Nobelpreisgekrönt und kritisch beäugt – über den Zusammenhang zwischen Literatur und Politik in Polen

Von Peter Oliver Loew (Deutsches Polen-Institut, Darmstadt)

Zusammenfassung
Es war eine literarische Entscheidung mit politischen Obertönen, Olga Tokarczuk 2019 den Literaturnobelpreis für 2018 zu verleihen, drei Tage vor den Parlamentswahlen in Polen am 13. Oktober. Während liberale und linke Milieus im Land begeistert reagierten, antworteten konservative und rechte Kreise mit verlegener Zurückhaltung, zum Teil auch mit offener Ablehnung und Aggression. Literatur und Politik sind in Polen seit jeher eng miteinander verbunden: Über Literatur wird gestritten, Literatur mischt sich ein – und das angesichts kontinuierlich sinkender Leserzahlen und einer schwierigen Lage des Buchmarktes. Die vorliegende Analyse beschreibt den Zusammenhang von Literatur und Politik in Polen und schildert die Reaktionen auf die fünfte (oder, je nach Zählweise, sechste) Verleihung des Literaturnobelpreises an eine/n Autor/in aus Polen.

Literatur hat die Macht, Realität zu beeinflussen. Was aus deutschsprachiger Sicht fast wie ein Wunschtraum vergangener Schriftstellergenerationen klingt, hat in Polen nach wie vor eine beträchtliche Relevanz. Olga Tokarczuk kann mehr als ein Lied davon singen. Einmal kam sie, wie sie in ihrem kleinen Essay »Forelle in Mandel« (2005) schreibt, in das niederschlesische Städtchen Bardo. Sie hatte ihm gerade eine Erzählung gewidmet, in der sie dem Ort so manche fiktive Geschichte andichtete, wie eine angebliche kulinarische Spezialität – Forelle in Mandeln. Als sie nun das wohl einzige Restaurant am Platze aufsuchte, stellte sie perplex fest: »Auf der reich verzierten Menükarte stand deutlich an erster Stelle: ›Spezialität des Hauses: Forelle in Mandel‹. Und so – essend – schufen wir Wirklichkeit.«

Es sei geradezu die Aufgabe der Literatur, sich in die politische Wirklichkeit einzumischen, politisches Handeln auszulösen, sagt der Literaturwissenschaftler Przemysław Czapliński (Posen/Poznań); es gelte, die gewohnten politischen Narrative zu durchbrechen, zu stören. Diese Narrative, die polnischen Mythen und Realitäten, sind wiederum durch die Literatur maßgeblich mitgeprägt worden. Während der gesamten Phase der polnischen Teilungen, bis 1918, war sie ein wichtiger Bestandteil der von den Teilungsmächten vielfach behinderten öffentlichen Debatte. Henryk Sienkiewiczs Historienromane gestalteten Bild- und Vorstellungswelten, die bis heute Bestand haben.

Auch in der kommunistischen Zeit war Literatur ein zentraler Aushandlungsort politischer Differenzen. Czesław Miłosz (1911–2004), der nach anfänglicher Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Regime 1951 das Exil wählte, schilderte schon 1953 in seinem epochalen Werk »Verführtes Denken« (Zniewolony umysł) den individuell unterschiedlichen Umgang von Schriftstellern mit der kommunistischen Diktatur. Sein ganzes Leben lang sprach er sich gegen Nationalismus und rechte politische Strömungen aus, auch gegen eine starke Rolle der katholischen Kirche. Einfluss auf politische und gesellschaftliche Debatten hatte er nicht zuletzt durch die Verleihung des Literaturnobelpreises 1980, wenige Wochen nach dem Ausbruch der Streikwelle in Polen und der Entstehung der Gewerkschaft Solidarność. Mit diesem symbolischen und literarischen Kapital kehrte er 1993 für seinen Lebensabend aus dem Exil zurück und ließ sich in Krakau (Kraków) nieder.

Hier, in Polen, hatten sich derweil andere Schriftsteller ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit geschrieben. Zu den moralischen Autoritäten der demokratischen Opposition gehörte etwa der Dichter Zbigniew Herbert. Seine Gedichte waren in weiten Kreisen der intellektuellen Szene Pflichtlektüre. Berühmt wurden zum Beispiel folgende Zeilen aus »Herrn Cogitos Vermächtnis«:

»Geh wohin die andern gingen bis an die dunkle Grenze

suche das Goldene Vlies des Nichts deine letzte Belohnung

geh aufrecht wo andere knien

wo sie sich abwenden in den Staub fallen (…)

bleib tapfer wenn der Verstand versagt bleib tapfer

nur dieses zählt in der letzten Bilanz (…)

