Die Antiregierungsproteste in Polen

Von Mateusz Fałkowski (Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau)

Zusammenfassung
Seit Jahren wird die polnische parlamentarische Politik immer wieder von Protestpolitik auf der Straße begleitet. In der Regierungszeit der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), insbesondere seit dem Jahr 2010, organisierten rechte, mit Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) und den Nationalisten verbundene Kreise regelmäßig Demonstrationen. Nach dem Regierungswechsel im Herbst 2015 begannen liberalkonservativ, liberal und links eingestellte Wähler, die sich bislang selten in dieser Form engagiert hatten, auf die Straße zu gehen. Es entstand das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demokracji – KOD), das seit Dezember 2015 in Kooperation mit den Oppositionsparteien Antiregierungsmärsche und -kundgebungen organisiert. Die Demonstrationen und die Ansammlung von Zelten vor dem Regierungssitz in Warschau dienen der Mobilisierung der Wähler und einer eigenen Politik der Identitätsstiftung. Die Verlagerung der politischen Aktivität auf die Straße resultiert gleichermaßen aus starken gesellschaftlichen Emotionen wie aus der Schwäche der parlamentarischen Opposition sowie des Parlaments und seiner Ausschüsse als Bühne der sachbezogenen Auseinandersetzung der Opposition mit der Regierung. Die Strategien der Oppositionsparteien ergeben sich des Weiteren aus der Analyse der Erfahrungen rechter Gruppierungen, die während der Regierungszeit der PO Aktionsformen sozialer Bewegungen nutzten, indem sie ein Netz gesellschaftlicher Organisationen um sich herum auf bauten und Märsche an Jahrestagen mit Symbolkraft organisierten.

Nach den Parlamentswahlen im Herbst 2015 und der Regierungsbildung durch PiS ist in Polen eine weitere Etappe der Institutionalisierung von Protest und verschiedener Arten von Demonstrationen als eine Form von politischer Kommunikation zu beobachten. Bei anhaltend hoher gesellschaftlicher Unterstützung für PiS (knapp unter 40 Prozent) und der Ritualisierung der Beratungen des Sejm wurden Proteste auf der Straße zu einer Möglichkeit für die Opposition, Widerspruch gegenüber der Regierung kundzutun und Wähler zu mobilisieren. Nach der Regierungsbildung im November 2015 gründete sich das Komitee zur Verteidigung der Demokratie, eine PiS gegenüber kritisch eingestellte Initiative. Mit der Zeit wurde KOD zur Plattform oppositioneller Auftritte gegen verschiedene Aktivitäten und Programme der Regierung, insbesondere im Zusammenhang mit der Novelle des Gesetzes über das Verfassungstribunal und der Anerkennung seiner Urteilssprüche. Die parlamentarische Opposition, vor allem die führenden Köpfe der PO, von Die Moderne (Nowoczesna) und der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), schloss sich den Protesten von KOD an. Seitdem werden die Protestmanifestationen unter dem Namen von KOD organisiert, mit Beteiligung der untereinander rivalisierenden Oppositionsparteien, die die Aktionen teilweise aus ihrem Budget mitfinanzieren. So führt KOD die in manchen gesellschaftlichen Gruppen starken Antiregierungsemotionen an.

Die Institutionalisierung des Protests und die Entstehung von KOD

Die Gewerkschaften, früher die wichtigsten Organisatoren von Protesten, dominieren die Landschaft der Protestpolitik in Polen nicht mehr. Die Transformation des Wirtschaftssystems und Lohnforderungen sind nicht mehr der wichtigste Rahmen und Bezugspunkt für Proteste. Gleichzeitig wurden Demonstrationszüge in den letzten Jahren so weit institutionalisiert, d. h. populär und wiederholt eingesetzt und als normale, akzeptable Form politischen Ausdrucks betrachtet, dass sich weitere, politische und ideologische Milieus bemühen, eben in dieser Form die Empörung und die Unterstützung ihrer Anhänger zu organisieren.

In den ersten sechs Monaten der Regierungszeit von PiS kam es zu einer Institutionalisierung des Protests. Zu beobachten sind unterschiedliche Protestformen in ihrer Wiederholbarkeit; Demonstrationen finden nicht nur in Warschau statt. Feststellbar ist auch, dass unter den Angehörigen der großstädtischen Mittelschicht, die bislang eher ungern auf die Straße gingen, das Gefühl wächst, dass ein Demonstrationszug durch die Stadt oder auch eine Zeltstadt vor dem Sitz der Ministerpräsidentin in Warschau etwas »Normales« ist. Das, was bisher Praxis der jungen Teilnehmer der »Märsche der Unabhängigkeit« oder der Mitglieder der Klubs der Gazeta Polska war, die in Zeiten der PO-Regierung PiS unterstützten, ist jetzt auch für die 50- und 60-Jährigen »normal« geworden, die negativ gegenüber der aktuellen, rechten Regierung eingestellt sind und nun KOD-Plakate tragen.

