätzlich so bleiben können, allerdings unter der Bedingung, dass wir sie leiten und nicht unsere politischen Gegner. Es gibt im Lager der Wahlsieger keine Kraft, die tatsächlich Werte vertreten würde, die der Demokratie als solcher widersprechen würden. Aus ihrer eigenen Perspektive sind alle unternommenen Schritte nur eine Antwort auf die Missachtung der Standards von Seiten der Gegner. Sie nehmen dabei allerdings nicht wahr, dass eine solche Logik – entgegen ihren eigenen Intentionen – langfristig eine Gefahr für die Demokratie darstellt, denn sie lässt zu, dass mit demokratischen Bekenntnissen auf den Lippen und sicherlich auch im Herzen weitere Grenzen des politischen Anstands überschritten werden. Wenn sich nämlich hinter dieser Logik das Prinzip verbirgt, dass »eure Schlechtigkeiten unsere Schlechtigkeiten rechtfertigen«, dann fehlt die Motivation, die Eskalation des Konflikts zu beenden. Aktuell scheinen alle politischen Kräfte Geiseln der Dynamik der Situation zu sein.

Das Kräfteverhältnis zwischen der Opposition und dem Sieger PiS sowie ihrem Umfeld ist das Ergebnis des Verlaufs der beiden großen Wahlen im Jahr 2015, der Präsidentenwahlen und der Parlamentswahlen. Der Präsidentenwahlen, die eine überraschende Entscheidung mit sich brachten und die ganze Dynamik der Ereignisse und der Parlamentswahlen auslösten, die im Ergebnis sehr viel eindeutiger waren als die Erklärungen, wie es dazu gekommen ist. PiS erlangte die absolute Mehrheit im Sejm nach dem vorangegangenen Sieg in den Präsidentenwahlen und kontrolliert somit die Hauptzentren der Macht. Sie stößt allerdings auf eine Reihe von Problemen, so wie sie selbst ebenfalls Probleme auslöst, was damit zusammenhängt, wie die Machtstrukturen in den vergangenen 25 Jahren gestaltet worden sind.

Parteiinterne Strömungen im Ungleichgewicht

Mit Sicherheit haben die Wahlergebnisse keine eindeutige Lösung der Probleme mit sich gebracht, die bereits nach den Präsidentenwahlen auftraten (siehe Polen-Analysen Nr. 165 desselben Autors). Es geht dabei um die Frage, ob PiS eine normale Oppositionspartei sein soll, die um den Wähler der Mitte kämpft, der von der Regierungsfähigkeit der bisherigen Machthaber enttäuscht ist, oder ob sie die Kernwählerschaft mobilisieren soll, die nicht nur von der gegenwärtigen Situation und dem Zustand der Regierung hinsichtlich allgemeiner Standards enttäuscht ist, sondern hinsichtlich fundamentaler Unterschiede in den Werten, die diese Wähler wahrnehmen. Die Frage ist, ob bei PiS die republikanische Strömung oder doch die rebellische Strömung gewinnen wird. Die Frage ist auch, auf welche von beiden die Strömung der Revanche setzen wird, für die die Wahl zwischen jenen beiden eine Frage der Taktik und nicht der Strategie ist. Diese Verflechtung der Dilemmata wurde noch nicht gelöst.

