Polnisch-deutsche historische Debatten

Von Krzysztof Ruchniewicz (Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw, Breslau)

Zusammenfassung
Die Entwicklung zu einer polnisch-deutschen Verständigung wäre ohne die solide gewachsenen Beziehungen und den respektvollen Umgang zwischen den polnischen und deutschen Historikern nicht denkbar. Lange vor dem Umbruch von 1989 gab es bereits eine gemeinsame wissenschaftliche Auseinandersetzung über Fragen, die für die historischen Verflechtungen beider Staaten und Gesellschaften relevant waren. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Polen und gestärkt durch die gänzlich neuen Rahmenbedingungen des polnisch-deutschen Nachbarschaftsvertrags, trat die historische Forschung in eine neue Etappe. Ehemalige Tabuthemen werden untersucht, Aufbau und Ausdifferenzierung des institutionellen Rahmens fördern die bilaterale Zusammenarbeit und die Expertise der Wissenschaftler wird Teil der öffentlichen Debatten beider Länder. Dabei treten auch die Forschungsfelder zutage, die bisher vernachlässigt wurden oder neue Fragestellungen erfordern.

Die Jubiläen unterschiedlicher Ereignisse sind Anlass, einen Blick zurück zu werfen und darüber nachzudenken, was bereits erreicht wurde und wo noch Fragen bestehen, die in Zukunft angegangen und gelöst werden müssen. Der 25. Jahrestag der Unterzeichnung des polnisch-deutschen »Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit« ist eine solche gute Gelegenheit. Mit Sicherheit werden in den kommenden Wochen viele Analysen veröffentlicht, die die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland im vergangenen Vierteljahrhundert bewerten. Ihre Autoren werden die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen betrachten, sei es in wissenschaftlichen Publikationen, in Podiumsdiskussionen oder Ausstellungen.

Man kann die Frage stellen, ob es heute begründet und notwendig ist, solche Bewertungen vorzunehmen. Schließlich wurde bereits vor fünf Jahren Bilanz gezogen. Betrachtet wurde nicht nur der Stand der Beziehungen, das, was erreicht wurde, sondern es wurden auch konkrete Aufgaben benannt, die in den kommenden Jahren bearbeitet werden sollten. Ein Beispiel dafür ist die Liste von über 90 Punkten, die die polnische und die deutsche Regierung erarbeitet hatten und die umgesetzt werden sollte.

Eine neue Reflexion über den Zustand der polnisch-deutschen Beziehungen ist notwendig und fällt sicherlich anders aus als vor einigen Jahren. Seitdem hat sich nicht nur die Situation in Europa verändert, die sich mit der Nennung von vier ernsthaften Krisen charakterisieren lässt, der Finanzkrise in Griechenland (Grexit), dem drohenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (Brexit), dem Krieg in der Ukraine und dem massenhaften Zustrom von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten nach Europa. Auf keine dieser Krisen hat Europa einvernehmlich reagiert. Es ist nicht gelungen, eine kohärente Politik zu entwickeln; die Spaltungen vertiefen sich und erschüttern die Fundamente der Gemeinschaft. Eindeutige Angelegenheiten werden übermäßig in Zweifel gezogen, skeptische Stimmen gegenüber der Integration erscheinen fast als mild im Vergleich zu den ohne Umschweife artikulierten Feindseligkeiten ihr gegenüber.

Es besteht demnach noch eine weitere Krise, die die bereits genannten miteinander verbindet und die bewirkt, dass es praktisch unmöglich ist, ein Einvernehmen aller herzustellen. Das Problem liegt in der Identität Europas selbst, es ist eine Krise seiner Ideen und Werte. Die Gründe der westeuropäischen Staaten, sich nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenzuschließen, haben aufgehört, ein Bindemittel und Stabilisator zu sein, auch ist die kommunistische Bedrohung aus dem Osten obsolet geworden. Die deutsch-französische oder die polnisch-deutsche Versöhnung sind wahrscheinlich keine ausreichenden Lehrstücke mehr, die als Gründe dafür dienen könnten, die nationalen Egoismen aufzugeben.