Das Komitee zur Verteidigung der Demokratie entstand im November 2015 als eine Facebook-Aktion. Der Name knüpft an das 1976 entstandene Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników – KOR) an und signalisiert, dass die Organisatoren von KOD die Bedrohungen für die Freiheit im kommunistischen Polen mit der Gegenwart parallelisieren, wobei PiS eine ähnliche Gefahr für die Demokratie und Freiheit darstelle. Zum Einsatz kam auch wieder ein Element aus dem Stromschaltkreis, der Widerstand, der in den Jahren des Kriegsrechts (1981–1983) am Revers als Symbol des Widerstands gegen die Machthaber getragen wurde. Der Gründer von KOD, aus dem eine ganze Bewegung entstand, war Mateusz Kijowski, ein Informatiker, der sich früher u. a. in der Bewegung für die Rechte von Vätern engagiert hatte. Von Beginn an wurde die These von der falschen Richtung, in die die Veränderungen in Polen gehen, und von dem antidemokratischen und sogar totalitären Charakter von PiS deutlich formuliert: »Die Demokratie ist stark gefährdet, manche sagen, dass ein Staatsstreich stattgefunden habe und sich der Totalitarismus nähere. Deshalb wollen wir die Demokratie verteidigen. Wir sprechen uns für keine politische Partei aus, wir kämpfen weder um die Macht noch gegen konkrete Menschen«, sagte Kijowski im November 2015 der Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Im Manifest der entstehenden Bewegung schreiben die Autoren mit Nachdruck von einer »autoritären Regierung« und der Perspektive eines »totalitären Polen«.

Im Herbst 2015 war es zweifelhaft, ob sich die Aktivierung in den sozialen Medien in eine echte Mobilisierung außerhalb des Smartphones oder des Computers wandeln würde. Es zeigte sich jedoch, dass die – wenn auch allzu emphatisch verfassten – Worte über die totalitäre Bedrohung auf fruchtbaren Boden fielen. Ein wichtiges Moment für die Mobilisierung und das organisierte Anwachsen der Bewegung war der Streit um das Verfassungstribunal, der sich zunächst im Sejm abspielte. PiS unternahm den Versuch, sich das Verfassungstribunal anzueignen und leitete eine wirksame Lähmung des Gerichts ein. Die Mehrheit im Sejm und die Regierung nutzten ihre Position und das Regelwerk des Sejm dazu, vor dem Hintergrund von Regelverstößen der parlamentarischen Mehrheit des letzten Sejm bei der Richterwahl ihre Forderungen nach einer Änderung des Wahlmodus von Verfassungsrichtern durchzubringen und eine tatsächliche Debatte bzw. die Befragung ihrer Kandidaten für das Richteramt in der Sitzung des parlamentarischen Rechtsausschusses zu unterbinden. Ähnlich war in den vergangenen Wahlperioden die PO zusammen mit der PSL vorgegangen. Fachliche Argumente waren im Grunde nicht diskutiert worden und die Abgeordneten hatten sich eher an die Ratschläge der Regierung und der Fraktionsvorstände gehalten. Auf diese Weise trugen das »geschlossene System« des Sejm und die Ritualisierung des Gesetzgebungsprozesse zusätzlich dazu bei, die Konflikte auf die Straße zu verlagern.