Die Aufstellung Beata Szydłos als Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin war ein Signal, das die republikanische Strömung und eine Wende zum Wähler der Mitte akzentuierte. Einerseits erwies sich dies als großer Erfolg im Bereich des politischen Marketings, andererseits führte es in der PiS selbst zu wesentlichen Spannungen. Es zeigte sich, dass Beata Szydło zwar nicht die Führungs- und Kommunikationsfähigkeiten hat, um eine unumstößliche Konkurrenz für Jarosław Kaczyński als Parteichef darzustellen, und dennoch hat die Besetzung dieser Position mit Beata Szydło unvermeidlich eine solche Konkurrenzsituation kreiert. Aus der Perspektive von Jarosław Kaczyński und seiner eng­sten Mitarbeiter, die die Situation in der PiS kontrollieren, sowie der verbündeten Parteien (die Gruppierungen um Zbigniew Ziobro und Jarosław Gowin) entstanden hier eine erhebliche Spannung und ein sehr zerbrechliches Gleichgewicht. Einerseits war Beata Szydło nicht in der Lage, Jarosław Kaczyński zu entthronen und zu ersetzen, indem sie ihre eigenen Unterstützer mobilisierte und deren Kräfte und Integrität aufbaute. Andererseits war sie aber doch so stark, dass man sie nicht mehr loswerden konnte, auch wenn es an solchen Ratschlägen nicht mangelte. Aus der Perspektive der alten Akteure bedrohte Beata Szydło deren bisherige Position und brachte ein Element der Unsicherheit ein. Daraus ergab sich ein Spiel auf vielen Feldern, was sowohl im Wahlkampf als auch bei der sich anschließenden Regierungsübernahme manifest wurde. In diesem Spiel differenzierten sich die Beziehungen im Dreieck Jaroslaw Kaczyński – Beata Szydło – Andrzej Duda stark aus. Zusätzlich verkomplizieren sie sich durch andere Akteure, alte Mitarbeiter des Parteivorsitzenden, die Hauptströmung innerhalb der PiS und Gruppierungen um die Partei herum (verbündete Parteien, befreundete Medien usw.). Auf der einen Seite trat hier der absolut eindeutige und überraschende Wahlerfolg ein, der sich aus einer Reihe von außergewöhnlich günstigen Umständen ergab. Auf der anderen Seite erfolgte eine sehr dynamische Formierung der Beziehungen innerhalb des gesamten Lagers. Die Regierungsbildung, die Festlegung der Beziehungen zwischen Partei und Fraktion, zwischen Regierung und Präsident, all das fand in sehr großer Unsicherheit statt und führte zu erheblichen internen Konflikten.

Alles weist darauf hin, dass Jarosław Kaczyński nach dem Sieg die Initiative im ganzen Lager übernahm und dies aus den persönlichen Beschränkungen von Beata Szydło und Andrzej Duda resultierte. Dabei handelt es sich nicht um Schwächen in einem solchen Ausmaß, dass sie in absehbarer Zukunft vom Verlust ihres Amtes oder ihrer Position bedroht wären. Nichtsdestotrotz kam es zu einer deutlichen Schwächung der republikanischen Strömung zugunsten der Strömungen der Rebellion und der Revanche. Besonders deutlich wird dies bei der Positionierung von PiS in Parlamentsdebatten und in der Darstellung der Situation aus der Perspektive der Opposition.

Alle drei Strömungen in der PiS bilden zurzeit recht unkalkulierbare Konfigurationen. Mehr oder weniger bewusst, reflektiert und ehrlich sind sie in den Aktivitäten rund um das Verfassungsgericht oder auch die öffentlichen Medien präsent. Insbesondere am Beispiel des Verfassungsgerichts lassen sich die unterschiedlichen Strömungen aufzeigen. Aus der Sicht der republikanischen Haltung sollte dem Gericht seine modellhafte Rolle insofern wiedergegeben werden, als es bisher vom Establishment ausgenutzt wurde, um Vorhaben zu behindern, die gegen das Establishment gerichtet waren. Die rebellische Herangehensweise geht davon aus, dass das Verfassungsgericht überhaupt nicht notwendig ist. Es ist nur das Symbol des früheren Establishments, das dessen Dominanz im institutionellen Geflecht unterstützt. Es sollte grundsätzlich nicht die Rolle des Souveräns, der in den Wahlen bestimmt wird, beschränken, denn – so die Vermutung – »wir«, und nicht die Eliten, werden immer die Vertreter des Volkes sein. Die dritte Position besteht darin, dass, so wie früher das Verfassungsgericht von der parlamentarischen Mehrheit kontrolliert wurde, »wir« jetzt die Mehrheit im Verfassungsgericht ausüben sollen. Das Geflecht dieser Strömungen hat sich bisher noch nicht entwirrt und die Angelegenheit des Verfassungsgerichts befindet sich in einer Pattsituation. Es ist vorstellbar, dass die von diesem Konflikt erschöpften Seiten sich zusammensetzen und eine Lösung finden werden, die nach Möglichkeit für alle akzeptabel sein wird. Ebenso ist denkbar, dass sich die Pattsituation hinziehen und eine der Seiten schließlich dank juristischer Tricks oder schwindender Entschlossenheit der anderen Seite Erfolg haben wird. Es ist schwierig, zu ergründen, welcher der drei Motivationen sich das Lager der Wahlsieger bei seinen Initiativen zum Verfassungsgericht bedient hat. Mehr noch – welche der Motivationen offenlag und welche verschleiert wurde und ob die Anhänger einer bestimmten Position einfach von der Dynamik des Geschehens gesteuert wurden und von der Loyalität zur Partei dazu verurteilt waren, die Lösungen zu akzeptieren, die ihren Erwartungen und Vorstellungen entgegenstanden.