Bleib treu Geh«

Durch seinen aufrechten Antikommunismus blieb Herbert auch in der Dritten Republik ein Vorbild, wo er sich sehr deutlich gegen die vorherrschenden liberalen bzw. postkommunistischen Eliten stellte. Er kritisierte die gesamte Systemtransformation, nannte den Runden Tisch (1989) einen »Verrat der Eliten«, denen er »Zynismus« und »Nihilismus« vorwarf, und sprach sich für eine radikale Entkommunisierung aus. Mit dieser Einstellung brachte er die liberalen Eliten gegen sich auf, wurde aber zugleich zu einer Lichtfigur der Rechten. Piotr Gliński, Kulturminister aus den Reihen von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), meinte kürzlich: »Herbert ist für mich der größte zeitgenössische Dichter, ein Nobelpreisträger ehrenhalber«. Diese Bemerkung bezog sich darauf, dass 1996 nicht er, der viele Jahre als aussichtsreicher Kandidat gegolten hatte, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, sondern die viel unpolitischere Wisława Szymborska – sie waren übrigens jahrzehntelang miteinander befreundet. Diese Preisverleihung wurde zum Anlass einer im Grunde bis heute andauernden öffentlichen Auseinandersetzung. Vertreter der polnischen Rechten warfen dem Nobelpreiskomitee eine linke Weltanschauung und Szymborska ihre frühen Gedichte im Geiste des sozialistischen Realismus vor, und noch heute erscheinen Artikel über eine angebliche Verschwörung der Linksliberalen und sogar der kommunistischen Geheimdienste gegen den aufrechten Herbert und zugunsten der »Stalinistin« Szymborska.

Eine weitere Auseinandersetzung brach 2004 nach dem Tod von Czesław Miłosz aus, als es darum ging, ob er in einem nationalen Pantheon, der Krypta der Verdienten in der Krakauer Paulinerkirche Skałka, seine letzte Ruhe finden dürfe. In der zuerst vom Medienumfeld des katholischen Radiosenders Radio Maryja vorgebrachten Kritik wurde Miłosz als Kirchenfeind, Polenhasser, Homosexuellenfreund und Kryptokommunist angeprangert, außerdem habe er sich ja selbst gerne als »Litauer« und nicht als Pole bezeichnet. Zwar wurde Miłosz schließlich feierlich in der Krypta beigesetzt, doch galt er aufgrund vieler als »antipolnisch« verstandener Äußerungen auch weiterhin als Feindbild der Rechten. 2011 stimmten einige PiS-Abgeordneten im Sejm dagegen, das Jahr zum Czesław Miłosz-Jahr zu erklären.

Neue Themen für das Land

Die 1990er Jahre, der Übergang Polens in die freie Welt und die freie literarische Entfaltung, waren zumindest vordergründig eine Zeit, in der sich die Literatur von der Politik ferner hielt und von der Politik auch nicht mehr an die Kandare genommen wurde. Doch sie musste nicht immer ausdrücklich vom Politischen sprechen, um politisch zu wirken und Themen zu setzen, die die politische Debatte maßgeblich mitbestimmten. Es wurde geradezu zur Aufgabe der Literatur, Diskursfelder zu öffnen und die Diskussion über die polnische Identität neu zu beleben.

So war etwa die Entdeckung der Regionen, regionaler Identitäten, deutscher, jüdischer oder ukrainischer Vergangenheiten zu einem erheblichen Teil ein Verdienst der Literatur. Stefan Chwin und Paweł Huelle schrieben und beschrieben Danzig (Gdańsk) neu, die Dichter aus dem Umfeld der Allensteiner Kulturgemeinschaft »Borussia« (Allenstein/Olsztyn) eigneten sich die (ost-)preußische Heimat neu an, Olga Tokarczuk und Julian Kornhauser legten niederschlesische Erinnerungsschichten frei, Andrzej Stasiuk erwanderte in seiner frühen Schaffensphase die Beskiden, Autoren wie Piotr Szewc präsentierten längst vergessene jüdische Lebenswelten, Sylwia Chutnik beschäftigte sich mit den jüdischen Traumata der Polen und vor allem Polinnen und zuletzt porträtierte Szczepan Twardoch ein Oberschlesien, das sich den polnischen (wie auch deutschen) Meistererzählungen widerborstig entgegenstellt.

Es waren allerdings der historische Essay und die Geschichtswissenschaft, später der Film, die das Thema des jüdischen Erbes aufgriffen und auch die verschiedenen Spielarten von Antisemitismus oder auch polnisch-jüdischer Symbiose und Schicksalsgemeinschaft behandelten. Ausgehend von Jan Tomasz Gross’ Buch »Nachbarn« (Sąsiedzi, 2000) entwickelte sich eine Debatte, zu deren literarischen Konsequenzen sich schließlich auch Olga Tokarczuks Jahrhundertroman »Die Jakobsbücher« (Księgi Jakubowe, 2014) über den jüdischen Sektengründer Jakob Frank im 18. Jahrhundert gesellte, ein Buch über das multikulturelle und multikonfessionelle Erbe des alten Polen.

Ein weiteres Thema, das maßgeblich von der Literatur ausging, ist die Kritik an der konservativen Gesellschaft: Wojciech Kuczoks Roman »Dreckskerl« (Gnój 2003) prangerte häusliche Gewalt an, die viele Polinnen und Polen als Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit erlebt haben und deren Virulenz in der Transformationszeit von der Politik viel zu lange nicht erkannt worden war. Ein auf der Romangrundlage entstandener Spielfilm trug zur Breitenwirkung des Themas erheblich bei, ebenso wie im Falle von Dorota Masłowskas Roman »Schneeweiß und Russenrot« (Wojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną, 2002). Das sensationelle Erfolgsbuch der jungen Schriftstellerin porträtierte das halbkriminelle Milieu einer Kleinstadt im Nachwendepolen und hielt dem intellektuellen Mainstream einen hässlichen Spiegel gesellschaftlicher Realität vor.