Im November 2015 schrieb KOD einen offenen Brief, in dem es Präsident Andrzej Duda aufrief, drei gesetzmäßig gewählte Richter des Verfassungstribunals zu vereidigen, und organisierte am 12. Dezember eine Protestkundgebung vor dem Sitz des Gerichts, an der über 20.000 Demonstranten und Oppositionsführer teilnahmen. Parallel dazu fanden bereits kleinere Demonstrationen in einigen anderen Städten statt. Nimmt man die Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetztes und die pro-life Gegendemonstrationen, die feministischen Manifestationen, die Parade für Gleichheit sowie die Proteste von bestimmten Berufsgruppen wie Krankenschwestern und Zollbeamte zusammen, dann haben sich zwischen Dezember 2015 und Juni 2016 praktisch jede Woche Menschen unter verschiedenen Slogans auf der Straße versammelt. Hinzu kommt die ständige Demonstration in Form einer Reihe von Zelten, die gegenüber dem Sitz der Ministerpräsidentin aufgebaut worden sind. Diese neue Protestform initiierte die linke außerparlamentarische Oppositionspartei Gemeinsam (Razem), die auch die Idee hatte, das Urteil des Verfassungstribunals auf das Gebäude zu projizieren. Am 17. März 2016 begann KOD an diesem Ort eine unbefristete Kundgebung, indem es eine Tafel aufstellte, auf der die Tage gezählt werden, die seit dem Urteilsspruch des Verfassungstribunals zur Gesetzesnovelle über das Tribunal vergangen sind. Seitdem sind die Zelte vor der Kanzlei der Ministerpräsidentin das Zentrum der Protestpolitik und gewissermaßen der Hauptsitz von KOD geworden und werden hier auch Beitrittserklärungen entgegengenommen. Dieser Ort begann auch andere Protestierende anzuziehen, darunter auch diejenigen, die infolge interner Konflikte in der Bewegung eine eigene Mini-Organisation gegründet haben. Einer der Anführer aus der Anfangsphase, der nach Streitigkeiten und Vorwürfen zu Kijowskis Führungsstil und der mangelnden Demokratie innerhalb der Bewegung aus KOD ausgetreten war, trat unter einem eigenen Schild – Komitee zur Verteidigung der Demokratie gegen PiS (KOD przeciw PiS – KOD PP) – in einem eigenen Zelt in einen Hungerstreik.

Der Moment, ab dem man davon sprechen kann, dass sich die Proteste der Opposition stabilisiert und institutionalisiert haben, war die große Demonstration unter dem Motto »Wir sind und bleiben in Europa« am 7. Mai in Warschau. An ihr nahmen zirka 60.000 Personen teil, die auf den zentral gelegenen Piłsudski-Platz zogen, um dort die Anführer von KOD und den Oppositionsparteien zu hören. Der wichtigste Organisator dieses Protestmarsches, der viel Energie und Geld in die Bekanntmachung der Veranstaltung auf Billboards und in die Transportmöglichkeiten für die Teilnehmer gesteckt hat und das eigene Logo deutlich platzierte, war die PO, die die Veranstaltung als Möglichkeit betrachtete, wieder Auftrieb zu bekommen. Dennoch wurde die Demonstration in der öffentlichen Debatte eher als eine von KOD wahrgenommen.

Die Demonstration enthüllte eine Reihe von Interessenskonflikten zwischen den verschiedenen Akteuren der oppositionellen Protestplattform; gleichzeitig schloss sie auch die Anfangsphase der Stabilisierung der Protestszene ein halbes Jahr nach den von PiS gewonnenen Parlamentswahlen ab.

Die Logik sozialer Bewegungen und politischer Parteien

Die Gruppierungen von liberalkonservativ bis links hatten die Gewissheit erlangt, dass sie unter dem Schild von KOD in der Lage sind, eine gewisse gesellschaftliche Unterstützung auf den Straßen zu mobilisieren; sie waren aber auch zu der Erkenntnis gekommen, dass sich diese nicht in Form steigender Umfragewerte auswirken wird. Ebenso wenig ist eine sinkende Unterstützung für PiS festzustellen, die mit dem Familienförderprogramm »500+« und der angekündigten Auflegung eines Programms für günstigen Wohnraum positiv bewertete Sozialreformen initiiert hat.

Gleichzeitig fanden auf dem linken Flügel der politischen Bühne Veränderungen und Versuche statt, eine optimale Position vor den Parlamentswahlen in dreieinhalb Jahren zu besetzen. KOD rief die Koalition Freiheit, Gleichheit, Demokratie (Wolność Równość Demokracja) ins Leben, der eine Reihe kleiner linker und liberaler Gruppierungen beitrat, die gegenwärtig nicht im Parlament vertreten sind (darunter auch Vorsitzende der postkommunistischen Linken), sowie auch die PSL und Die Moderne aus den Reihen der Parlamentsparteien. Nicht beigetreten ist allerdings die größte Oppositionspartei, die PO. Kijowski machte deutlich: »KOD ist nicht Mitglied dieser Koalition, wir sind ihr Patron, eine Verständigungsplattform für diese Parteien. […] Wir sind nur Moderator. […] Wir sind eine zivilgesellschaftliche Bewegung und betreiben keine Parteipolitik.« Allerdings kommt es immer wieder zu Mutmaßungen, ob KOD nicht doch irgendwann eine politische Partei wird und in den kommenden Parlamentswahlen selbst antreten wird. Problematisch ist auch das Verhältnis zwischen der PO und KOD.

