Interview mit Olga Tokarczuk von Dorota Wodecka in: Gazeta Wyborcza vom 10. Oktober 2015
[Auszug]
Dorota Wodecka: »›Die Jakobsbücher‹« sind eine Metapher dafür, was sich heute vor den Toren Europas abspielt«, sagten Sie, als Sie den Nike [polnischer Literaturpreis, Anm.d.Übers.] entgegennahmen.
Olga Tokarczuk: Weil sie uns tatsächlich daran erinnern, wie schwierig der Assimilationsprozess ist, welche Kosten die Ankömmlinge tragen, wie schwierig es ist, sich »durchzubeißen«. Sie sprechen aber auch davon, dass es keine ethnisch reinen Gesellschaften gibt, keine Nationen mit eignen Genen, und dass das, was verbindet, die Sprache, die Kultur, die Gemeinschaft und die Solidarität sind.
Ein Jahr nach Erscheinen des Romans mit dieser Botschaft entstehen an den Grenzen Mitteleuropas Stacheldrahtbarrieren.
Es lag seit einiger Zeit etwas in der Luft. Polen ist ein Land, das so auf der Landkarte platziert ist, dass es nicht möglich ist, sich gegenüber der Welt zu verschließen. Die Offenheit ist unser Karma, wir sind eine Mischung, ein mitteleuropäischer Tiegel, ob es uns gefällt oder nicht. Die Situation, in der wir uns nach dem Trauma des Zweiten Weltkrieges wiederfanden, als wir während der Jahre des Kommunismus abgeschottet dasaßen, überempfindlich, abweisend gegenüber anderen, krankhaft nach Homogenität strebend, war nicht normal.
Warum?
Sie war ein Auswuchs des gesellschaftlichen Systems, das versuchte, die Menschen vom Rest der Welt abzuschneiden, zu fesseln, ihnen die Pässe abzunehmen und vor Ort zu kontrollieren. Paradox ist es, dass die Träume der Nationalisten von einem ethnisch einheitlichen Polen die Kommunisten erfüllten. Heute gehören wir zur Welt und die Welt ist dynamisch. In ihr zu sein, bedeutet, an den Veränderungen teilzunehmen, ohne unbedingt die eigene Identität aufzugeben. Möglicherweise müssen heute Religion und ethnische Herkunft als Privatsache oder sogar etwas sehr Persönliches behandelt werden. Sie in diese Sphäre zu verlegen, ist unvermeidlich aufgrund der Gestalt der zeitgenössischen Welt, deren enorme Ausdifferenziertheit, abscheuliche Geschichte von Konflikten und Kriegen, aber auch beständiges Aggressionsniveau ein ewiger Konfliktherd sind.
Nebenbei bemerkt, als wir im Januar sprachen, sagten Sie, Sie spüren, dass die Welt einen Krieg erwartet.
Dieser Krieg ist bereits im Gange, bei Luftangriffen sterben Zivilisten, wir sehen die allerwirklichste Völkerwanderung.
Und auf den Straßen die Sprache des Hasses, eingeschlagene Scheiben in Kebab-Schnellrestaurants und »fick den Araber«-Parolen wie zum Beispiel in Breslau [Wrocław], wo Sie wohnen.
Dieser manifestierte Hass geht einher mit innerem Unfrieden und Ignoranz. Ich mache dafür auch die Schwäche des Bildungssystems verantwortlich, der Schulen, die schrittweise Übergabe der Erziehung an die nicht immer erzieherisch funktionsfähige Familie und an den Teil der Kirche, der sich an die schlimmsten fremdenfeindlichen Traditionen hält. Deutlich ist auch, wie der Zynismus der Politiker und ihr gieriges Machtstreben diese Stimmungen speist. Als aber in den Medien eine Informationskampagne startete, fiel die Abneigung gegenüber Flüchtlingen um zehn Prozent, fast augenblicklich. Ich schäme mich für die hasserfüllten Aufmärsche. Ich mache der Politik Vorwürfe, dass sie nicht auf die braunen Märsche reagiert, auf die Sprache des Hasses und die rassistischen Slogans. Insbesondere in Breslau. Mir fehlt auf dem Rathaus ein Transparent »Breslauer, ihr alle seid Kinder und Enkel von Flüchtlingen«.
Wie ist das möglich, dass wir in einem Land, in dem der Holocaust stattfand, so grausame Narrative haben?