Zweifellos bleibt keine dieser Krisen ohne Einfluss auf die innere Situation der EU-Mitgliedsländer. In der Mehrheit von ihnen werden nationalistische und populistische Bewegungen stärker, die deutlich nach der Auflösung der EU und der Rückkehr der Nationalstaaten streben (was unter diesem Begriff auch verstanden werden mag). Wie sich in den letzten Monaten herausstellte, ist Polen hier keine Ausnahme. Die Übernahme der Regierung durch die europaskeptische Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) und die aktuell betriebene Politik, die Beziehungen zur EU zu lockern, hat weder die Präsenz und das Gewicht Warschaus in Europa verstärkt noch die Präsenz und das Gewicht Europas. Polen verzichtet von sich aus darauf, in europäischen Angelegenheiten mitzuentscheiden, es stellt sich an den Rand Europas und das damit einhergehende politische Programm ist für die europäischen Partner nicht verständlich. Je mehr (angeblich) historische Argumente dabei in der Öffentlichkeit auftauchen, mit denen versucht wird, die aktuelle Politik zu begründen, desto mehr kann sich die Befürchtung entwickeln, dass es nicht so sehr um die Geschichte und ihre Lektionen geht, sondern mehr um den selektiven Umgang mit ihr und sogar um Manipulation mit ihrer Hilfe.

Geschichte als polnisch-deutsche »Kontaktzone« der Historiker

Die Geschichte spielte viele Jahrzehnte lang eine wichtige Rolle in den polnisch-deutschen Beziehungen und nahm Einfluss auf die beiderseitigen Kontakte. Dies war nicht nur die Folge der komplizierten Beziehungen nach 1945, sondern auch der allmählichen Bemühungen beider Seiten, den »Fatalismus der Feindschaft« (Stanisław Stomma) zu überwinden. Dessen Anfänge reichten bis in die Zeit der Teilungen der Republik Polen zurück, aber besonders schmerzhafte Spuren hinterließ das Jahr 1939. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen legten jahrzehntelang einen Schatten über die beiderseitigen Beziehungen und sogar heute noch tauchen sie in polnisch-deutschen Diskussionen auf.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Fragen der polnisch-deutschen Beziehungen im 20. Jahrhundert und vor allem in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der ersten Nachkriegsjahre bereits vor 1989 viele Male aufgegriffen wurden. Trotz politischer Einschränkungen (Zensur, Zugang zu Archiven usw.) entstanden Institutionen und Organisationen, die unter diesen sehr schwierigen Bedingungen die Grundlage für den polnisch-deutschen Dialog schufen und sich unter den veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen nach 1989 hervorragend weiterentwickelten. Ein Teil von ihnen ist heute noch tätig. Eines dieser Foren ist die Gemeinsame Polnisch-Deutsche Schulbuchkommission, die seit den 1970er Jahren eine Plattform für Austausch und Diskussion über polnisch-deutsche Themen war.

Das Jahr 1989 stellt eine wichtige Zäsur in den Kontakten der polnischen und deutschen Historiker dar. Die politischen Beschränkungen wurden aufgehoben, die Auslandskontakte wurden nicht mehr reglementiert und immer häufiger trafen sich Wissenschaftler beider Länder an den Hochschulen und in Archiven. Die Forschungseinrichtungen, die starken politischen Einschränkungen unterlegen hatten, erhielten nun die Chance, in eine neue Etappe in ihrer Tätigkeit einzutreten. Im neuen Jahrhundert kam der Generationenwechsel hinzu. Die Gruppe von Historikern, häufig noch mit Kriegserfahrungen, die sich jahrzehntelang mit Deutschland und den polnisch-deutschen Beziehungen beschäftigt hatte, trat allmählich ab und ihre Plätze nahmen nach und nach ihre Schüler oder ganz neue Personen ein.

Ein Zeichen der neuen Zeit und Ausdruck der Fähigkeit, die neuen Möglichkeiten zu nutzen, waren die ersten gemeinsamen Forschungsprojekte. Polnische Historiker wurden immer häufiger Mitglieder in wissenschaftlichen Gremien oder Zeitschriftenredaktionen in Deutschland und nahmen an den Tagungen der deutschen Historikerzunft teil. Ähnlich war es umgekehrt mit den deutschen Kollegen. Heute fällt es schwer, sich Konferenzen polnischer Historiker ohne die Teilnahme deutscher Wissenschaftler vorzustellen. Im vereinigten Deutschland und in Polen begann sich die Überzeugung einzustellen, dass es wichtig sei, Institutionen zu gründen, die die Arbeit der polnischen und deutschen Wissenschaftler unterstützen. Hier wären das Deutsche Historische Institut in Warschau oder das Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Centrum Badań Historycznych PAN) in Berlin zu nennen. An den historischen Debatten nahmen auch das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt und das im Jahr 2002 als gemeinsames Projekt des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Universität Wrocław (Breslau) gegründete Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien (Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. Willy’ego Brandta) teil.