Dass die Logik einer sozialen Bewegung mit der Taktik einer politischen Partei zusammenstoßen kann, macht die Geschichte des Bürger-Gesetzesprojektes zum Verfassungstribunal deutlich, das KOD in den Sejm eingebracht hat und dem über 100.000 Bürger zugestimmt hatten. PiS hat dieses Projekt nicht abgewiesen, sondern an die parlamentarischen Ausschüssen weitergeleitet, was von den Oppositionsparteien und den Anführern von KOD als Vorwand interpretiert wurde, um eigentlich das Gesetzesprojekt von PiS umzusetzen. Die Moderne und die PO stimmten nach Absprache mit KOD schließlich gegen die Annahme des Projekts, um kein Prozedere zu legitimieren, in dem PiS die dominierende Position innehat. Sie argumentierten dahin gehend, dass zunächst alle gewählten Richter des Verfassungstribunals vereidigt und seine Urteile veröffentlicht werden müssten. Dabei verwickelte sich KOD in ein schwer zu vermittelndes Spiel: Nun muss das Komitee seinen Anhängern erklären, warum es die weiteren Arbeiten an dem von ihnen in den Sejm eingebrachten Gesetzesprojekt nicht will. Hier lassen sich parteipolitische Interessen beobachten, in die sowohl KOD als auch sein Projekt hineingezogen worden sind. Anfang Juni gaben Kijowski und Grzegorz Schetyna, die Chefs von KOD und der PO, sogar eine eigene Pressekonferenz, um dann nur so viel zu erklären, dass die Zusammenarbeit beider Gruppierungen sehr gut verlaufe und beide den »Willen zur Zusammenarbeit, Offenheit und Sympathie bekunden«. Natürlich organisiert man keine solche Pressekonferenz, wenn die Zusammenarbeit tatsächlich konfliktfrei verläuft. Sie war eher eine Bestätigung der Reibungen im oppositionellen Milieu.

Ressourcen und Anhänger gewinnen

KOD funktioniert als Verein, der von zirka 20 Gründungsmitgliedern ins Leben gerufen wurde und sich aktuell bemüht, so viele eingetragene Mitglieder wie möglich zu gewinnen. Dies soll u. a. dazu dienen, den Kreis der ständigen Mitarbeiter zu erweitern und die finanziellen Mittel zu stabilisieren. Innerhalb von fünf Monaten, bis Ende April, hat KOD zirka eine Million Zloty gesammelt, wobei über die Hälfte auf den Demonstrationen in Spendendosen gegeben wurde. Während der großen Veranstaltung in Warschau konnte KOD mit Hilfe von 70 Freiwilligen zirka 180.000 Zloty sammeln. Andere Quellen sind online-crowdfunding oder individuelle Überweisungen von Anhängern. Mitglieder des Vereins leisten einen monatlichen Beitrag von fünf oder zehn Zloty und eventuell eine zusätzliche Spende. Darüber hinaus rief KOD auch öffentlich zur Finanzierung seiner Medien auf, das heißt einer Internetzeitung sowie eines künftigen Internetradios. Außerdem gibt es einige Zeitungen, die von Aktivisten erstellt und während der Demonstrationen oder auf dem Posten vor der Kanzlei der Ministerpräsidentin verteilt werden. All dies zeigt eine recht deutliche Effektivität und eine zunehmende Organisiertheit der Bewegung.

Bedeutende Ressourcen steuern auch die politischen Parteien bei, die einerseits den Namen KOD als aussagekräftiger und glaubwürdiger als ihren eigenen Parteinamen nutzen, aber andererseits die Proteste auch als die ihren sowie auch als ihren Erfolg darstellen wollen. So war es beispielsweise bei der Organisation der Demonstration im Mai. Die PO mietete große Reklametafeln und Billboards, auf denen die Demonstration angekündigt wurde, sie zahlte für die Bühne und brachte einige Tausend Anhänger mit ihren Bussen zur Demonstration.

Die Ressourcen sind nicht nur materieller Art. In seiner Anfangsphase des organisierten Wachstums sucht KOD vor allem nach Legitimation. Diesem dienten u. a. die Besuche im Westen und die Treffen mit politischem Führungspersonal und Vertretern der Eliten, so zum Beispiel der Besuch einer Delegation von KOD in den USA und das Treffen mit Freedom House oder die Reise nach Brüssel und Treffen mit den Präsidenten bzw. dem Fraktionsvorsitzenden Donald Tusk, Martin Schulz, Frans Timmermans und Guy Verhofstadt. Ähnliche Bedeutung hatten die Bemühungen um den Europäischen Bürgerpreis des Europäischen Parlaments und die Bestimmung von Władysław Bartoszewski zum Patron der KOD-Bewegung.