Rasant steigende Aufmerksamkeit erhielt die Frage nach der Stellung der Frau in der Gesellschaft und nach geschlechtlicher Gleichberechtigung. Autorinnen wie Manuela Gretkowska, Izabela Filipiak, Sylwia Chutnik oder Joanna Bator haben sich mit großem Engagement ihre Ablehnung des konservativ-patriarchalischen Modells von der Seele geschrieben und die jahrhundertelange Unterdrückung von Frauen voll Bitternis thematisiert: »Das große Geheimnis geht von der Großmutter an die Mutter und von der Mutter an die Tochter über: ›Putz deine Wohnung und vergiss das Scheißhaus nicht.‹ Kluge Frauen wissen nämlich, dass der scheinbar unterste Platz in der Familienhierarchie die wahre Macht über den Alltag bedeutet,« heißt es beispielsweise bei Chutnik.

Stimmen wie diese haben die Frauen Polens maßgeblich gestärkt und mit dazu beigetragen, dass sie etwa 2016 bei den »schwarzen Protesten« hunderttausendfach gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze auf die Straße gingen.

Die allmähliche Veränderung der Einstellung zu Homosexualität ist auch wesentlich auf Schriftsteller zurückzuführen, die offen homosexuell leben und/oder über Homosexualität schreiben. Zu ihnen zählen nicht zuletzt die großartigen Erzähler Michał Witkowski und Jacek Dehnel.

Konservative Autoren mischen sich politisch ebenfalls ein: Beispielsweise deckt der Journalist Bronisław Wildstein in seinen Romanen wie Dolina Nicości [»Tal der Nichtigkeit«, 2008] postkommunistischen Seilschaften im zeitgenössischen Polen auf. Und Jarosław Marek Rymkiewicz verlangt geradezu obsessiv ein romantisches Ethos in der polnischen Gegenwart. Die Handlung seines Romans Wieszanie [»Das Erhängen«, 2007] siedelte er während des Kościuszko-Aufstands gegen die russische Teilungsmacht 1794 an. Er vertritt hier die These, dass ein politischer Umbruch mit harten Zäsuren und – wenn nötig – auch mit gerechter Gewalt einhergehen muss. Die Anspielungen auf den maßvollen politischen Kompromiss des »Runden Tisches« von 1989 sind nur zu offensichtlich. Sein weithin bekannt gewordenes Gedicht »An Jarosław Kaczyński«, das er wenige Tage nach der Flugzeugkatastrophe vom April 2010 schrieb und kurze Zeit später in seinen Lyrikband Wiersze polityczne [»Politische Gedichte«] aufnahm, sieht Polen in einem romantischen Schicksalsdrama gefangen:

»(…)

Polen darf nicht in die Hände seiner Diebe geraten

Die es uns stehlen und der Welt verkaufen wollen

Jarosław! Sie sind Ihrem Bruder noch etwas schuldig!

Wohin geht ihr? Was wird mit Polen werden?

Danach fragt uns jetzt dieser verbrannte Körper

(…)«

Nationaler Pathos und postmoderne Dekonstruktion – in dieser Bandbreite bewegen sich bis heute die politischen Stellungnahmen polnischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

Eine Zukunft für das Buch?

Bei aller politischer Relevanz von Literatur – die Lesegewohnheiten und der Buchmarkt befinden sich in Polen seit Jahren in einer Krise. Während auf der einen Seite Jahr für Jahr eine Fülle unterschiedlichster Titel erscheint, nimmt die Zahl der Leser konstant ab. Ende 2018 erklärten bei einer repräsentativen Umfrage der polnischen Nationalbibliothek (Biblioteka Narodowa) 37 Prozent aller Polinnen und Polen, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens ein Buch gelesen zu haben, während es im Jahr 2000 noch 54 Prozent gewesen waren. Auch die Zahl der Vielleser (mehr als sieben Bücher im Jahr) ging zurück: von 24 Prozent (2000) auf neun Prozent (2018). Die Zahlen stagnieren seit etwa zehn Jahren auf diesem niedrigen Niveau. Allerdings spiegeln diese Zahlen europaweite Trends wider. In europäischen Vergleichsstatistiken präsentiert sich Polen deshalb trotz allem erstaunlich gut: So gehören laut europäischer Statistikbehörde Eurostat die prozentualen Ausgaben eines Haushalts für Bücher, Zeitungen und Büromaterial in Polen EU-weit zu den höchsten, bei den täglichen durchschnittlichen Buch-Lesezeiten lag Polen (zwölf Minuten) hinter Estland und gemeinsam mit Finnland an der Spitze, weit vor Deutschland (sieben Minuten), und das Lesen von Büchern wird von Polen – neben den Finnen – am häufigsten als liebste Freizeitbeschäftigung genannt (ganz am Ende in dieser Kategorie befindet sich übrigens überraschenderweise Frankreich).