Die historischen Debatten, die anfangs im nationalen Rahmen geführt worden waren, überschritten diesen Rahmen bald und führten eine neue Qualität in die wissenschaftlichen Kontakte ein. Mit der Zeit gelang es beiden Gruppen, gegenseitig Vertrauen zu fassen, was relativ schnell wichtige Folgen zeitigte. In den Auseinandersetzungen wurden nicht eine nationale Seite oder nationale Interessen vertreten, sondern es wurde schlicht über wesentliche Fragen diskutiert und wurden konstruktive Lösungen gesucht, wobei auch die ethische Dimension in Acht genommen wurde. Themen, die vor 1989 als Tabu oder als »unbequem« betrachtet worden waren, wurden nicht mehr so eingestuft. Die einzige Einschränkung war der Zugang zu den Archiven wegen der 30-jährigen Sperrfrist für die Dokumente, aber auch diese Schwierigkeiten konnten in vielen Fällen überwunden werden, was die zahlreichen entstandenen Publikationen belegen.

Im Folgenden möchte ich sechs Untersuchungsfelder skizzieren, denen in lebhaften, mitunter langen Diskussionen große Aufmerksamkeit zukam. Natürlich ist diese Auswahl subjektiv und erhebt keinen Anspruch auf Universalität. Ich möchte jedoch auf bestimmte Trends aufmerksam machen. Einer davon ist, dass in erster Linie Themen bearbeitet wurden, die bis dahin entweder nicht Gegenstand der Forschung waren oder aber instrumentalisiert worden waren. Diese Themen waren vor allem in der Geschichte des 20. Jahrhunderts lokalisiert.

Zweiter Weltkrieg – wirklich ausreichend erforscht?

Es lässt sich eine gewisse Regelmäßigkeit feststellen. Da man nach 1989 in Polen ein neues Kapitel aufgeschlagen hat und ein günstiges Klima für die polnisch-deutschen Beziehungen schaffen wollte, gerieten Untersuchungen, die Konflikte in den beiderseitigen Beziehungen herausstellten, in den Hintergrund. Dies war außerdem eine Reaktion auf die Forschungsschwerpunkte der vergangenen Jahrzehnte wie auch in der subjektiven Überzeugung vieler Wissenschaftler begründet, dass es angesichts von Forschungsdefiziten notwendig sei, neue Forschungsthemen zu besetzen. Die Erforschung des Zweiten Weltkriegs ging daher zurück, insbesondere wurden die Themen der deutschen Verbrechen und der Okkupationspolitik in Polen umgangen, die als in der Volksrepublik Polen besonders stark erforscht galten. Es bestand auch kein Interesse, die Forschung zur Funktionsweise der Konzentrationslager fortzusetzen. Bald erwiesen sich diese Unterlassungen jedoch als folgenschwer. Die Historiker, die sich bisher mit dieser Problematik befasst hatten, widmeten sich nicht mehr der Ausbildung der nachfolgenden Wissenschaftlergeneration. Außerdem trugen die guten Beziehungen paradoxerweise nicht dazu bei, die Sprachbarrieren abzubauen. Immer häufiger traten Probleme mit den Deutschkenntnissen der Studierenden auf. Aus der Rückschau lässt sich sagen, dass es sich negativ auf das Wissensniveau über den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen ausgewirkt hat, dass diese Untersuchungen aufgegeben wurden – was aber in der Politik der neuen Öffnung in den polnisch-deutschen Beziehungen begründet lag. Vielleicht nahmen manche Probleme, mit denen wir es heute in den polnischen und den deutschen Medien in diesem Kontext zu tun haben, gerade in dieser Entwicklung ihren Anfang.

Im Falle der historischen Debatten haben wir es noch mit einem anderen Phänomen zu tun. Sie wurden zwischen polnischen und deutschen Historikern geführt, aber es gibt auch Diskussionen über polnische Themen oder die polnisch-deutschen Beziehungen, die nur in Deutschland geführt wurden. Dies ist nicht verwunderlich. Aus Sicht der polnischen Geschichtswissenschaft waren manche Themen offensichtlich und erzeugten keinen Diskussionsbedarf. Dazu zähle ich beispielsweise den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und seine Folgen. Als Illustration können die deutschen Geschichtsatlanten dienen, die Europa in den ersten Kriegsjahren darstellen. Traditionell wurde für Deutschland unter Hitler die Farbe Braun reserviert und für die UdSSR unter Stalin die Farbe Rot. Dass beide Staaten knapp zwei Jahre lang Verbündete gewesen waren, wurde farblich nicht markiert. Ein Teil der deutschen Historiografie umging diese Phase; wenn es um die deutsch-polnischen Beziehungen ging, wurde die sowjetische Politik gegenüber Polen im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und nach der Annektierung der Hälfte des polnischen Territoriums durch Moskau nicht berücksichtigt. Polnische Historiker machten auf dieses Problem aufmerksam, was konkrete Auswirkungen hatte. In Deutschland wurden Konferenzen durchgeführt, die Bundeszentrale für politische Bildung organisierte Diskussionen zu diesem Thema und stellte Multiplikatoren entsprechendes Material zur Verfügung.

Der schwierige und befreiende Dialog über erzwungene Bevölkerungsbewegungen

Eines der ersten »neuen« Themen, dem sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde, waren die polnisch-deutsche Verständigung und Versöhnung. Das Interesse galt der Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder und der Polenpolitik des Bundeskanzlers Willy Brandt. Kontroversen rief sein Verhältnis zur unabhängigen Gewerkschaft und gesellschaftlichen Bewegung Solidarność, insbesondere nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Jahr 1981, hervor. In den letzten Jahren erschienen Publikationen zu den »Paketaktionen«, das heißt der Versorgungshilfe für Polen, für die sich Bürger der Bundesrepublik und der DDR engagiert hatten. Zu diesem Komplex gehören auch Untersuchungen zum Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Polen und der sogenannten Versöhnungsmesse in Kreisau (Krzyżowa) im November 1989. Die Wahl Kreisaus als Ort für das Treffen mit dem polnischen Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki rief keine Kontroversen hervor, allerdings wurden und werden die Versuche, des deutschen Widerstands gegen Hitler in Polen zu gedenken, immer noch kritisch aufgenommen. Die Formulierung auf der Gedenktafel, die an das missglückte Hitler-Attentat in der Wolfsschanze erinnert, ist eines der Beispiele dafür.

Ein weiterer Untersuchungskomplex, der auf unterschiedlichen Feldern angegangen wurde, waren die Aussiedlungen der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit. Man kann sagen, dass dies die am längsten dauernde Debatte war, die sich nicht auf Historiker beschränkte, sondern auch die Gesellschaften beider Länder miteinbezog. Die Debatte wurde auf verschiedenen Ebenen geführt. In jeder Phase nahmen sowohl polnische als auch deutsche Historiker teil. Eine wichtige Etappe war die Veröffentlichung »Niemcy w Polsce 1945–1950« [dt.: Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950: Dokumente aus polnischen Archiven], einer von den Professoren Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg herausgegebenen vierbändigen Sammlung von Quellenmaterial aus polnischen Archiven. Deutsche Historiker und alle an diesem Thema Interessierten hatten nun Zugang zu bisher unbekannten Dokumenten in deutscher Übersetzung, was die überwiegend von autobiographischen Erzählungen dominierte Quellenbasis enorm bereicherte. Hervorzuheben ist hier auch, dass die Quellenedition eines der ersten großen polnisch-deutschen Unternehmungen war, an denen junge Historiker aus Polen und Deutschland aktiv beteiligt waren. Eine andere Frage dagegen ist und bleibt, inwieweit die Ergebnisse dieses Projekts tatsächlich den Wissensstand beeinflussen.

Aus den Forschungen polnischer Historiker und polnisch-deutscher Forschergruppen gingen zahlreiche Publikationen hervor, die unmöglich alle in diesem Artikel genannt werden können. Ich beschränke mich daher auf zwei von ihnen. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erschien die Dokumentation der polnischen Debatte zum Thema Aussiedlung der Deutschen »Przeprosić za wypędzenie? O wysiedleniu Niemców po II wojnie światowej« [dt.: Verlorene Heimat: die Vertreibungsdebatte in Polen], herausgegeben von Klaus Bachmann und Jerzy Kranz. Sie erschien sowohl auf Polnisch als auch auf Deutsch. Es war eine der ersten Bilanzen dieser Art, die Wissenschaft, Publizistik und Reflexionen der Bürger umfasste. Eine andere wichtige Publikation war der von einem polnischen Verlag herausgegebene Atlas zu »Umsiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegung 1939–1959«. Seine polnischen Autoren betrachten das Problem der Zwangsmigration umfassend und stellen die Aussiedlungen der Deutschen neben andere Völkerverschiebungen dieser Art auf dem Territorium Polens vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Am Beispiel der Polen, Deutschen, Juden, Ukrainer und der Vertreter anderer kleinerer Nationalitäten wurde die Komplexität des Phänomens der Zwangsmigrationen entfaltet und nahegelegt, Vergleiche zu ziehen, die Schicksale der vorgestellten Nationalitäten nebeneinander zu stellen sowie die Spezifik zu erfassen. Der Atlas stieß in Polen auf großes Interesse und wurde bald ins Deutsche übersetzt. Er ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.

Die in Polen und in Deutschland lebhaft geführten historischen Debatten zum Thema Aussiedlung beschränkten sich aber nicht auf die Konferenzsäle. Sie wurden in vielen Gemeinden in West- und Nordpolen, das heißt in den ehemals deutschen Gebieten, Gegenstand des Interesses und Gegenstand konkreter lokaler Initiativen. Zweifellos hatten viele Polen das Gefühl, dass sie in der Phase der historischen Abrechnung und Aufarbeitung, die in einem Land wie Polen immer sehr schmerzhaft ist, sehr viel getan haben und Grund haben, stolz zu sein. Die Entwicklung der Situation in Deutschland rief Konsternation, Überraschung und Unverständnis hervor. Die Ankündigung, in Berlin ein Zentrum gegen Vertreibungen zu gründen, löste in Polen ein großes Gewitter aus. Es entstand die Angst, dass die Hervorhebung der Position der Deutschen vor allem als Opfer der Aussiedlungen die polnischen Opfer des deutschen Terrors und der deutschen Verbrechen in den Schatten treten lassen könnte. Zusätzlich wurde durch die Eigentumsforderungen eines – wenn auch nur kleinen – Teils der Deutschen, die nach 1945 aus Polen ausgesiedelt worden waren, Öl ins Feuer gegossen. Daraufhin kam es zwischen Polen und Deutschland zu einer der größten Krisen seit 1989. Auf polnischer Seite wurde begonnen, die polnischen Verluste aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zusammenzustellen (hier wurden zum wiederholten Male die Vernachlässigungen der vorangegangenen Jahre in diesem Bereich deutlich) und den deutschen Forderungen gegenüber zu stellen. Das Ende dieser Spirale gegenseitiger Beschuldigungen führte Bundeskanzler Gerhard Schröder herbei, der bei seinem Besuch in Warschau aus Anlass des 60. Jahrestages des Warschauer Aufstandes (1944) die Garantie gab, dass die deutsche Regierung Eigentumsansprüche nicht unterstützen wird.

Um den Streit endgültig zu beenden, entschied die Bundesregierung, eine neue Institution zu gründen, die sich der Aufarbeitung der Zwangsmigrationen widmen sollte. Im Jahr 2008 wurde die Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« ins Leben gerufen. Ihr sollten Historiker aus Deutschland und anderen Ländern, darunter Polen, angehören. Allerdings gelang es nur teilweise, die Emotionen zu besänftigen. In den folgenden Jahren wurde die Stiftung von verschiedenen Krisen geschüttelt. Zurzeit steht eine neue Direktorin an ihrer Spitze, die, wie Pressemeldungen zu entnehmen ist, den Schwerpunkt bei der Erstellung der ständigen Ausstellung auf die Aussiedlung der Deutschen legen will. Dies ist ein Schritt zurück, die Abkehr von den vorangegangenen Diskussionen und Plänen, an denen auch polnische Historiker teilgenommen hatten. Die kommenden Monate werden zeigen, in welchem Kontext das Problem der Aussiedlung der Deutschen dargestellt werden wird, ob sich diese Version mit den Befunden der Historiker decken und welchen Einfluss dies auf die beiderseitigen Beziehungen nehmen wird. Vielleicht ist in dem großen Buch der beiderseitigen Beziehungen das historische Blatt doch noch nicht ganz so vollständig gewendet.

Polnisches Bekenntnis zur Pflege des deutschen Kulturerbes

Das Problem der Aussiedlungen der deutschen Bevölkerung war unmittelbar mit der Frage des deutschen Kulturerbes in den ehemaligen deutschen Gebieten verbunden. Diskussionen über dieses Thema kamen in Polen bereits in den 1980er Jahren auf. Ein großes Echo rief der Essay von Jan Józef Lipski, eines Literaturwissenschaftlers und Vertreters der antikommunistischen Opposition, hervor, der in diesem Zusammenhang den Begriff des »Depositums« prägte, dessen Pflege sich die Polen zu ihrer Aufgabe machen sollten. Eine Folge dieser Diskussion war, dass die Aufmerksamkeit auf dieses Problem gelenkt und nach einem Umgang mit ihm gesucht wurde. Gleich nach dem Umbruch im Jahr 1989 begann man mit der Umsetzung. Mit der Dezentralisierung Polens und dem Aufbau der Selbstverwaltung auf lokaler und regionaler Ebene begannen viele Städte und Gemeinden in den sogenannten »Wiedergewonnenen Gebieten«, sich aufmerksamer mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen, insbesondere mit der ehemals deutschen. Es wurden wissenschaftliche Konferenzen organisiert und historische Monographien in Auftrag gegeben – eine solche vorweisen zu können, war sogar eine Art Ehre für die lokalen Verwaltungen. Zwar waren schon seit den 1970er Jahren Monographien dieser Städte entstanden, aber erst in der neuen Wirklichkeit und durch die finanzielle Unterstützung der Städte konnte die Geschichte in Gänze dargestellt werden. Großen Interesses erfreuten sich die Arbeiten der Schule um Karl Schlögel (Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder) und seiner Untersuchungsmethode »im Raume lesen wir die Zeit«. Die Arbeiten der Frankfurter Gruppe inspirierten polnische Wissenschaftler zu eigenen Untersuchungen der Geschichte der Städte in den betreffenden Gebieten. Der sogenannte offene Regionalismus feierte große Erfolge. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch verschiedene Organisationen, in denen Historiker aktiv waren und weiterhin sind, zum Beispiel Borussia in Allenstein (Olsztyn).

Nicht nur die Geschichte der ehemals deutschen Städte und Ortschaften riefen das Interesse der Historiker aus Polen und Deutschland hervor, sondern auch die der Grenzregionen, die nun nicht mehr aus der rein nationalen Perspektive dargestellt werden konnten. Das war – und ist – keine so selbstverständliche Angelegenheit. Die Mehrheit der von deutscher Seite unternommenen Untersuchungen wurde häufig von Historikern durchgeführt, die aus den Gebieten stammten, die seit 1945 zum polnischen Staatsgebiet gehören. Noch in den 1990er Jahren erschienen Monographien über Schlesien und andere ehemals deutsche Provinzen, deren Untersuchungszeitraum gewöhnlich mit dem Jahr 1945 endete. Auf polnischer Seite gab es lange Zeit kein explizites Bedürfnis, mit den deutschen Kollegen bei der Erforschung der Geschichte der westpolnischen Regionen zusammenzuarbeiten. Diese Situation begann sich im 21. Jahrhundert zu wandeln. Zwei Forschungsprojekte sollen beispielhaft genannt werden. Zum einen die Arbeit des deutschen Historikers Arno Herzig, der als erster das deutsche Monopol auf die Geschichte Schlesiens gebrochen und bewusst polnische Historiker zur Zusammenarbeit eingeladen hat. Daraus entstanden zwei Monographien, und zwar die »Geschichte des Glatzer Landes« und ein Buch über die Geschichte Schlesiens. Beide Publikationen erschienen auf Deutsch und auf Polnisch. Eine andere wichtige Publikation ist die »Geschichte Oberschlesiens«, die von Joachim Bahlcke, Dan Gawrecki und Ryszard Kaczmarek herausgegeben wurde. Sie ist das Ergebnis langjähriger Untersuchungen einer polnisch-tschechisch-deutschen Forschergruppe, die die erste moderne Synthese der Geschichte dieser Region vorlegte. Die Autoren hatten sich allerdings nicht das utopische Ziel gesetzt, eine einzige, gemeinsame Version der Vergangenheit zu schaffen, in der die Wunden und Härten künstlich nivelliert worden wären. Vielmehr werden die Leser auf weiterhin bestehende historische Kontroversen aufmerksam gemacht, was den Pioniercharakter dieses Unternehmens verdeutlicht. Nach Auffassung der Autoren weckten Themen wie Germanen und Slawen in Oberschlesien, die deutsche Kolonisation, die Germanisierung und die allpolnische Agitation im 19. Jahrhundert, der Sankt Annaberg, der Konflikt um das Teschener Schlesien, Vertreibung und Aussiedlung Kontroversen, die teilweise auch heute noch auftreten. Außerdem versuchten die Autoren eine Antwort auf die Frage zu geben, wer der Oberschlesier sei. Die Erstellung eines »Protokolls der Divergenzen« erwies sich als wichtige Maßnahme. Es erlaubt, die Probleme zu benennen, die eine weitere und vertiefte Diskussion erfordern. Auf der anderen Seite umgingen die Autoren den Vorwurf, eine künstlich geglättete Vision der Vergangenheit zu oktroyieren, indem sie dem Leser anheimstellten, sich selbstständig eine Meinung zu den strittigen Fragen zu bilden.

Der Komplex der Aussiedlung und der Umgang mit dem deutschen kulturellen Erbe waren untrennbar mit dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Polen nach 1945 verbunden. Nach den Jahren der Verleugnung ihrer Existenz wurde dieser Gruppe durch den polnisch-deutschen »Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit« von 1991 ein eigener Status zugesprochen. Ohne zu übertreiben lässt sich feststellen, dass die Geschichte dieser Gruppe eines der Schlüsselthemen der polnisch-deutschen Beziehungen in der Phase des Umbruchs 1989/90 war. Polnische wie deutsche Wissenschaftler interessierten ihr rechtlicher Status nach 1945, ihr Alltag, die Migrationsbewegungen in den Westen, die Repressionen. Zu diesem Themenkomplex erschienen zahlreiche Publikationen nicht nur von Historikern, sondern auch von Literatur- und Kulturwissenschaftlern und Soziologen.

Die Aktivitäten der Vertreter der deutschen Minderheit im Raum Oppeln (Opole) riefen zahlreiche historische Kontroversen hervor. Sie betrafen vor allem den symbolischen Bereich wie Denkmale oder die doppelte, polnische und deutsche, Namennennung. Manche Polen äußerten dahin gehende Vorwürfe, dass es sich um Bestrebungen der Regermanisierung dieses Gebiets handele. Heute rufen diese Phänomene keine größeren Kontroversen mehr hervor; dafür ergaben sich neue Themen zur Erforschung. In den vergangenen Jahre fanden auf Initiative der deutschen Minderheit etliche Konferenzen und Diskussionen statt, die sich der Vergangenheit dieser Gruppe, der Politik der polnischen Regierungen ihr gegenüber und den Beziehungen zwischen der deutschen Minderheit in Polen und Deutschland widmeten. Einen wichtigen Anteil an diesen Aktivitäten hat das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Oppeln und Gleiwitz (Gliwice), das regelmäßig die »Schlesischen Seminare« anbietet.

Fazit und Ausblick

Nicht alle Debatten wurden gemeinsam geführt. Ein Teil beschränkte sich auf jeweils eines der beiden Länder. Immer jedoch nahmen an ihnen polnische bzw. deutsche Historiker, vor allem als Experten, teil. Zu den Themen dieser Debatten gehörten die deutschen Entschädigungszahlungen für polnische Zwangsarbeiter, die Verbrechen der Wehrmacht bereits in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs oder das Problem des Wehrdienstes polnischer Staatsbürger in der deutschen Armee. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen, sei es in Polen oder in Deutschland, war notwendig, um die Wissenslücken zu füllen, wie auch dafür, Achtsamkeit gegenüber der historischen Sensibilität des Nachbarn zu entwickeln. Aus dieser Perspektive ist auch der Auftritt des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands vom 19. Januar 2014 zu verstehen, in dem er sich unmissverständlich gegen die in den Medien in Deutschland öfter verwendete Bezeichnung »polnische Konzentrationslager« für die nationalsozialistischen deutschen Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs ausspricht.

Zweifelsohne fällt die Bilanz der polnisch-deutschen historischen Debatten positiv aus, aber bis sie abgeschlossen sein werden, ist es noch weit. Eine wichtige Zäsur bleibt das Jahr 1989. Zwar hatten sich die Kontakte zwischen den polnischen und den deutschen Historikern beider deutscher Staaten auch schon vorher entwickelt, allerdings ermöglichten die Beseitigung der politischen Spannungen, der unbeschränkte Zugang zu den Archiven und schließlich das Interesse an der Geschichte des Nachbarlandes in hohem Maße den Eintritt in eine neue Etappe. Es wurden gemeinsame Projekte durchgeführt, gemeinsame Veröffentlichungen erschienen, gemeinsam wurde der institutionelle Rahmen für die Intensivierung dieser Kontakte geschaffen. Die polnischen und die deutschen Historiker tauschten, auch in methodologischer Hinsicht, ihre Erfahrungen aus, diskutierten engagiert über Schlüsselfragen der nationalen Geschichten und über die beiderseitigen Beziehungen. Die Intensivierung der Kontakte begünstigten auch Stipendien, die Forschungsaufenthalte im Nachbarland finanzierten.

Ein anderer Aspekt der Kontakte zwischen den Historikern aus Polen und Deutschland war, dass sie dank des Vertrauens, das in den alltäglichen Kontakten gewachsen ist, aktiv an öffentlichen Debatten teilnehmen konnten. Dank ihrer Fachkenntnisse und ihrer Erfahrungen konnten sie manches Mal die emotionalen Wogen glätten und die Rückkehr zur sachlichen Auseinandersetzung befördern. Die aktive Beteiligung an der Debatte über die Zwangsmigrationen ist hier ein gutes Beispiel. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, dass Themen bearbeitet würden, die nicht Kontroversen hervorrufen, sondern notwendig sind, um die polnisch-deutschen Spezifika zu verstehen. Dies sind beispielsweise Themen, die die Historiker selbst und die Bedingungen betreffen, unter denen vor 1989 die Diskussionen geführt wurden. Vor mehreren Jahren wurde ein Forschungsprojekt zum polnischen »Westgedanken« (myśl zachodnia) durchgeführt, dabei erschien die erste umfangreiche Biographie eines seiner Hauptvertreter, Zygmunt Wojciechowski. Auf dem Buchmarkt erscheint im Jubiläumsjahr auch das erste von der Polnisch-Deutschen Schulbuchkommission betreute gemeinsame Geschichtsbuch für polnische und deutsche Oberschulen.

Vielleicht erfordert die Einstellung beider Staaten zur Frage der polnisch-deutschen Versöhnung eine neue Diskussion. Ein Desiderat in diesem Bereich brachte der Direktor des Zentrums für Historische Forschung in Berlin, Robert Traba, deutlich zum Ausdruck. Im Zusammenhang mit dem geringen Interesse an der gegenwärtig gezeigten Ausstellung über Kardinal Bolesław Kominek in Berlin stellte er fest: »Das Problem ist ein anderes. Weder ›polnische Themen‹ noch (umso mehr) ein polnischer katholischer Geistlicher als einer der Mitbegründer der Idee eines ›gemeinsamen Europa‹ passen zu den allgemein vorherrschenden Vorstellungen von der Geschichte. […] Den Politikern und Medien liegt nichts an der Schaffung eines neuen Symbols. Ihre Pflicht haben sie erfüllt, die Ausstellung ist in Berlin zu sehen. Aber ist es nicht von Bedeutung, dass beinahe niemand sie besuchen wird?« Vielleicht erfordert unsere Beziehung zum deutschen kulturellen Erbe, und zwar nicht nur zum materiellen, dessen Akzeptanz wohl am leichtesten ist, neu durchdacht zu werden. Ein Beispiel wäre hier die bis heute fehlende Ausstellung in Kreisau, die die Geschichte der Familie von Moltke darstellen würde, der ehemaligen Eigentümerin dieses Anwesens, ihren Alltag und die Herausforderungen, vor denen sie stand. Stattdessen haben wir im niederschlesischen Kreisau eine Ausstellung, die allgemein den polnisch-deutschen Beziehungen gewidmet ist, eine Ausstellung, die man an jedem Ort in Polen mit Erfolg zeigen könnte. Auf diese Weise aber geht die Beziehung zum konkreten Ort und seiner Geschichte verloren.

Dies sind nur Desiderate, die noch einmal aufzunehmen und zu diskutieren in der Zukunft sinnvoll wäre. Sie zeigen, dass die Beschäftigung mit historischen Themen in den polnisch-deutschen Beziehungen nicht abgeschlossen ist. Nun, da die junge Generation heranwächst, die die testimonials der unmittelbaren Zeitzeugen des Kriegsgeschehens nicht mehr hören kann, werden die Angelegenheiten, die bisher als nicht diskussionswürdig oder nicht kontrovers erachtet wurden, in einem neuen Licht erscheinen. Das bedeutet, dass die Vergangenheit unserer Beziehungen sowie die Debatte über sie keine isolierte Domäne für Wissenschaftler und Passionierte ist, sondern eine notwendige Ergänzung zu unseren lebendigen Beziehungen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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