Auch weitere politische und gesellschaftliche Unterstützung kann KOD Glaubwürdigkeit oder Legitimierung bringen. Hier ist u. a. die Stadt Warschau ein wertvoller Verbündeter (die Stadtpräsidentin von Warschau ist gleichzeitig stellvertretende PO-Vorsitzende). Freilich gibt sie regelmäßig eine überhöhte Schätzung der Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen von KOD bekannt. Beispielsweise gab die Stadtverwaltung für die Demonstration am 7. Mai unter dem Motto »Wir sind und bleiben in Europa« die Zahl von 240.000 Teilnehmern an, gegenüber zirka 60.000 tatsächlichen Demonstranten, was an sich schon eine imponierende Zahl ist. Auf diese Weise erhielten die Organisatoren eine von ihnen als wertvoll angesehene symbolische Unterstützung. Westliche Medien, darunter auch deutsche, nahmen dies auf, indem sie von »Hunderttausenden Demonstranten gegen die Regierung in Warschau« schrieben. Einer der wichtigsten Kommentatoren der Gazeta Wyborcza, Marek Beylin, schrieb: »Wenn eine Viertelmillion Protestierender auf die Straße geht, haben alle Machthaber vor Angst die Hosen voll. Für PiS aber ist die Situation besonders bitter. Eine so mächtige gesellschaftliche Mobilisierung zeigt, dass […] der gesellschaftliche Widerstand nicht nur nicht erlöscht, sondern, im Gegenteil, sich noch verstärken wird.«

Diese publizistische Emphase zeigt, dass die Gazeta Wyborcza ein weiterer wertvoller Verbündeter von KOD ist, dergestalt, dass sie sich vollständig mit der Botschaft der Demonstrationen identifiziert und die Proteste befürwortet. Die Kommentare sind im Tenor des »wir« protestieren verfasst, die Zeitung gibt umfangreiche Informationen über die Demonstrationen und macht für sie Werbung. Journalisten der Gazeta Wyborcza nahmen als Redner an Kundgebungen zu den öffentlichen Medien teil, ihr Herausgeber Adam Michnik stellte den bereits erwähnten Zähler vor dem Sitz der Ministerpräsidentin auf und besuchte dort die Zeltansammlung von KOD. Auch veröffentlichte die größte liberale Tageszeitung den Ratgeber »Was tun, wenn sie Dich schnappen«, der ähnlichen Ratgebern aus der Zeit der Volksrepublik nachempfunden ist. In einem Redaktionskommentar schrieb Chefredakteur Jacek Kurski am 4. Juni: »Diese zivilgesellschaftliche Bewegung lässt sich weder ersticken noch kaufen noch verschrecken. PiS muss sich fürchten.« Die Zeitung stellt die starke Antiregierungshaltung der Bewegung heraus und befleißigt sich einer entsprechenden Rhetorik, um KOD zu charakterisieren, auch wenn die Aussagen der führenden Aktivisten selbst eher neutral sind und auf einen nicht näher bestimmten »Aufbau einer Zivilgesellschaft« abstellen.

Der Rahmen der Proteste

Zweifellos aber beschreibt der Kommentar des Publizisten die Emotionen der Protestteilnehmer unter dem Aspekt zutreffend, dass es sich um starke Anti-PiS Emotionen handelt, das heißt negative Emotionen gegenüber der aktuellen Regierung und der sie stellenden Partei, weniger jedoch Emotionen im Hinblick auf ein kohärentes Panorama von Ansichten oder von politischen Reformen. »Jetzt hatten wir den Europatag. Anschließend kommt der 4. Juni. Allgemein gilt, wenn wir alle fünf bis sechs Wochen etwas organisieren, dann ist es gut. Die Menschen brauchen das. Nach zwei Wochen fragen sie, wann die nächste Demonstration stattfinden wird. In ihnen wächst die Empörung und das Bedürfnis sich zu treffen, gemeinsam die Unzufriedenheit zu zeigen«, sagte Kijowski über die Häufigkeit der Demonstrationen in einem Interview für die Gazeta Wyborcza. Diese Aussage verdeutlicht den Mechanismus, die Proteste aufrechtzuerhalten, sowie den Mechanismus des Drucks von Seiten der Sympathisanten, weitere Veranstaltungen durchzuführen. In den Darstellungen der Teilnehmer und Sympathisanten selbst wiederholen sich Schlüsselbegriffe wie »europäische Werte« und EU, »fröhliche Gesichter« der Protestteilnehmer im Gegensatz zu den »mürrischen Demonstranten bei den Kundgebungen von PiS«, der Erfolg Polens nach 1989, der von PiS bedrohte Rechtsstaat, der antipolitische Charakter von KOD (in einem gewissen Gegensatz zu den politischen Zielen der Oppositionsparteien). »Ein demokratisches Polen in der Europäischen Union, ein Polen freier und gleicher Bürger – diese Werte und diese unsere Lebenseinstellungen, heute bedroht, führten uns in den Demonstrationszug«, so der Kommentar von der Gazeta Wyborcza. Der gemeinsame Rahmen dieser Manifestationen, der die Mehrheit der Teilnehmer grundsätzlich vereint, ist allerdings vor allem die Abneigung gegenüber PiS.