Der Buchmarkt selbst befindet sich in einer langanhaltenden Schrumpfungsphase. So sanken die Verkaufserlöse (gemessen in Verlagspreisen) zwischen 2010 und 2016 von umgerechnet 735 Mio. Euro auf 592,5 Mio. Euro, während zugleich die Zahl der produzierten Titel von 24.400 auf 34.200 stieg (2018: 33.900). 32 Prozent der produzierten Buchtitel gehören – Zahlen für 2018 – zur Kategorie »wissenschaftliche Texte«, bei 29 Prozent handelt es sich um literarische Publikationen. Bei diesen wiederum besteht der größte Anteil aus Kinderliteratur (28 Prozent), gefolgt von Lyrik (20 Prozent, zu einem Großteil nur in Kleinstauflagen im Selbstverlag) sowie Liebes- und Unterhaltungsromanen (19 Prozent), Comics machen neun Prozent aus und anspruchsvolle Prosa nur vier Prozent aller Buchtitel. Insgesamt erschienen 2018 lediglich 380 Titel der Kategorie »anspruchsvolle Prosa«, davon waren 137 Werke polnischer Autoren, die übrigen waren aus Fremdsprachen übersetzt worden. 22 Prozent aller in Polen erscheinenden Bücher sind Übersetzungen.

Die Zahl der Buchhandlungen sinkt in Polen stetig. Ende 2018 gab es landesweit noch knapp 1.900 (2011: knapp 2.100), von denen 375 zu zwei großen Buchhandelsketten gehörten, die aufgrund der fehlenden Preisbindung Bücher zu erheblich besseren Konditionen als die Konkurrenz anbieten können. Auf 10.000 Einwohner kamen in Polen statistisch gesehen 0,47 Buchhandlungen, während es in Deutschland 0,73 und in Frankreich 0,76 sind. Viele Buchhandlungen sind vom Verkauf von Schulbüchern abhängig, der wiederum von der Bildungspolitik der jeweiligen Regierung beeinflusst wird: Seit 2014 stehen wichtige Schulbücher kostenlos digital zur Verfügung, wodurch der Buchhandel große Umsatzrückgänge erlitt. In einigen Großstädten existieren unabhängige Literatur-Buchhandlungen, allerdings teilweise nur durch indirekte Subventionen, etwa durch Vorzugsmieten in kommunalen Gebäuden. Große Bedeutung hat der Buchverkauf über das Internet. Bibliotheken sind zwar ein wichtiger Bestandteil der Politik der Leseförderung, dienen aber nur einem vergleichsweise kleinem Teil der Bevölkerung zur Versorgung mit Literatur.

Literaturpolitik unter der PiS-Regierung

Am 24. Oktober 2019 erklärte Staatspräsident Andrzej Duda bei der Verleihung von Auszeichnungen: »Die Kulturschaffenden sind ein ungemein wichtiger Bestandteil einer jeden Nation, eines jeden Staates. Besondere Würdigung verdienen jene, die patriotische Handlungsmuster verherrlichen.« Dieses Zitat verdeutlicht, worum es der Kulturpolitik und im engeren Sinne der Literaturpolitik der PiS seit ihrem Regierungsantritt 2015 geht: War die Zeit nach 1990 eine Abkehr von den romantischen Traditionen und nationalen Narrativen gewesen, so kehren diese nunmehr vehement zurück. Allerdings nur für einen Teil der Gesellschaft. Es ist nämlich bezeichnend, wie Leser des Krimiautors Marek Krajewski (Breslau/Wrocław) reagierten, als dieser an besagtem Oktobertag von Präsident Duda eine Medaille erhielt: »Ich kenne einige Personen, die sich trotz unstrittiger Verdienste entschieden haben, keine Auszeichnungen aus den Händen eines Präsidenten entgegenzunehmen, der gedankenlos Verfassungsbrüche zulässt. Schade …« Oder: »Tut mir leid, aber solange Sie sie [die Medaille] nicht zurückgeben, werde ich keines Ihrer Bücher kaufen oder lesen. Es gibt Grenzen, die man nicht überschreitet.«

Aus Worten wie diesen spricht die große Spaltung der Kulturlandschaft – wie auch der gesamten Gesellschaft – in Polen. Die PiS hatte die Regierung 2015 mit der These angetreten, dass sich weite Bereiche des öffentlichen Lebens in den Händen eines liberalen oder auch linken Meinungskartells befänden, das sich durch eine »Pädagogik der Scham« diskreditiert habe. Der nationalkonservative Diskurs, der sich aufgefordert sah, aus einer Position ständiger Diskriminierung durch den »Mainstream« heraus agieren zu müssen, ließ die Kulturpolitik unter dem neu eingesetzten Kulturminister Piotr Gliński rasch reagieren (vgl. Polen-Analyse Nr. 219). Im Rückblick, aber auch auf die Zukunft vorausschauend, sagte er Anfang Oktober 2019, kurz vor den Parlamentswahlen: »Gruppen, die an der Macht waren, die ihre Interessen verwirklicht haben und viele Jahre lang in einem Gebiet dominierten, führen dazu, dass eine Oligarchie entsteht (…), die Veränderung und Mobilität verhindert, diese Elite sollte sich verändern.«