Wir haben unsere Lektion nicht gelernt, das wird jetzt ganz deutlich. Wir haben die Pogrome der Kriegszeit und im Anschluss daran unter den Teppich gekehrt, wir haben die eigene Schuld verdrängt, wir begannen, uns beruhigende Geschichten über ein tolerantes Polen auszudenken, über ein schönes multikulturelles Miteinander in den polnischen Ostgebieten [kresy]. Wir singen uns diese Wiegenlieder seit einigen Jahrzehnten vor – und nun, welch schreckliches Erwachen, zeigt sich, dass all das wahr ist: Wir sind rassistische Fremdenfeinde. Ich bin in der Lage mir vorzustellen, wenn ich diese »Heil« schreienden jungen Männer in Breslau sehe, dass die verbale Gewalt leicht in konkrete Gewalt umgewandelt werden kann. Obwohl ich es lieber hätte, wenn das meine überbordende schriftstellerische Vorstellungskraft wäre.
Sie marschieren nicht nur in Polen.
Die Abneigung ganz Mitteleuropas gegenüber Neuankömmlingen zeigt den mentalen Abgrund zwischen dem alten und dem neuen Europa, der größer ist als das Bruttoinlandseinkommen pro Kopf. Wir sehen zwar ähnlich aus, fahren ähnliche Autos, aber unsere Köpfe sind unterschiedlich möbliert. Wir haben unser Selbst auf dem Gefühl des Unrechts aufgebaut und uns damit einhergehend eine Anspruchshaltung angewöhnt. Wir sagen Europa: »Seht her, wie wir während des Krieges gelitten haben, in welcher Not wir unter der sowjetischen Besatzung steckten. Wir haben gelitten, während ihr euren Reichtum aufgebaut habt. Jetzt haben wir das moralische Recht auf Entschädigung. Uns gebühren euer Mitgefühl und eure Hilfe.« Wir können uns nicht mit dem Gedanken abfinden, dass irgendwelche Flüchtlinge unseren Platz derjenigen einnehmen, die fortwährend Hilfe brauchen. Ein solches Denken bedeutet, dass wir nicht erwachsen geworden sind, das wir nicht wissen, wie man stark wird.
Eine ethnisch reine Nation, die sich zu einer einzigen Religion bekennt, gibt ein Gefühl der Sicherheit. Der »Pole-Katholik« ist ja doch eine gewisse Garantie der Identität.
Das stimmt, aber eine »ethnisch reine Nation« ist ein Phantasma, ein Hirngespinst. Was würde das bedeuten? Nation ist eine psychologische Kategorie, eine gewisse Art gemeinsamer Mentalität, entstanden über Jahrhunderte aus Ängsten, Obsessionen, Hoffnungen und Erwartungen. Es ist auch ein Gefühl der Gemeinschaft, des sich Verstehens, aber auch automatische, kollektive, unreflektierte Reaktionen auf bestimmte Situationen, der Zwang der Wiederholung und eine Besessenheit, die als absolut natürlich und selbstverständlich erscheint. Die Nation ist nicht einmal eine Interessengemeinschaft. Vielleicht ist die fehlende Rationalität der Polen verwunderlich, der Mangel an gewöhnlichem Pragmatismus, das fehlende Denken an die Zukunft – in der fremdenfeindlichen Wut denken wir nicht daran, dass wir die Neuankömmlinge brauchen, ihre Energie, Jugend, Ausbildung, Arbeit. Es sieht so aus, dass wir uns wider besseres Wissen die Finger verbrennen.
Zum Trotz oder aus Angst.
Fremdheit und Andersartigkeit werden meistens mit einer potentiell gefährlichen Veränderung des Status quo assoziiert. Es ist keineswegs merkwürdig, dass alle konservativen Kräfte gegen Flüchtlinge sind. Wenn politische Einstellungen irgendwie etwas mit Psychologie zu tun haben, dann ist die Grundlage des konservativen Denkens die Angst. Der Konservative geht davon aus, dass die Menschen eher schlecht als gut sind und nur die äußeren Bedingungen, Verbote, Anordnungen und Gesetze, dazu gehört auch die Kraft der Tradition, in der Lage sind, den Menschen in einer moralischen Ordnung zu halten. Ein politisch links eingestellter Mensch meint, dass der Mensch im Grunde gut ist, dass man ihn eigentlich nicht stören solle und ihm dann Flügel wachsen würden. Eher vertrauen, unterstützen, mitfühlen und erlauben, frei zu sein. In diesem Sinne diskutiert fast die gesamte Literatur nicht mit dem rechten Lager, das wäre langweilig und banal; die Diskussion bezieht sich eher eben auf die wunderbar optimistische Philosophie der Linken, zum Beispiel wie ist es möglich, dass der Mensch gut ist und es dennoch zum Holocaust, zur Tragödie in Ruanda und Jugoslawien kam. Wie ist es möglich, dass vorbildliche Bürger, Lehrer, Friseurinnen, Jurastudentinnen, Familienväter plötzlich den »Araber ficken« wollen und fordern, »Islamisten« an der Laterne aufzuhängen? Wir brauchen eine tiefgehende nationale Anti-Angst-Therapie. In einem gewissen Sinne hat Johannes Paul II. das gespürt, als er den Polen zurief: »Fürchtet euch nicht!«
Und wer soll die Therapie übernehmen? Die Schriftsteller? Das Theater? Der Staat? Oder vielleicht die Kirche?