Die Bezugnahme auf historische Jahrestage

Eine Methode, Identität zu stiften, sind auch die häufigen Bezugnahmen auf historische Jahrestage. Nach der Manifestation zum Jahrestag der halbfreien Wahlen am 4. Juni 1989 sind im Juni weitere Demonstrationen geplant, die sich direkt auf Proteste in der Zeit der Volksrepublik beziehen, und zwar anlässlich des Jahrestags der Ereignisse in Ursus und Radom im Juni 1976 sowie aus Anlass des 60. Jahrestages der Massenproteste im Juni 1956 in Posen (Poznań). Charakteristisch ist hier die Sprache, mit der die Veranstaltungen bekannt gemacht werden. Die Jahrestage der tragischen Ereignisse im Juni 1956 in Posen sowie im Juni 1976 in Radom sind eine Gelegenheit, die Demonstrationen von KOD in die Tradition der Proteste für Freiheit in der Zeit der Volksrepublik einzuordnen und den Gegner, das heißt die PiS-Regierung, als Äquivalent zu den kommunistischen Machthabern darzustellen, die die Freiheit beschränkt hatten. Die Einladung zur Teilnahme am 40. Jahrestag der Ereignisse in Radom lautet: »Am 25. Juni 2016 lädt das Komitee zur Verteidigung der Demokratie alle um 11.00 Uhr zum Gedenkmarsch für die Helden des Juni ein, um des Kampfes für die Freiheit zu gedenken, der im Jahr 1976 begann. Erlauben wir nicht, uns die Freiheit nehmen zu lassen, für die so viele ihr ganzes Leben geopfert haben. Gedenken wir der Arbeiter, die für ihre Rechte kämpften, gedenken wir der Entstehung des KOR und der ROPCiO, der Anfänge des erfolgreichen Kampfes für Demokratie« (ROPCiO – Ruch Obrony Praw Człowieka i Obywatela/Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte; oppositionelle Organisation in der Volkrepublik Polen, Anm.d.Red.).

Das Beispiel PiS und rechter Bürgernetzwerke

Die emotionale Anknüpfung an die Phase der Volksrepublik Polen ist nichts Neues in der polnischen Protestkultur. Die von linken und liberalen Gruppierungen und Bewegungen organisierten Demonstrationen entstanden nicht aus dem Nichts. Ihre Organisatoren griffen auf Mobilisierungs- und Protestpraktiken zurück, die vorher bereits vor allem im rechten Milieu erprobt worden waren, und zwar insbesondere von der aktuell regierenden PiS wie auch der Nationalen Bewegung (Ruch Narodowy). Den extremen Rechten gelang als ersten der Versuch, Mobilisierung in Form von Demonstrationen zu initiieren. Seit dem Jahr 2010 begannen sie, ihre ideologische Strömung nicht mehr nur über die Aktivitäten einer klassischen politischen Partei oder ihre Organisation Allpolnische Jugend (Młodzież Wszechpolska) zu konsolidieren, sondern den Schwerpunkt auf den eigens berufenen Verband Marsch der Unabhängigkeit (Stowarzyszenie Marsz Niepodległości) und die alljährliche Demonstration am 11. November, dem Tag der Unabhängigkeit von 1918, zu legen.