Mit einem drastisch angehobenen Kulturetat war die PiS-Kulturpolitik tatsächlich bestrebt, jene linksliberale »Oligarchie« zu brechen. Sie gründete neue Institutionen oder rückte bislang marginalisierte Initiativen ins Zentrum. Handlungsleitend war die Überzeugung, eine zersplitterte, regionalisierte, heterogene Kulturlandschaft mehr oder weniger autoritär von oben, aus der »Zentrale« des Landes, neu ordnen und neu justieren zu müssen. Die in vielen Fällen rabiat durchgeführte Übernahme national und international geschätzter Einrichtungen und der teils weitreichende Austausch anerkannter Mitarbeiter hat viel Porzellan zerschlagen und zudem bei einem Teil der kulturellen Szene den Eindruck verfestigt, nun habe die Stunde der zweit- und drittrangigen Künstler, Wissenschaftler und Organisatoren geschlagen. Aus dem Munde des Regierungslagers klingt das natürlich ganz anders. PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński erklärte bei einer Wahlveranstaltung im Februar 2019: »Wenn man den Sinn des ›guten Wandels‹ knapp beschreiben möchte, so ist dieser Sinn die Verteidigung all dessen, was unser Recht ist, was aus unserer polnischen Kultur, aus der polnischen Tradition, aber auch aus dieser [polnischen] Zivilisation hervorgeht.«

Dieses Bild von Polen als kulturellem Monolith hatte auf dem Gebiet der Literatur zahlreiche Konsequenzen. Zum Beispiel bei dem in Krakau ansässigen Buch-Institut (Instytut Książki), das – mit erheblichen Mitteln ausgestattet – seit 2004 unter anderem die Förderung polnischer Literatur im Ausland unterstützte und dessen Tätigkeit weltweit Anerkennung fand. Die komplette Leitung des Instituts wurde kurz nach dem Regierungsantritt der PiS ausgetauscht. Neuer Direktor wurde Dariusz Jaworski, ein gemäßigt konservativer, katholischer Publizist, und sein Stellvertreter der zum konservativen Milieu zählende Krzysztof Koehler, der mit religiös grundierter Lyrik und einer Begeisterung für den adlig-sarmatischen Mythos literarisch auf sich aufmerksam gemacht hatte. Das Buch-Institut fördert literarische Events in Polen, bezuschusst eine Reihe von Kulturzeitschriften und ist im Ausland für sein Übersetzungsförderungsprogramm bekannt. Auf allen Gebieten versuchte es nach dem Wechsel eine Schwerpunktverschiebung. So wurde wichtigen linken oder liberalen Kulturzeitschriften die Förderung gestrichen, während konservative oder katholische Periodika bevorzugt wurden. Bei den Übersetzungen in Fremdsprachen versuchte man, die Akzente ähnlich zu verschieben. Doch während dies in den jährlich veröffentlichten Übersetzungsvorschlägen für den ausländischen Markt gelang, wo Werke konservativer und katholischer Historiker oder Schriftsteller einen auffällig hohen Anteil ausmachen, stellt sich die tatsächliche Förderpraxis anders dar – das Interesse der ausländischen Verlage konzentriert sich nach wie vor auf »progessive« Autoren wie Olga Tokarczuk oder Szczepan Twardoch. Damit ist der anfängliche Versuch, die Literaturlandschaft grundlegend neu zu denken und die bisherigen literarischen Meinungsführer abzulösen, einem konservativen Pragmatismus gewichen.

Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass der Staat deutlicher als bisher etwas gegen den Abwärtstrend beim Leseverhalten und bei Buchverkäufen tun müsse. Anders als die Vorgängerregierungen setzt die PiS hier stärker auf zentrale Initiativen. So wurde im September 2018 der »Erste Internationale Kongress der Zeitgenössischen Polnischen Literatur« einberufen, eine neue Großveranstaltung von Autoren, Übersetzern und Wissenschaftlern, die künftig alle drei Jahre stattfinden soll. Deren Initiator Józef Maria Ruszar erklärte zur Eröffnung: »Es gibt die dringende Notwendigkeit, die literarische Bildung der Gesellschaft zu stärken.«

Ausgehend von dieser Beobachtung, gründete das Kulturministerium Anfang 2019 eine weitere zentrale Institution, das ebenfalls in Krakau angesiedelte Literatur-Institut (Instytut Literatury), mit dessen Leitung niemand anderes als der Zbigniew Herbert-Verehrer Józef Maria Ruszar betraut wurde. Ziel der neuen Einrichtung ist es laut Eigenaussage, »gehaltvolle literarische Werke« zu fördern und »der Kommerzialisierung von Literatur entgegenzuwirken«. Unter anderem gibt das Institut eine neue Literaturzeitschrift (Nowy Napis), zeitgenössische Lyrik sowie literaturwissenschaftliche Arbeiten heraus. Kritiker befürchten, dass unter der hierdurch implizierten Verschiebung von Mitteln und Aufmerksamkeit regionale und alternative literarisch-kulturelle Initiativen leiden werden.