Einfluss auf das Gleichgewicht der Strömungen innerhalb der PiS hat auch, dass Kukiz ‘15 in den Sejm eingezogen ist, die selbst feindlich gegenüber den Institutionen der Demokratie und dem Establishment in ihrer bisherigen Gestalt eingestellt ist und der die rebellische Haltung eindeutig am nächsten liegt. Die Anwesenheit von Kukiz ‘15 schwächt eindeutig die republikanische Strömung bei PiS. Theoretisch könnten die Strömung der Revanche und die der Rebellion die republikanische Strömung entbehren und sie mit Politikern aus der Bewegung Kukiz ‘15 ersetzen. Das wäre politisch sicherlich kostspielig und es wäre nicht klar, wie sich das weitere Geschehen entwickeln würde. Allerdings ist dies eine der Möglichkeiten, die der republikanische und gemäßigte Flügel in der PiS in Betracht ziehen muss.

Die Arroganz der PO, der Druck der EU

Die Opposition hat die Tendenz, schrille Töne anzuschlagen; in ihrer Beschreibung ist die Politik von PiS eine Gefahr für die Demokratie, wofür die Angelegenheit des Verfassungsgerichts ein Beispiel ist. Die Situation ist hier allerdings insofern uneindeutig, als die Manöver um das Verfassungsgericht herum infolge der Entscheidungen der vorangegangenen Regierungskoalition einsetzten, die offenkundig im Widerspruch zu den in Polen etablierten Regeln standen. Entgegen den Regeln hatte sie zusätzliche Verfassungsrichter gewählt und damit den Streit eröffnet. Das Lager von PiS vertritt die Meinung, dass dieses Vorgehen seine eigenen Maßnahmen vollkommen rechtfertigt und seine Maßnahmen dadurch begründet sind, dass die PO mit der Demontage der Institutionen begonnen hat. Die Gegenseite dagegen findet, dass – auch wenn sie sich zu den Fehlern bekennt – dies nicht die Schritte rechtfertigt, die PiS unternommen hat. Abgesehen von der Frage der Rechtfertigung der Vorgehensweise von PiS tritt hier das Problem der tatsächlichen Rechtskraft auf. Ein Teil der bisherigen Standards und vernünftigen Vorstellungen wird ignoriert und ein Teil bleibt weiterhin wirksam. Dabei ist immer noch nicht sicher, ob PiS in der Lage sein wird, den Kampf zu gewinnen, selbst wenn sie einen Teil der Regularien aufgeben wird, zumal die Regeln nach wie vor als verbindlich gelten. So gesehen ist das Ergebnis nicht sicher, denn bereits im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Urteils des Verfassungsgerichts wurde deutlich, dass auch die Siegerpartei mit ihrer Mehrheit keine vollkommene Handlungsfreiheit besitzt und es nach wie vor elementare Regeln gibt, an die auch sie sich halten muss. Dessen ungeachtet wiesen die geltenden Regeln enorme Lücken auf, die nun Anlass für weitere Konflikte sind.

Die Aktivitäten von PiS führten zu einem erheblichen Anstieg der Spannungen nicht nur innerhalb der politischen Klasse, sondern auch in breiten Teilen der Gesellschaft. Auch wenn die Anhänger von PiS der Meinung sind, dass diese Stimmen übertreiben und die Urteile der anderen Seite ungerecht oder schlichtweg inadäquat sind, ist doch allein die Tatsache, dass dieser Art Angelegenheiten erläuterungsbedürftig sind, eine Belastung für jede Regierungsmehrheit. Hinzu kommt, dass die Lage auch insofern unklar ist, als PiS der Vorgängerregierung Arroganz vorwarf, aber nun in ihren Aktivitäten mindestens genauso viel Arroganz an den Tag legt wie ihre Vorgänger. Auf der anderen Seite hat die jetzt aktuelle Opposition damals, als ihr in der Regierungsfunktion von PiS der Vorwurf gemacht worden war, eine Gefahr für die Demokratie zu sein, von Hysterie und Übertreibung gesprochen. Heute benutzt sie ähnliche Argumente wie damals PiS. Letztlich ist es nicht leicht vorherzusehen, wie der Konflikt enden wird, wenn beide Seiten die Fehler der Vorgänger wiederholen. PiS muss durchaus mit einer Niederlage in den kommenden Wahlen rechnen, hier unterscheidet sich die Situation in Polen von der in Ungarn. Die Opposition ist nicht in kooperationsunfähige Teile zerspalten und die Unterstützung für das Regierungslager ist deutlich niedriger als im Falle von Fidesz in Ungarn.