Auch für PiS, damals die größte Oppositionspartei im Sejm, wurden Märsche ein wichtiges Mobilisierungsinstrument. Die jeden Monat stattfindenden Märsche anlässlich der Flugzeugkatastrophe von Smolensk (10. April 2010) zogen viele Menschen an. Im Bewusstsein des mobilisierenden Effekts solcher Aktivitäten rief PiS im Jahr 2011 einen weiteren Marsch ins Leben. Wesentlich war hier zweifellos auch die Rivalität mit dem nationalen Milieu rechts von PiS, das den Jahrestag des 11. November dominierte. So organisierte PiS im Jahr 2011 den Marsch der Unabhängigkeit und Solidarität am Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 unter dem Motto »Es gibt kein gerechtes Europa ohne ein unabhängiges Polen«. Das Spiegelbild dieses Marsches und dieses Mottos ist der Demonstrationszug von KOD, der PO, der PSL und von Die Moderne am 7. Mai 2016, dessen ideeller Rahmen die Betonung der Verankerung Polens in Europa und der Europäischen Union war. Auf die Demonstrationen von PiS, die der Opfer des Kriegsrechts gedenken und für PiS ein wichtiges identitätsstiftendes Element sind, antwortet KOD mit Manifestationen zum Jahrestag des Juni 1956 in Posen und des Juni 1976 in Radom.

Auch andere Themen und Mottos werden aufgegriffen. Im Jahr 2014 hatte PiS zu einem Marsch »zur Verteidigung der Demokratie und Medienfreiheit« aufgerufen. Jarosław Kaczyński, PiS-Vorsitzender, hatte damals die PO kritisiert, dass »die Machthaber die Gerichte unter Beteiligung des Präsidenten der Republik terrorisieren«. Paradoxerweise wurde dieses Argument von PiS vom Dezember 2014 fast genauso am selben Ort und in derselben Form ein Jahr später von der anderen Seite des Konflikts, also KOD und PO, wiederholt, wobei die Themen öffentliche Medien und Rechtsprechung in einen neuen Kontext gestellt wurden.

Der Versuch der PO, analog zu PiS in deren Zeiten als Oppositionspartei ein Netz von kooperierenden lokalen zivilgesellschaftlichen Gruppen aufzubauen, ist eine weitere Anknüpfung an die Strategien von PiS. PiS war sich recht früh der Bedeutung eines solchen Netzes bewusst geworden und begann, um die Partei herum zivilgesellschaftliche Organisationen zu fördern. Die Klubs der Gazeta Polska, die von der PiS nahestehenden Tageszeitung Gazeta Polska gegründet wurden, sowie die »Familie« des nationalkatholischen Radio Maryja spielten hier die wichtigste Rolle. Diese konservativen und dem rechten politischen Spektrum nahe stehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen erlaubten der Partei, schwierigere Phasen zu überstehen und ihre Anhänger zu mobilisieren.

Die Bürgerklubs der PO

In diesem Geist, allerdings von oben und zentral veranlasst, beschloss die PO ein entsprechendes Netzwerk kooperierender Kreise aufzubauen. Anfang März 2016 eröffnete sie ein Treffen der sogenannten Bürgerklubs, die eine Antwort auf Mobilisierungsprobleme der PO sein sollen. Die Partei erlebt aktuell eine Krise, sehr viele Mitglieder sind nicht aktiv, die Anzahl der Beitragszahler sinkt, der Konflikt zwischen dem Flügel um den neuen Vorsitzenden Grzegorz Schetyna und dem um die ehemalige Ministerpräsidentin Ewa Kopacz dauert an. Die Umfragewerte fielen auf zirka 15 Prozent, womit die PO von Die Moderne überholt wird. In dieser Situation griff die PO nach der Idee der Bürgerklubs. »Die Bürgerklubs sind der Anfang einer neuen PO, wir wollen eine neue Etappe eröffnen – Debatten, Diskussionen über die wichtigsten Dinge«, sagte Schetyna. In der Tageszeitung Rzeczpospolita unterstrich er, dass »die Bürgerklubs als offene, unparteiliche Diskussionsorte gedacht sind«. Unparteilich, aber gleichzeitig sollen sie »der Anfang einer neuen PO« sein. Der Plan sieht vor, dass sie in jedem Kreis entstehen und insgesamt zirka 400 lokale Diskussionsorte umfassen sollen, d. h. Strukturen, die die Mobilisierung der PO-Anhänger im jeweiligen Ort fördern und lokale gesellschaftliche Akteure zusammenführen sollen.