Ein weiterer Schritt war die Rettung des traditionsreichen Verlags Państwowy Instytut Wydawniczy (PIW), der nach der Systemtransformation lange in Schwierigkeiten gesteckt hatte und kurz vor der Schließung stand und seit 2017 als »staatliche Kultureinrichtung« direkt dem Kulturministerium untersteht. Vielleicht nicht ganz zufällig sind hier jüngst in einer opulenten Ausstattung die gesammelten Gedichte von Krzysztof Koehler erschienen.

Zu den zentralstaatlichen Initiativen der Literaturpolitik gehört außerdem, dass Gedenkjahre für verdiente polnische Schriftsteller (sowie andere »verdiente Polen«) ausgerufen werden. Im Rahmen dieser Gedenkjahre werden für Veranstaltungen von staatlichen Stellen besondere finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt. So wurde – schon zum zweiten Mal seit 2008 – das Jahr 2018 zum Herbert-Jahr erklärt. In dem vom Sejm verabschiedeten Beschlussantrag hieß es: »In einer Epoche der Wertekrise und des tiefen Zweifels stand Zbigniew Herbert stets auf der Seite der Prinzipien: in der Kunst auf der Seite des Kanons des Schönen, der Hierarchie und des Handwerks, im Leben auf der Seite der ethischen Kodexe, die die Begriffe Gut und Böse klar unterscheiden.« 2019 folgte u. a. das Gustaw Herling-Grudziński-Jahr. In der Begründung hieß es wieder, dass der Autor, der jahrzehntelang im Exil gelebt hatte, »eine Zeit der totalitären Gewalt und der Wertekrise« durchlebt habe. 2020 wird an den rebellischen Schriftsteller Leopold Tyrmand erinnert, einen prinzipienfesten und – wie es im Sejm-Beschluss heißt – »gnadenlosen Gegner des Kommunismus«. Neben Tyrmand wird übrigens auch an zwei andere Personen aus dem weiter verstandenen literarischen Umfeld erinnert, an den Philosophen Roman Ingarden und den nicht zuletzt als Lyriker hervorgetretenen Johannes Paul II.

Auch die – wenn man es so formulieren möchte – Außenliteraturpolitik der PiS versuchte neue Akzente zu setzen. In den meisten der 25 Polnischen Institute (Instytut Polski) im Ausland wurden die Leitungen ausgetauscht und in vielen Fällen mit dezidiert (national-) konservativen Personen besetzt, was teils zu neuen Schwerpunktsetzungen führte und zu der vehement vertretenen Position, die Institute hätten für »den guten Namen Polens in der Welt« zu kämpfen. Manche PiS-kritische Autorinnen und Autoren wurden nun nicht mehr eingeladen, während bislang eher marginalisierte Schriftsteller, die dem konservativen, katholischen oder rechten Milieu zuzurechnen sind, bevorzugt wurden. Aber auch hier ist der anfängliche Eifer, der PiS-Parteilinie möglichst eng zu folgen, langsam einer pragmatischeren Linie gewichen.

Ebenfalls weit kommentiert wurden die neuen Lektürelisten, die unter der PiS-Regierung ausgearbeitet wurden. Über Änderungen am schulischen Literaturkanon war bereits während der ersten PiS-geführten Regierung 2005 bis 2007 intensiv diskutiert worden. Nun begannen die Diskussionen erneut, als 2017 die Listen überarbeitet wurden (sie sollten ab 2019 im Unterricht eingeführt werden). Der Verlauf der Debatten war typisch für die polarisierte Öffentlichkeit und die Probleme der Medienlandschaft in Polen – ungenau recherchierte Informationen, die aber dem jeweiligen Lager gut in seine Argumentation zu passen schienen, gelangten durch weithin rezipierte Internetmedien rasch in Umlauf und heizten die Polarisierung weiter an. Nachdem Vermutungen, Czesław Miłosz würde aus der Liste herausfallen, widerlegt worden waren, schlug im August 2017 die kämpferisch linksliberale Internetzeitung oko.press Alarm: »Aus dem Lehrplan für das Fach Polnisch verschwinden (…) der mythologische Schulz, der symbolische Conrad (…). Mit Witkiewicz oder Bulgakow verschwinden das Absurde und die dunkle Ironie. Stattdessen eine Menge alter Kram mit dem christlichen Polen in der Hauptrolle.« Dieser von zahlreichen Medien aufgegriffene Artikel war jedoch nur die halbe Wahrheit: Bruno Schulz rutschte in die Liste ergänzender Lektüre, ein Roman von Joseph Conrad war gegen einen anderen ausgetauscht worden, Gombrowicz blieb, wenn auch nur in Auszügen … Allerdings kam Wojciech Wencel, ein ausgesprochener Lieblingsdichter der Rechten, hinzu, und ein anderer, Jarosław Marek Rymkiewicz, blieb. Die katholische Wochenzeitung Gość Niedzielny kommentierte: »(…) die Auseinandersetzung um die Lektüreliste ist tatsächlich ein Streit über die Vision von Polen. Es wäre aber gut, wenn er sich auf Fakten stützen würde, nicht auf das Prinzip ›copy & paste‹.« Zwar eignen sich Lektürelisten trefflich für ideologische Auseinandersetzungen, doch ihre Rolle für die literarische (und politische) Bildung der meisten Schülerinnen und Schüler ist umstritten. Als bei einer der triumphalen Großveranstaltungen mit Olga Tokarczuk nach dem Bekanntwerden der Nobelpreisentscheidung ein junger Zuhörer in Krakau fragte, welches ihrer Bücher zur Schullektüre werden solle, antwortete sie: »Keines. Ich erinnere mich aus der Schulzeit daran, was die Schullektüre aus Büchern macht.«

Letztlich ist die Literaturpolitik der PiS ambivalent. Viele Hoffnungen sind von der Realität gestutzt worden, aber der Wunsch, das literarische Leben prinzipiell hierarchisch und zentral zu organisieren, ist geblieben. Bezeichnend ist eine Aussage von Olga Tokarczuk: »Im Handeln von Minister Gliński verwundert mich von Anfang an der naive Glaube daran, dass man die Kultur in den heutigen Zeiten mit der Hand steuern kann: Hier streicheln und salben, dort anordnen und verbieten.« Gerade das Beispiel Tokarczuk zeigt, dass Literatur nicht dank, sondern trotz staatlicher Politik Erfolg haben kann.

Der Nobelpreis für Olga Tokarczuk

Polen hatte bereits vier bzw. fünf Nobelpreisträger für Literatur, und es schien wenig wahrscheinlich, dass bald noch ein weiterer hinzukommen würde, nach Henryk Sienkiewicz (1905), Władysław Reymont (1924), Czesław Miłosz (1980) und Wisława Szymborska (1996), zu denen manchmal noch der in Polen aufgewachsene Isaac Bashevis Singer (1978) hinzugezählt wird. Doch dann klingelte ihr Telefon und meldete sich Stockholm, als Olga Tokarczuk am 10. Oktober 2019 auf der Autobahn von Potsdam nach Bielefeld fuhr. Die Nachricht von der Verleihung des Literaturnobelpreises versetzte einen Teil Polens in Begeisterung, den anderen in eine gewisse Konsternation. Denn Tokarczuk ist eine immens politische Autorin, an der sich, wie man so schön sagt, »die Geister scheiden«. Und sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie Literatur in einem Land trotz sich dramatisch wandelnder Lesegewohnheiten eine eminent politische Wirkung haben kann.

Die Regierungsvertreter reagierten verhalten. Der Staatspräsident sprach von einem »großen Tag für die polnische Literatur«, der Finanzminister erließ ihr die auf das Preisgeld anfallende Steuer, Kulturminister Piotr Gliński erklärte zweideutig, er wolle die Preisverleihung zum Anlass nehmen, ihre Bücher endlich fertigzulesen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki freute sich auf eine ganz bezeichnende Art und Weise. In einer offiziellen Erklärung ließ es dem staatlichen Fernsehsender zufolge verlauten: »Eine hervorragende Nachricht für Polen. Mich freuen alle Preise für Polen, und als Pole bin ich stolz darauf, wenn jemand den Namen Polens auf der ganzen Welt bekannt macht. Polen hat eine großartige Literatur, eine großartige Lyrik. Wir können sehr glücklich sein – auf der ganzen Welt zeigen wir, wie hoch das Niveau der polnischen Literatur ist.«

Olga Tokarczuk zu beglückwünschen, ohne ihren Namen in den Mund zu nehmen oder ihre individuellen Verdienste zu würdigen, ist der Versuch, Interesse zu demonstrieren, in Wirklichkeit aber größtmögliche Distanz zu der unbequemen Autorin zu wahren.

Das Bild, das sich auf der Frankfurter Buchmesse wenige Tage nach der Bekanntgabe des Nobelpreises bot, war ambivalent. An dem vom polnischen Buch-Institut organisierten Gemeinschaftsstand schaute Olga Tokarczuk zumindest offiziell nicht vorbei, während sie bei ihrem Schweizer Verlag gefeiert wurde. Schnell standen Vorwürfe im Raum, die rechte Kulturpolitik habe die Autorin bewusst ausgegrenzt. Das Buch-Institut hingegen erklärte, die Schriftstellerin habe verschiedene Einladungen an den Stand oder zu einem Bankett mit ihr ausgeschlagen. Sein stellvertretender Direktor Krzysztof Koehler meinte, der Nobelpreis sei »zu einer weiteren Waffe des ›Kulturkrieges‹ geworden, von dem die Nobelpreisträgerin in Deutschland gesprochen hat«. Tatsächlich hatte Olga Tokarczuk auf der Eröffnungs-Pressekonferenz der Buchmesse von »einer Art Kulturkrieg« in Polen berichtet und Bemühungen der Regierung angeprangert, die Kontrolle über Kultureinrichtungen zu erlangen. Dem hielt das Buch-Institut entgegen, allein seit 2016 die Übersetzung von ihren Büchern in andere Sprachen mit mehr als 160.000 Euro gefördert zu haben.

Wie dem auch sei – es ist nicht verwunderlich, dass PiS-nahe Kreise äußerst zurückhaltend auf die Kunde aus Stockholm reagierten. Denn Olga Tokarczuk mischt sich immer wieder in die politischen und gesellschaftlichen Debatten ein. Dabei verfolgt sie mehrere Themen, etwa indem sie sich kritisch zum monolithischen Nationalstaatskonzept der Rechten äußert. Auch bei ihrem Messeauftritt in Frankfurt ging sie darauf ein: »Polen ist aus einer Verflechtung unterschiedlichster Kulturen entstanden«, sagte sie hier. In ihren Texten, die sich auf ihre niederschlesische Heimat im engeren Sinne beziehen, aber auch in ihrem großen historischen Roman »Die Jakobsbücher« spannt sie einen breiten Bogen ethnischer, konfessioneller und kultureller Differenz auf. Deren Leugnung oder Marginalisierung kritisiert sie heftig. Über ihr Buch sagte sie kurz nach dem Erscheinen in Polen vor einigen Jahren, dass es die polnischen Mythen von historischer Toleranz und Weltoffenheit hinterfrage: »Man muss sich der eigenen Geschichte stellen und versuchen, sie ein wenig neu zu schreiben, ohne alle die schrecklichen Dinge zu verbergen, die wir getan haben, als Kolonisatoren, nationale Mehrheit, die eine Minderheit verfolgt hat, als Sklavenbesitzer oder Judenmörder«.

Die Empörung über diese Äußerung war vorprogrammiert, sie überstieg allerdings das Maß des Erträglichen: Es handele sich um einen »Angriff auf die polnische Geschichte«, die staatsanwaltlich verfolgt werden müsste, hieß es in einem rechten Medium, und sie wolle mit derlei Provokationen nur Geld verdienen; in den Kommentarspalten des Internets schlugen außerdem die nationalistischen Wellen hoch: Sie solle Polen verlassen, hieß es, man müsse sie deportieren, ihr arabische Flüchtlinge auf den Hals jagen … Und jüngst, nachdem die Autorin bei ihrer Lesereise in Deutschland vom Nobelpreis erfuhr, lautete ein Kommentar auf einem vielgelesenen Online-Portal: »Nun, da haben die Deutschen eine neue Heldin mit einem nunmehr schon weltumspannenden Ruhm, die sich die Lippen nicht verschließen lässt, Mut hat und auf den Putz haut, zum Frust des polnischen Regimes. Sie heißt Olga Tokarczuk. Eine neue Verkörperung von Czesław Miłosz, auch Nobelpreisträger, der auch die Opposition unterstützte, und der, da er deshalb nicht im eigenen Land leben konnte, emigrierte. Wird die Schriftstellerin Tokarczuk ebenfalls emigrieren …?«

Die Frauenrechte liegen Olga Tokarczuk in besonderem Maße am Herzen. Nach den jüngsten Parlamentswahlen erklärte sie: »Für mich ist die Frauenfrage wichtig. Eine Gesellschaft, die Frauen unterdrückt, die keine freie Wahl zulässt, ist eine kranke Gesellschaft.« Auch Umweltschutz und Tierschutz sind ihr ein Anliegen, das sie zum Beispiel in ihrem Roman »Der Gesang der Fledermäuse« (2009) thematisiert hat.

Insofern hätte das Nobelpreis-Komitee, das explizit politische Preisvergaben angekündigt hatte, kaum eine bessere Wahl treffen können. Die Zeit wird zeigen, ob sich die nationalkonservative Hälfte der polnischen Gesellschaft mit einer Autorin arrangieren kann, die ihr Land so konsequent gegen den Strich bürstet.

Fazit

Literatur ist in Polen oft politisch. Nicht immer agieren Autorinnen und Autoren aktiv in einem politischen Umfeld, manchmal werden sie oder ihre Bücher auch zum Politikum gemacht. Die PiS-Kulturpolitik hat es bislang nur partiell vermocht, die Akzente auf dem literarischen Markt zu verschieben. Leseinteressen im Inland wie im Ausland stehen den Eingriffen der politischen Zentrale entgegen. Damit wiederholt sich ein Muster, das auch in anderen Bereichen der Kulturpolitik zu beobachten ist: So haben die seit 2015 immer wieder angekündigten großen nationalen Filmproduktionen mit Heldenepen und Opfermythen bislang kaum jemanden interessiert. Auf dem Gebiet des Theaters sind es nach wie vor die großen kontroversen Regisseure, Autorinnen und Autoren, die im Inland wie im Ausland reüssieren, während die Versuche der PiS, missliebige Intendanten zu ersetzen, mehrfach zu katastrophalen Ergebnissen geführt haben. Zwar lassen sich national-konservative Kulturschaffende mit erheblichen Finanztransfers aufpäppeln und eine alternative Kulturlandschaft subventionieren, doch Qualität entsteht eben nicht allein durch Geld und politische Zuwendung. Das ist ein Zeichen der Hoffnung: Literatur konnte bisher noch jeden Mythos dekonstruieren, auch jenen von der Notwendigkeit einer autoritären, zentralistischen Kulturpolitik.

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