Sowohl die Kirche als auch der Staat als auch die Medien. Seminare für die Zivilgesellschaft, Schulbücher, Kinderfilme, die mit Andersartigkeit vertraut machen, eine bestimmte Art von Spielen, Erzählungen, Fernsehserien, in die kleine erzieherische Inhalte eingeflochten werden. Das wird ja überall auf der Welt so gemacht. Im Übrigen übernimmt auch die Popkultur seit einiger Zeit diese Atmosphäre, wenn auch indirekt. Manchmal entwickelt sie auch starke Metaphern. Das Thema des Zusammentreffens mit dem Fremden begleitet uns seit Jahren. Filme wie »Distrikt 9« als reiner Science-Fiction-Film oder – ganz im Gegenteil – der intime, psychologische Film »Let Me In« erzählen auf intelligente Weise davon, dass bei einem Treffen mit dem Anderen der Mut notwendig ist, sich mit sich selbst zu messen, mit seinen Ängsten, seinen Vorurteilen, also dass vom Menschen eine gewisse Intelligenz, Wissen und Empfindsamkeit verlangt werden. Schaut man auf die Reaktionen vieler Polen auf »die Islamisten«, kann man den Eindruck erhalten, dass das eher ein Treffen mit Außerirdischen wird als mit Menschen. Vielleicht sollte man solche Filme der Jugend im Unterricht zeigen und darüber sprechen?
»Jeder Neuankömmling, der in eine Mehrheitsgesellschaft kommt, muss auf einen Teil seiner bisherigen Identität verzichten, es geht um die Normen, die im Widerspruch zu den Normen des Hausherren stehen« – das sind Ihre Worte.
Und es gibt Länder, in denen das glückt. Ich habe ein Jahr in Berlin-Kreuzberg gelebt und dies an eigener Haut erfahren. Türken, die Türken geblieben sind, sind gleichzeitig Deutsche geworden. Einmal habe ich während eines Fußballspiels gesehen, wie in einer Kneipe deutsche Türken die deutsche Mannschaft anfeuerten und Schlachtrufe von der unzweifelhaften Größe Deutschlands sangen. Und plötzlich wurde die Kneipe von blonden deutschen Anarchisten attackiert, die diesen Türken rassistischen deutschen Nazismus vorwarfen. Das ist eine absolut paradoxe Szene, die zeigt, dass sich in der Zukunft viele Situationen uneindeutig gestalten können. Die alten Einteilungen werden verschwinden und neue auftauchen. In allen diesen Ländern, wo das Zusammenleben verschiedener Ethnien passabel ist, hat eine große Arbeit der Medien, Schulen, Kultur- und Kunstschaffenden stattgefunden. Die gigantische Informations- und Bildungsarbeit errichtet bestimmte Moden und Verhaltensnormen. Das ist in jedem amerikanischen und französischen Film zu sehen, das ist in Videoclips und in der Werbung zu sehen. Das ist auch die richtig verstandene politische Korrektheit, die keine Hasssprache und kein diskriminierendes Verhalten erlaubt. Die Polen sehen oft mit Begeisterung auf die USA – bitte, dann sollen sie von den Amerikanern lernen!
Ich weiß, wie das klingt, aber ich frage trotzdem: Glauben Sie, dass Sie als Schriftstellerin eine »gesellschaftliche Pflicht« haben, darüber zu sprechen?
Ich spreche und die Menschen hören mich, sie assoziieren, wer ich bin, sie haben meine Bücher gelesen – das verpflichtet dazu, keine Dummheiten zu reden und mich zu bemühen, meine Stimme für das Gute, für das Nützliche einzusetzen.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Quelle: Gazeta Wyborcza. http://wyborcza.pl/1,75410,18999849,olga-tokarczuk-laureatka-nike-2015-ludzie-nie-bojcie-sie.html
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