Auf einem Treffen der Klubs der Gazeta Polska im Mai 2015 hatte Kaczyński eindeutig über die Strategie der sozialen Bewegung gesprochen: »Ohne gesellschaftliche Unterstützung, die auch auf der Straße zum Ausdruck kommt, wird es uns nicht gelingen.« Auch die aktuellen Oppositionsführer scheinen so zu denken, doch währen die Klubs der Gazeta Polska mehrheitlich von unten gewachsen sind, wurden die Bürgerklubs von oben erschaffen, als von der Partei initiiertes Projekt zum Aufbau eines Netzwerks. Wiederum von der Basis ausgehend, bilden sich Netzwerke im Rahmen von KOD, und es werden wohl eher diese sein, die die Infrastruktur des liberalen Protests in den kommenden Jahren stellen werden.

Fazit

KOD als eine bestimmte Form der Mobilisierung der liberal-linken Wählerschaft hat seine Position im Laufe des ersten halben Regierungsjahres von PiS stabilisiert. Der Erfolg von KOD bedeutet, dass sich das ganze Segment der Aktivitäten der Opposition nach außerhalb des Sejm verlagert hat, was sich u. a. aus der Schwäche des Sejm angesichts der Dominanz von PiS in der Regierung und im Parlament, aber auch aus der Schwäche der Oppositionsparteien ergibt. Die Proteste von KOD sind »normal« geworden und ermuntern auch diejenigen, auf die Straße zu gehen, die sich bisher nicht in politischen Angelegenheiten engagiert hatten. Vereinfacht kann man sagen, dass dies die großstädtische Mittelschicht mittleren Alters betrifft. In gewisser Weise lässt sich aber auch feststellen, dass KOD »die Opposition in den Schlaf wiegt«, wie Tomasz Sawczuk vom Internetmagazin Kultura Liberalna formulierte, und ihr die Lebenskräfte aussaugt, indem es die Energie und Emotionen der Wähler woandershin leitet. KOD befreit die Oppositionsparteien davon, zu denken und tätig zu werden. Es verschlingt Energie und Emotionen, die in der Parteipolitik genutzt werden könnten. Die Oppositionsparteien ihrerseits sind schwach und rivalisieren zudem auch noch untereinander.

Ein Problem von KOD ist auch eine gewisse Nähe zum Establishment (ehemalige Präsidenten, viele Künstler und Berühmtheiten unterstützen die Bewegung) und eine tendenziell protektionistische Einstellung den PiS-Wählern gegenüber. Maciej Kozłowski, ehemaliger Botschafter und eines der Mitglieder der Delegation von KOD, die nach Brüssel reiste, sagte dort: “The problem is not with PiS, it’s with the people who voted for them. They are uneducated in civic values.” Gerade diese Überzeugung, dass man das Monopol auf die zivilgesellschaftlichen Werte besitzt, und der hohe Grad an Exaltation, was auch die Bezeichnung Komitee zur Verteidigung der Demokratie widerspiegelt, sind eine Gefahr für die Protestbewegung.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Zum Weiterlesen

Artikel

Zweieiige Zwillinge. PiS und Fidesz: Genotyp und Phänotyp

Von Kai-Olaf Lang
Die regierenden Parteien in Polen und Ungarn haben vieles gemeinsam. Beide streben einen neotraditionalistischen Umbau von Staat und Gesellschaft an. Demokratie verstehen sie als Mehrheitsherrschaft, das Mandat, das sie vom Volk an den Wahlurnen erhalten haben, soll nicht durch „checks and balances“ beschränkt werden. In der EU setzen PiS und Fidesz auf die Sicherung und den Ausbau nationalstaatlicher Hoheitsbereiche. Aufgrund außen- und europapolitischer Differenzen – insbesondere in der Sicherheits- und Russlandpolitik – ist allerdings keine nationalkonservative Achse in Ostmitteleuropa entstanden. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de
Analyse

Budapest in Warschau? Regierungsfreundliche Mobilisierung in Polen und in Ungarn

Von Mateusz Fałkowski
Der Autor stellt dar, wie Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) während ihrer acht Jahre in der Opposition ihre Anhänger mit Hilfe von Strategien sozialer Bewegungen mobilisierte. Außerdem nutzte sie ihre Verwurzelung in der Solidarność-Bewegung und unterstützte ein Netz von parteinahen Organisationen und Milieus. Ähnlich verfuhr Fidesz in Ungarn. Der Text analysiert, wie zuerst Fidesz in Ungarn und dann PiS in Polen Strategien der sozialen Bewegungen auch nach Übernahme der Regierungsverantwortung aufrechterhielten, um ihre Wählerschaften fortgesetzt zu mobilisieren. Des Weiteren vergleicht der Autor die Pro-Regierungsmärsche Békemenet in Budapest und den »Marsch für Freiheit und Solidarität« in Polen. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS