Dem Pfau der Nationen. Ein Gespräch von Adam Krzemiński (Polityka) mit Włodzimierz Borodziej über Stolz, Komplexe und Geschichtspolitik

Adam Krzemiński

Es gibt die These, dass ein Vierteljahrhundert nach der Revolution von 1989 Europa von einer nationalistisch-populistischen Konterrevolution ergriffen wird.

Włodzimierz Borodziej

Auf jede Revolution folgt irgendwann die Reaktion. 26 Jahre nach der Französischen Revolution kam es zur Restauration der Monarchie der Bourbonen. Lange Zeit erkannte man in Polen und in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks vollkommen vernünftig an, dass die freiwillige Beschränkung der Souveränität des Nationalstaates im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft durch den Gewinn von Einfluss auf diese Gemeinschaft ausgeglichen wird. Für den Beitritt zur EU im Jahr 2004 gab es das Einverständnis der politischen Eliten und sogar – vom Papst erzwungen – das Einverständnis der Kirche. Im Laufe der letzten zehn Jahre begann dieses Einverständnis zu zerbröckeln.

Stichwort: Brüssel ist ein zweites Moskau.

Die Enttäuschung über die EU kann man als natürliche Reaktion werten. Es ist auch eine Folge der fortschreitenden Verbitterung über den Neoliberalismus. Wohlstand zieht Demokratie nach sich und stabilisiert sie – diese Lehre hat Europa aus dem deutschen Beispiel nach 1949 gezogen. Allerdings zeigen die ostmitteleuropäischen Länder heute, dass diese These nur von begrenztem Wert ist. Wohlstand und Demokratie müssen sich nicht notwendig unterstützen. Die Enttäuschung über die EU war vorhersehbar. Aber dass der Glaube an die Demokratie zerbricht, ist verwunderlich.

Ein Schlüsselbegriff ist die Souveränität. Zwar sind wir in der EU, aber sie darf keine normative Kraft sein, die unsere Fehler korrigieren würde.

Die, die das vertreten, haben paradoxerweise Recht. Es zeigt sich, dass die Europäische Union in der Lage ist, die Nichteinhaltung der anekdotischen Direktive über den Krümmungsgrad der Banane zu bestrafen. Aber sie verfügt über keine vorbeugenden Maßnahmen, wenn in einem Mitgliedsland die Demokratie demontiert wird. Als in Österreich Haider in die Regierung kam, hatten wir es mit einer Überreaktion der EU zu tun. Später bei Berlusconi in Italien gab es gar keine Reaktion mehr und bei Orbán in Ungarn eine sehr dezente, um nicht den Fehler wie bei Haider zu begehen. Und jetzt ist zu sehen, dass der dreistufige Kontrollmechanismus der EU eine Fiktion ist, denn es ist klar, dass es auf der zweiten Stufe aufhören wird, denn es wird sich immer ein Land finden, das gegen Sanktionen stimmt, weil es etwas auf dem Kerbholz hat.

Folglich, wenn man zu Hause tun und lassen kann, was man will, kann man sogar die Ungleichheit vor dem Gesetz einführen?

Was ist die Einteilung in bessere und schlechtere Polen denn anderes? Dagegen ist die Frage der Souveränität tatsächlich interessant. Gemäß der berühmten Definition von Carl Schmitt ist derjenige souverän, der den Ausnahmezustand verhängen kann. Folglich wäre General Jaruzelski der Vertreter eines souveränen Staates gewesen. Der Begriff der Souveränität ist also unscharf und wird mythologisiert. Und in Polen wird auf Teufel komm raus versucht, ihn mit Inhalt zu füllen. WIR zählen und nur wir, ohne die anderen zu beachten – denn sie bekämpfen uns die ganze Zeit. Timothy Snyder erinnerte unlängst daran, dass die Anerkennung des Zustands des permanenten Kampfes der Rassen (der Nationen) als natürlicher Zustand eine sowohl lange als auch fatale Tradition hat.

Seine These ist folgende: Völkermord massenhaften Ausmaßes kann sich wiederholen. Nicht auf der Grundlage des klassischen Antisemitismus…

…sondern auf der Grundlage von irgendetwas anderem. Beispielsweise der Völkerwanderung aus dem Süden in den Norden infolge der klimatischen Veränderungen und der Kriege um Ressourcen.

Das sind zumindest keine theoretischen Weitschweifigkeiten. Die Chefin der populistischen Alternative für Deutschland (AfD), Frauke Petry, sagt, dass man die Grenzen der EU sichern und sogar auf Frauen und Kinder schießen müsse, die in das gelobte europäische Land eindringen wollen. Und in der polnischen Presse gab es schon Titel wie »Das sind keine Flüchtlinge, das sind Angreifer«…

und man müsse sich vor ihnen verteidigen. Ich wundere mich immer darüber, wie wenig hier das spanische Beispiel ausgebeutet wird. An der Mauer in Ceuta, der spanischen Enklave in Afrika, kamen im Jahr 2015 »nur« hundert Menschen ums Leben. Ich möchte aber noch an einen anderen Hinweis Snyders anknüpfen. So wie für Hitler die Juden Schuld daran waren, dass sie, indem sie auf universelle Rechtsnormen pochten, sich dem quasi natürlichen Kampf der Rassen entgegen stellten, so wird jetzt aus der Perspektive der populistischen Rechten die Rolle des mythischen Juden von Brüssel gespielt, und zwar gleichermaßen perfide, kosmopolitisch und dem Mammon ergeben. Und in dem Versuch, die zwischenmenschlichen und internationalen Beziehungen zu »zivilisieren«, übt es faktisch eine unkontrollierte, geheime Macht im Namen der Stärksten aus.

Einer der Passierscheine in die EU war die Versöhnung der »Erbfeinde«. Das Vorbild war die Umarmung de Gaulles und Adenauers im Jahr 1962 in der Kathedrale von Reims. Aber wohl am bedeutsamsten war für Europa die polnisch-deutsche Versöhnung, zweier asymmetrischer Nachbarn, die von einer existentiellen Gegensätzlichkeit der Interessen belastet waren. Eine der Auswirkungen dieser Versöhnung war der wissenschaftlich-kritische Blick auf die Geschichte beider Nationen.

Die gemeinsame Schulbuchkommission wurde später zum Vorbild des polnisch-ukrainischen Dialogs und sogar des polnisch-russischen Dialogs. Das Resultat ist hier der hervorragende Band der gemeinsamen Kommission für schwierige Angelegenheiten.

Es wird allerdings noch viel Wasser die Weichsel und die Wolga hinunterfließen, bevor ein Äquivalent zu den neunbändigen »Polnisch-deutschen Erinnerungsorten«, herausgegeben von den Professoren Robert Traba und Hans-Henning Hahn, entsteht.

Die polnisch-russischen Erinnerungsorte können ebenfalls faszinierend sein – zum Beispiel wenn irgendwann ein Experte für die Geschichte des 19. Jahrhunderts untersuchen würde, ob bei Borodino mehr polnische Adlige auf der russischen Seite als auf der napoleonischen Seite gekämpft haben.

Dennoch rufen die Projekte der Geschichtspolitik der EU, beispielsweise die Einrichtung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel, heftige Proteste hervor: »Das ist ein Ausverkauf der nationalen Geschichte!« Als ob man uns Grunwald [Schlacht bei Tannenberg 1410, d. Red.] wegnehmen würde.

Dieses Projekt hat ausschließlich Proteste in Polen hervorgerufen. Nirgendwo anders.

Vielleicht aus einem unbewussten Gefühl der Schwäche heraus. Unser allgemeiner Stolz auf die Vergangenheit stützt sich auf einige Daten – 1410, 1683, 1920, 1944 – und wird wahrscheinlich von der Angst genährt, dass wir in der Zusammenarbeit mit Stärkeren nicht zurechtkommen werden. Und Chopin und Curie-Skłodowska sind nur eine Zierde der post-nationaldemokratischen [die Nationaldemokratie war eine der prägenden politischen Bewegungen in der Zwischenkriegszeit in Polen, d. Red.], historischen Neurose, dass wir von Feinden umgeben und im Inneren von deren Agenten bedroht sind. Jetzt wird die Rückkehr zur Geschichtspolitik proklamiert. Nicht Dialog und gemeinsame kritische Reflexion, sondern Orden abholen und historisches Marketing: das Lancieren des Regierungskanons im In- und Ausland. Wird jede nachfolgende Regierung einen eigenen nationalen Mythos aufzwingen?

Ich denke nicht. Der Glaube, dass Geschichtspolitik Gemeinschaft stiftet, ist eine Domäne der Rechten. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei [PZPR – Regierungspartei zur Zeit der Volksrepublik Polen, d. Red.] war effektiv, als sie auf die Traditionen der extremen Rechten zurückgriff.

»ONR ist die Erbin der Partei«, schrieb Miłosz…

und wenig effektiv, wenn sie in der Phase des Niedergangs Jaruzelskis die Erste und die Zweite Republik Polen mit der Verfassung des 3. Mai und der Rogatywka [traditionelle militärische Kopfbedeckung, d. Red.] rehabilitierte. Meiner Meinung nach ist Geschichtspolitik als Wunsch, ein makelloses Bild der nationalen Vergangenheit zu gestalten, ein Privileg oder eigentlich fast ein Monopol der Rechten. Alle anderen Gruppierungen, die eine Form von Geschichtspolitik betreiben, bemühen sich, die eigene Vergangenheit kritisch darzustellen und sie in einen größeren, universellen Kontext einzubetten. Oder sie interessieren sich überhaupt nicht dafür.

Wenn die Nation – nicht als mystische Blutsgemeinschaft oder als privilegierter adliger Stand, sondern als »we, the people«, Volk, als Gemeinschaft aller Bürger – eine »Erfindung« beider Revolutionen der Aufklärung, der amerikanischen von 1776 und der französischen von 1789 ist, worauf beruft sich dann die Rechte?

Auf Gott, Ehre, Vaterland und im Hintergrund auf die Familie, die Arbeit, den Gehorsam. Von den Schlagworten der französischen Revolution regt heute nicht viel die Phantasie an. Die Freiheit ist gegeben, sie muss nicht mehr erkämpft werden. An die Gleichheit glaubt niemand und an die Brüderlichkeit, auch in ihrer light-Version der Solidarität, noch weniger. Diese Werte sind heute »kalt«. Dagegen sind die Schlagworte, nennen wir sie die Pétainschen [frz. Marschall, Chef des mit Hitler kolaborierenden Vichy-Regimes 1940–44, d. Red.], travail, famille, patrie, also Arbeit, Familie, Vaterland, für viele »warme« Werte. Für einen Teil der europäischen Gesellschaften sind sie viel glaubwürdiger als die Werte von 1789, deren Symbol in gewissem Sinne die Europäische Union ist.

Der französische Historiker Emmanuel Todd betrachtet in seinem Buch über Frankreich im Jahr 2015 den Nationalismus – auch den aktuellen polnischen – als Phänomen eines verschwindenden Katholizismus. Das Schwinden der christlichen universalen Idee führt zu der Feststellung, dass eigentlich nur der permanente Wettlauf der Egoismen zählt.

Deshalb muss man ständig den Vorrang des eigenen Rechts beweisen und das Recht des Nachbarn ignorieren, denn er ist nicht ein Partner, sondern ein potentieller oder aktueller Feind. Die internationalen Beziehungen sind weniger Zusammenarbeit als vielmehr Konflikt. Ich betone, mit einer Ausnahme. So wie vor dem Krieg bei allen nationalen europäischen Egoismen der Antisemitismus die Rechten miteinander verband, so verbindet heute die negative Einstellung gegenüber Brüssel.

Die Angst vor den Flüchtlingen und der Hass auf Brüssel verdeckt alles andere. Wenn Brüssel aufhört zu existieren, tauchen natürlich die vergangenen Gespenster wieder auf: Jeder einzelne ist schwächer als Deutschland und Deutschland wird kein europäisches Zaumzeug mehr angelegt.

Im Jahr 1989 gab es die faszinierende Überzeugung, dass es möglich ist, den »Fatalismus der Feindschaft«, wie Stanisław Stomma es ausdrückte, zu überwinden, dass der Egoismus der Nationalstaaten durch einen europäischen Rahmen zivilisiert werden kann, dass wir nicht die Geiseln der Geschichte sein müssen. Dass wir Empathie den Nachbarn gegenüber entwickeln können und uns in ihre Denkweise einfühlen können, in der Überzeugung, dass sie dies auch tun.

Und vor unseren Augen ist das zusammengefallen. In Polen findet nicht die europäische Idee die Unterstützung der Mehrheit, sondern die europäischen Subventionen. Die europäische Idee der mit den Partnern geteilten Souveränität ist von der Rechten wirksam verleidet worden. Gleichzeitig glauben die jungen Menschen, dass nicht nur Freiheit gegeben ist, sondern auch der Frieden… Sie haben nicht die Phantasie, sich vorzustellen, dass, wenn Flüchtlinge an den Grenzen Griechenlands oder Mazedoniens festgehalten werden, dieser Kessel vor unseren Augen explodieren wird.

Weil 20 Millionen Moslems, die teilweise schon Bürger der EU-Staaten sind, die unmenschlichen Bedingungen für ihresgleichen in den Lagern im Vorgelände der »Festung Europa« nicht ruhig ansehen werden?

Das ist es nicht einmal. Die europäischen Moslems sind ja kein Monolith. Es reicht zu hören, was die Immigranten der ersten Generation über die heutigen Asylanten, was Türken über Araber und Iraner über den ganzen Rest sagen. Das Problem liegt nicht in einem potentiellen Aufstand der Moslems intra muros, sondern in ihrem beständigen Zustrom von außen.

Das ist der Spott der Geschichte. Die Ungarn, die 1989 den Stacheldraht am Eisernen Vorhang entfernt hatten und die massenhafte Flucht von DDR-Bürgern in Bewegung gesetzt hatten, was mit dem Fall der Berliner Mauer endete, begannen im Jahr 2015 als erste, neue Grenzmauern zu errichten.

Es gibt verschiedene Versionen dieser Mauer: auf dem Balkan, an den Stränden der Ägäis, in der Südtürkei. An den ungarischen, slowenischen und österreichischen Grenzen. Die Mauer befindet sich bereits im Bau und langt auch an die Grenzen Polens. Denkt irgendjemand daran, dass wir im Falle der Destabilisierung der Ukraine den ersten Stacheldrahtverhau bei Przemyśl [Stadt in Südostpolen, d. Red.] bauen werden?

Und danach Deutschland an Oder und Neiße?

Und vielleicht wird es unvermeidlich, dass die EU ihre Tätigkeit aussetzt. Dann wird uns vielleicht bewusst, dass das Vierteljahrhundert, dass wir bis zum Jahr 2015 erlebt haben, ein »goldenes Jahrhundert« war.

In dem versucht wurde, die nationalen Egoismen der Idee der europäischen Gemeinschaft unterzuordnen?

Ohne Zweifel bleibt die Nationalgeschichte im 21. Jahrhundert der grundlegende Bezugspunkt. Für Deutschland vielleicht in einem etwas schwächeren Grad, denn mehr als die anderen wird es, wie Heinrich August Winkler sagt, ein postklassischer Nationalstaat, und trotz allem hat Deutschland seine Moslems besser als beispielsweise Frankreich integriert. Die ganze Idee des Brüsseler Europa-Museums, das hoffentlich im November eröffnet werden wird, beruht nicht darauf, künstlich eine andere historische Identität zu schaffen, die eine Alternative zu den nationalen Identitäten ist. Man ging davon aus, dass auf absehbare Zeit das nationale Denken in Europa dominieren wird. Dagegen ist das Brüsseler Projekt ein zusätzliches Angebot und nicht ein Ersatz. Das Haus der Europäischen Geschichte wurde nie in Kategorien der Nationalmuseen des 19. Jahrhunderts gedacht.

Es sollte keine Zusammenstellung von 28 nationalen Einzelausstellungen sein.

Nein. Es soll zeigen, dass Europa ein Ganzes ist und die Nationalgeschichten nur seine Teile.

Nichtsdestoweniger sind die Nationalgeschichten selbst ein historisches Produkt. Sie entstanden im 19. Jahrhundert, damals wurden Nationalmuseen, -opern, -theater und -bibliotheken gebaut. Es wurden die Mythen einer jahrhundertealten Kontinuität der Nationalstaaten geschaffen, obwohl sie ein Produkt der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege waren. Das heutige Deutschland hat mit seinen Großvätern aus der Zeit Bismarcks nicht viel gemeinsam. Die zeitgenössische deutsche Literatur gestalten deutsche Muslime mit, wohl die Hälfte der Redaktion der Wochenzeitung »Die Zeit« hat – manchmal einen sehr exotischen – »Migrationshintergrund«. Die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland wird, verändert auch die Beziehung zur deutschen Vergangenheit… Nationen sind nicht aus Granit und von Gott gegeben, sie sind eine veränderliche Schicksalsgemeinschaft…

Eine solche Perspektive ist unserer Rechten vollkommen fremd. Sie möchte eher ein bestimmtes unveränderliches Bild der Nation als Fels, der feindlichen Kräften widersteht, verstetigen. Daher das Gefühl, dass die NATO das Wichtigste ist. Denn sie soll uns verteidigen. Die EU ist dagegen entsprechend unserer Rechten nur dafür gut, dass sie Geld gibt, was eine Form von Reparation für das historische Unrecht ist, das uns zugefügt wurde. Und wenn sich die Subventionen dem Ende neigen, dann soll doch alles auseinander fliegen. Das Entfernen der europäischen Fahnen von [Ministerpräsidentin, d. Red.] Beata Szydło war ein deutliches Signal. Europa sind Subventionen und so wenig Verpflichtungen wie möglich. Bestenfalls eine Freihandelszone.

Aber ohne Europa verwelkt auch die NATO, denn einem zerstrittenen und marginalisierten Europa werden die Amerikaner den Rücken zuwenden. Das ist die Rechnung Putins…

Diese Ängste werden mit der Phraseologie des »Intermarium« [poln. Międzymorze, Staatengürtel von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, d. Red.] verschleiert, als Echo des »dritten Europa«, in dem Polen naturgemäß die Führungsrolle zusteht, was gewissermaßen durch jedes Visegrád-Treffen bestätigt wird…

Die Ungarn behaupten, dass Orbán der Führer dieses Teils Europas ist, die Rumänen, dass sie nach unserer Abdankung eine grüne Insel sind, und keinem Tschechen wird es in den Sinn kommen, die polnische Führung zu akzeptieren.

Es geht hierbei ja nicht um die Realität, sondern um das Bild der Propaganda nach innen, an die eigene Wählerschaft. Und wer daran nicht glaubt, ist ein Pole der schlechteren Sorte. Das ist ein anachronistisches, ständisches Verständnis der Nation – wir »echten Polen«, das wäre der Adel, und sie, »die da stehen, wo ZOMO stand« [paramilitärische Einheit der Bürgermiliz in der Volksrepublik Polen, d. Red.], die moralisch Geächteten, ausgeschlossen aus der politischen Nation. Das ist ein vormodernes, prä-staatsbürgerliches Verständnis der Nation, psychologisch infantil und vollkommen unchristlich, denn es birgt keinen Platz für mea culpa, für ein Schuldbekenntnis, das die Bedingung für eine Reinigung ist. Unsere Rechte hat Probleme mit anderen – mit den Nachbarn – aber noch größere mit den eigenen Mitbürgern.

Die Anbetung »der eigenen«? Deshalb die schwachen Auslandskontakte, keine Freundschaften, keine Interregierungskonsultationen, denn damit verbindet sich eine, wenn auch nur psychische, Verpflichtung, den Partner zu verstehen.

Es droht die Beschädigung der abgöttischen Selbstbewunderung, die eine Tarnkappe der Komplexe und des fehlenden Selbstvertrauens ist. Es ist dies die Vorstellung, dass man einen guten Namen mit Lob erlangt und nicht damit, dass man den finsteren Seiten der eigenen Geschichte mutig die Stirn bietet. Doch größeres Prestige als das pathetische Bezugnehmen auf fortwährendes Unrecht und siegreiche Niederlagen hat Polen der Satz der Bischöfe »wir vergeben und bitten um Vergebung« eingebracht.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Quelle: Polityka Nr. 10 (02.03.–08.03.2016). S. 56–58, mit freundlicher Genehmigung.

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Analyse

Polnisch-deutsche historische Debatten

Von Krzysztof Ruchniewicz
Die Entwicklung zu einer polnisch-deutschen Verständigung wäre ohne die solide gewachsenen Beziehungen und den respektvollen Umgang zwischen den polnischen und deutschen Historikern nicht denkbar. Lange vor dem Umbruch von 1989 gab es bereits eine gemeinsame wissenschaftliche Auseinandersetzung über Fragen, die für die historischen Verflechtungen beider Staaten und Gesellschaften relevant waren. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Polen und gestärkt durch die gänzlich neuen Rahmenbedingungen des polnisch-deutschen Nachbarschaftsvertrags, trat die historische Forschung in eine neue Etappe. Ehemalige Tabuthemen werden untersucht, Aufbau und Ausdifferenzierung des institutionellen Rahmens fördern die bilaterale Zusammenarbeit und die Expertise der Wissenschaftler wird Teil der öffentlichen Debatten beider Länder. Dabei treten auch die Forschungsfelder zutage, die bisher vernachlässigt wurden oder neue Fragestellungen erfordern. (…)
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