Ein Unsicherheitsfaktor auf Seiten der Opposition sind die Beziehungen zwischen der Bürgerplattform und der neuen politischen Kraft Die Moderne, die in manchen Umfragen die PO bereits überholt und die Führung eingenommen hat, obwohl sie in den Parlamentswahlen nur 7,6 Prozent erhalten hatte und ihre Fraktion sehr klein ist. Sie profitiert von der Aura des Neuen und davon, dass sie nicht die Lasten der Vorgängerregierungen trägt. Hinzu kommt die Tatsache, dass es in der PO nicht zu einer radikalen Veränderung an der Spitze gekommen ist. Dass Grzegorz Schetyna nun die Parteiführung übernommen hat, ist allein aus Sicht der PO ein radikaler Wandel, jedoch nicht aus der Perspektive externer Beobachter. Nur weil seine Position seit dem Jahr 2009 systematisch untergraben wurde und er der Hauptgegenspieler von Donald Tusk und Ewa Kopacz war, bedeutet diese Entwicklung nicht eine tatsächliche Veränderung für die potentiellen Wähler. Zwar handelt es sich um einen gewissen Umbruch für die PO, aber in Bezug auf das Vertrauen, was es bei den Wählern wiederzugewinnen gilt, ist es das nicht. Dafür wäre wahrscheinlich eher jemand geeignet, dessen Verbindungen zu den PO-Regierungen in den letzten acht Jahren weniger eindeutig gewesen waren. Grzegorz Schetyna, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident, Sejmmarschall und Außenminister, ist kein neuer Akteur in der Politik und die Prämie für »Neuheit« erhält Ryszard Petru (Die Moderne), der vorher nicht auf der politischen Bühne präsent war. Eine andere Frage ist die unsichere Situation der Linken hinsichtlich ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen und ihrer internen Veränderungen.

Ein wesentliches Problem sind für die polnische politische Bühne die Versuche der Europäischen Union zu intervenieren. Die europäischen Institutionen sind in Polen eine wichtige Autorität, die nun gerade untergraben wird. Jahrelang war Polen ein Land, in dem die Mehrheit der Bürger den EU-Institutionen mehr vertraute als ihren eigenen. Allerdings hat die europäische Flüchtlingskrise die Autorität der europäischen Institutionen in Polen enorm geschwächt. Auch wenn sie fortbestehen sollte, muss diese Autorität nicht für alle gleichermaßen Gültigkeit haben. Aus der Tatsache, dass die, die die Regierung eindeutig negativ beurteilen, hoffnungsvoll auf die europäischen Institutionen und den internationalen Druck auf die polnische Regierung schauen, erfolgt nicht unbedingt, dass der Druck auch Wirkung zeitigt. Vorstellbar ist auch der umgekehrte Effekt. Es lässt sich hier das Beispiel Ungarn anführen, wo der äußere Druck weniger die Korrektur der Politik bewirkte, sondern vielmehr den Glauben an die Realität der Welt der gemeinsamen Werte in Frage stellte. Die Berufung auf gemeinsame Werte erfordert die Sicherheit, dass sie tatsächlich gemeinsam sind, sowie die Achtung der Werte, die für die andere Seite wichtig sind. Ein Schaden für die beiderseitigen Beziehungen kann durch die Haltung der Überlegenheit herbeigeführt werden sowie durch aufdringliche Belehrung, kombiniert mit einem Mangel an Verständnis, worin das Problem für den anderen besteht. Eine reale Gefahr für die liberale Demokratie ist die Überzeugung, dass sie darauf beruht, dass immer die Liberalen Recht behalten müssen.

Irrungen und Wirrungen von PiS

Zweifellos ist PiS von ihrem Wahlerfolg berauscht. Sie beging, auch was die Taktik betrifft, einige Ungeschicklichkeiten, wenn nicht sogar große Fehler. Sogar unter ihren Anhängern wuchsen große Zweifel an dem Sinn ihrer Strategie. Sie hat sich in Situationen verrannt, aus denen sie schlecht wieder herauskommt, wenn sie das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Strömungen halten will. Das kann dazu führen, dass in Verbindung mit unwiderruflichen Fehlern bei der Regierungstätigkeit und zu vielen neuen Konfliktfeldern die Unterstützung für sie brüchig wird. Manche Entscheidungen, zum Beispiel die Rücknahme der Reform des Einschulungsalters, werden mit Sicherheit ernstzunehmende Probleme auf lokaler Ebene hervorrufen, was wiederum die Umfragewerte für das Regierungslager beeinflussen wird. Hinzu kommt, dass die Gegner mobilisiert wurden und obwohl ein Teil ihrer Aktivitäten ebenfalls Zweifel weckt hinsichtlich ihres adäquaten Charakters und, noch wichtiger, ihrer Wirksamkeit, dem Regierungslager Einhalt zu gebieten, könnte PiS dieselbe Sünde begehen, die die PO den Sieg kostete: Die Überzeugung, dass es niemanden gibt, gegen den man verlieren könnte, und dass der Erfolg bei den nächsten Wahlen selbstverständlich ist, wenn es vorher nur gelingt, die sozialen Wahlversprechen einzulösen. So herrscht im Regierungslager die Überzeugung, dass die Schlüsselprobleme und -konflikte rasch gelöst werden müssen, um anschließend die Zeit und die Freiheit zu haben, gesellschaftliches Vertrauen aufzubauen. Das kann sich als Fehlkalkulation erweisen. Das Übermaß an Konflikten beschränkt die Wirksamkeit der Handlungen. Es vermehrt die Feinde, was den gesellschaftlichen Widerstand gegen konkrete Schritte vergrößert. Zusätzlich erschüttert es die Selbstsicherheit in den eigenen Reihen, was ebenfalls die Entschlossenheit und Zielstrebigkeit einschränkt. Außerdem erschweren das Tempo der Aktivitäten und die wachsenden Konflikte die Diskussion einzelner Lösungen hinsichtlich ihrer technischen Seite. Das kann zur Folge haben, dass sogar solche Absichten, die zu einem Anstieg der Unterstützung und der Lösung konkreter Probleme führen könnten, den gegenteiligen Effekt nach sich ziehen, nicht zuletzt wegen unzureichender Vorbereitung und Umsetzung.

Die gegenwärtige Situation in Polen ist mit Sicherheit weit von einer Entscheidung entfernt. Es ist eher der Anfang von Veränderungen als ihr krönender Abschluss, und die konkrete Richtung, die die Veränderungen einschlagen werden, bleiben die große Unbekannte – nicht nur aus polnischer, sondern auch aus europäischer Perspektive. Wenn sich irgendwelche Gefahren auftun sollten, liegt deren Ursprung in der Aufregung und der Übertreibung. Diese sind immer deutlich leichter beim Gegner festzustellen, als in den eigenen Reihen. Daher wird es von wesentlicher Bedeutung sein, inwieweit die einzelnen Akteure Möglichkeiten sehen, den Konflikt einzugrenzen und nicht eskalieren zu lassen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Zum Weiterlesen

Analyse

Budapest in Warschau? Regierungsfreundliche Mobilisierung in Polen und in Ungarn

Von Mateusz Fałkowski
Der Autor stellt dar, wie Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) während ihrer acht Jahre in der Opposition ihre Anhänger mit Hilfe von Strategien sozialer Bewegungen mobilisierte. Außerdem nutzte sie ihre Verwurzelung in der Solidarność-Bewegung und unterstützte ein Netz von parteinahen Organisationen und Milieus. Ähnlich verfuhr Fidesz in Ungarn. Der Text analysiert, wie zuerst Fidesz in Ungarn und dann PiS in Polen Strategien der sozialen Bewegungen auch nach Übernahme der Regierungsverantwortung aufrechterhielten, um ihre Wählerschaften fortgesetzt zu mobilisieren. Des Weiteren vergleicht der Autor die Pro-Regierungsmärsche Békemenet in Budapest und den »Marsch für Freiheit und Solidarität« in Polen. (…)
Zum Artikel
Analyse

In Straßburg und im Netz. Die Aktivität der polnischen EU-Abgeordneten in der ersten Hälfte der siebten Wahlperiode des Europäischen Parlaments

Von Agnieszka Łada, Melchior Szczepanik
Die siebte Wahlperiode des Europäischen Parlaments, die im Januar 2012 Halbzeit hatte, war die zweite, in der polnische Abgeordnete in Straßburg und Brüssel auf den Parlamentsbänken saßen. In den Europawahlen 2009 wählten die Polen eine Gruppe von Repräsentanten, in der Experten stark vertreten sind – häufig im Bereich der europäischen Politik bereits erfahrene Politiker, die aus einer der drei großen politischen Strömungen kommen. Unter anderem aus diesen Gründen sind die aktuellen polnischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihren Aktivitäten effektiver als die Abgeordneten der Wahlperiode 2004 bis 2009. Sie widmen ihre Tätigkeit häufiger europäischen Themen, als dass sie sich in der heimischen Politik engagieren. Ablesen lässt sich dies auch an ihrer Kommunikation mit Hilfe der neuen Medien. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS