Soziale Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit als zentrale Themen des ökonomischen Wandels
Soziale Gerechtigkeit und soziale Ungleichheiten sind spätestens seit der globalen Finanzkrise in den Jahren 2008/2009 weltweit wieder ein zentrales Thema politischer Auseinandersetzungen und sozioökonomischer Reformdebatten. Das seit den späten 1970er Jahren dominante neoliberale Wirtschaftsmodell der westlichen Welt, das sich angesichts hoher Inflationsraten und steigender Arbeitslosigkeit vom Keynesianismus und der Nachfragesteuerung abwandte und seinerseits auf Deregulierung, Privatisierung und die Kräfte des Marktes setzte – wie es der britische Politologe Colin Crouch treffend analysiert hat –, wird nun wieder stärker hinterfragt. Die Popularität des vom französischen Ökonomen Thomas Piketty 2013 veröffentlichen Buches Le capital au XXIe siècle (unter dem Titel »Das Kapital im 21. Jahrhundert« 2014 auf Deutsch erschienen), in dem er die Verteilung von Wohlstand und Ungleichheiten in 20 Ländern untersucht, unterstrich die wachsende Aktualität des Themas. Nicht mehr allein der Markt, sondern auch Staat und Gesellschaft sind wieder vermehrt aufgefordert, soziale Gerechtigkeit herzustellen.
Die globalen ökonomischen Entwicklungen haben spätestens mit dem Revolutionsjahr 1989 auch den bis dato sozialistischen Osten Europas erreicht. Da angesichts des »Endes der Geschichte« (Francis Fukuyama) die Frage nach Demokratie und Marktwirtschaft einerseits respektive autoritär-totalitärem Regierungsmodell und Planwirtschaft andererseits zugunsten des ersten Modells beantwortet schien, war die doppelte Transformation, das heißt die gleichzeitige Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie in den postsozialistischen Ländern die logische Konsequenz einer vermeintlich globalen Entwicklung. Dieses Szenario sah zwar mögliche sozioökonomische Verwerfungen durch die Härten der Privatisierung (Massenarbeitslosigkeit, wachsende soziale Ungleichheit) vor und auch der Rückfall in autoritäre Strukturen, wie sie gerade im postsowjetischen Raum zu beobachten sind, wurde von Sozialwissenschaftlern ins Auge gefasst. Aber die Folgen einer dritten, zunächst wenig beachteten nationalen Transformation (Prozesse des Nation-building in jungen Staaten wie der Ukraine oder Belarus und nationales Erwachen durch wiedergewonnene Souveränität in anderen postsozialistischen Staaten) wie Populismus, Xenophobie und wachsende Skepsis gegenüber dem westlichen Modell, eine Skepsis, die insbesondere durch die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten und Transnationalisierungsprozesse befördert wurde, standen nicht im Fokus der Transformationsforscher. Während die Demokratisierung der sozialistischen Systeme über Verfassungsnovellen beziehungsweise Verfassungsneuschöpfungen noch relativ schnell und unkritisch abgeschlossen werden konnte – obgleich die Schaffung neuer Verfassungen oft heftige normative Debatten wie in Polen 1997 oder in Ungarn 2011 hervorrief –, wurde die ökonomische Transformation von Beginn an kritisch begleitet und rief soziale und politische Spannungen hervor. Zwar unterstrichen im Mai 2019 in einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CBOS in Polen 81 Prozent, dass sich der Systemwandel gelohnt habe, zugleich belegen andere Umfragen aber immer wieder geteilte Meinungen sowohl zur Privatisierung wie auch zur Reprivatisierung.
Dies kann nicht verwundern, wenn man sich mit der Geschichte der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność auseinandersetzt, die ja seit ihrer Gründung Ende August 1980 bis zur Einführung des Kriegsrechtes im Dezember 1981 und ihrem Verbot (Oktober 1982), anschließend vom Untergrund aus und ab Februar 1989 am Runden Tisch gegenüber den Machthabern der Volksrepublik Polen auf einen Systemwandel drängte, der demokratische Prinzipien, aber auch gesellschaftliche Solidarität und Gerechtigkeit realisieren sollte. Bereits die 21 Postulate der Gewerkschaft Solidarność vom 31. August 1980 waren neben der Forderung nach einer unabhängigen gewerkschaftlichen Vertretung der Arbeiter geprägt von sozialen Forderungen wie der automatischen Anpassung der Löhne an die Inflation oder einer Absenkung des Rentenalters. Schon seit den Arbeiterprotesten 1956 in Posen (Poznań) war es ein Ziel der Arbeiter, Einfluss auf ökonomische Entscheidungen in den Betrieben zu erhalten und ein freies und gerechtes Polen aufzubauen. Auch das Programm der Gewerkschaft Solidarność vom Herbst 1981 betont neben dem Streben nach nationaler Selbstbestimmung (!) und Forderungen nach politischen Veränderungen insbesondere auch soziale Fragen. Die Belegschaften sollten Einfluss auf die Entscheidungen in den Betrieben haben, die wiederum unabhängig von den politischen Entscheidungsträgern agieren sollten. Zudem berief sich die Gewerkschaft auf die Sozialenzyklika Laborem exercens von Papst Johannes Paul II., die im September 1981 veröffentlicht worden war. Hierin hatte der Papst einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus angemahnt und den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital betont. Schließlich wurde auch eine solidarische Gesellschaft gefordert, deren Umsetzung im Rahmen der Sozialpolitik, aber auch durch das Prinzip der Subsidiarität und den zentralen Stellenwert der Familie erfolgen sollte. Zugleich wurden die Rechte der Schwächsten, von Behinderten und alten Menschen verteidigt. Die Vereinbarungen am Runden Tisch hinsichtlich der Thematik soziale Gerechtigkeit und Sozialpolitik wurden in der Arbeitsgruppe Wirtschaft und Sozialpolitik (Zespół Okrągłego Stołu ds. Gospodarki i Polityki Społecznej) verhandelt und hatten natürlich einen anderen Charakter, da sie erstens Jahre später formuliert wurden und zudem einen Kompromisscharakter hatten. Gleichwohl wird auch hier von Seiten der Gewerkschaft Solidarność betont, dass Privatisierungen nur mit Zustimmung der Belegschaften erfolgen könnten, wobei die Vereinbarung auch ein klares Bekenntnis zur Marktwirtschaft enthält. Aber unter den neuen Bedingungen der Marktwirtschaft galt es, die Rechte von Arbeitnehmern zu schützen.
Neben dem Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Demokratie ist in der Programmatik der Gewerkschaft Solidarność ein starkes Bekenntnis zu christlich begründeten sozialen Fragen und darüber hinaus der Appell, eine solidarische Gemeinschaft aufzubauen, angelegt. Ein möglichst großes Ausmaß individueller Freiheiten ist damit kein Leitmotiv der Gewerkschaftsbewegung, auf die sich ja die aktuelle PiS-geführte Regierung gerne beruft. Der Verweis auf die Geschichte der Gewerkschaft Solidarność verdeutlicht überdies, dass Gerechtigkeit nicht nur eine Frage der Einkommensverhältnisse ist, sondern dass auch Vorstellungen von Gemeinschaft, religiöse und andere Wertvorstellungen sowie auch Perzeptionen sozialen Wandels Einfluss auf unsere Auffassungen von sozialer Gerechtigkeit haben können.
Gerechtigkeitskonzepte
Auf dem Markt der Theorien und im politischen Geschäft konkurrieren unterschiedliche Definitionen von Gerechtigkeit miteinander, von denen die soziale Gerechtigkeit nur eine Spielart ist. Dabei kann zwischen personalen und institutionellen Definitionen von Gerechtigkeit unterschieden werden. Erstere stellen dabei vor allem auf Gerechtigkeit als Tugend ab, etwas, das der Philosoph Otfried Höffe als freiwillige Rechtschaffenheit bezeichnet hat, als moralische Tugend. Dieser Ansatz einer tugendhaften Haltung, die uns zum Guten, zur Gerechtigkeit verpflichtet, wird von verschiedenen Theoriekonzepten vertreten. Einerseits von kommunitaristischen und republikanischen Ansätzen, die beide den Wert der Gemeinschaft und die Pflicht des Individuums gegenüber der Gemeinschaft betonen und sich untereinander eher in ihren Traditionslinien und in der Akzentuierung von Gemeinschaft unterscheiden. Während der Republikanismus nach Emanuel Richter Gemeinschaft als Grundmuster menschlichen Lebens erkennt, sieht der Kommunitarismus nur eine moralische Pflicht zur Gemeinschaft. Beide Theorien sehen Gerechtigkeit damit nicht als Umsetzung eines individual pursuit of happiness. Andererseits steht auch die katholische Soziallehre, so wie sie in verschiedenen Sozialenzykliken beginnend mit Rerum Novarum 1891 und endend mit der Caritas in veritate von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 und der grünen Sozialenzyklika Laudato si von Papst Franziskus 2015 interpretiert wird, für einen personalen Zugriff. Gerade das Verhältnis des Menschen zur Arbeit in der modernen Welt wird hier immer wieder analysiert und Fragen der Gerechtigkeit und der Solidarität großer Raum gegeben.
Institutionelle Definitionen von Gerechtigkeit fragen dem gegenüber vor allem, wie politische und rechtliche Gleichheit von Menschen organisiert werden kann. Dabei müssen zum einen soziale, kulturelle und normative Unterschiede in den Gerechtigkeitsauffassungen überbrückt und zum anderen Anwendungsbereiche definiert werden. Der politische Liberalismus setzt dabei vor allem auf gleiche Grundrechte und Verteilungsgerechtigkeit und hier haben die theoretischen Arbeiten des amerikanischen Philosophen John Rawls in den letzten Jahrzehnten überragende Bedeutung gehabt. Gegenbewegungen unterstreichen jedoch die Freiheit des Menschen als höheren Wert und setzten eher wie August von Hayek auf allgemeinen Wohlstandszuwachs durch die Regeln des freien Marktes.
Diesen sehr knappen Ausführungen zum breiten theoretischen Diskurs könnten Schlagworte über Verfahrensgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit oder Gerechtigkeit im Sinne von Teilhabe für soziale Gruppen hinzugefügt werden. Damit wird deutlich, dass einfache Definitionen von Gerechtigkeit nicht greifen, zumal in einer Transformationsgesellschaft wie Polen auch noch Vorstellungen von historischer Gerechtigkeit oder Transitional Justice, die Verantwortlichkeiten für die autoritär-totalitäre Vergangenheit benennen und Unrecht aufarbeiten wollen, hinzukommen. Gleichwohl steht auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit eine große Anzahl empirischer Daten zur Verfügung.
Soziale Gerechtigkeit in Polen
Zur Ermittlung des Zustandes sozialer Gerechtigkeit werden vor allem Daten zur ökonomischen Ungleichheit anhand unterschiedlicher Parameter erhoben. Hierfür stehen eine Reihe unterschiedlicher Indizes zur Verfügung. Die bekanntesten Datensets stammen von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die ökonomische Ungleichheit und Armut eruiert, von der Weltbank, die sich auf den von dem italienischen Mathematiker Corrado Gini entwickelten Koeffizienten beruft, der soziale Ungleichheit misst, und von der Bertelsmann Stiftung, die einen Index zu sozialer Ungleichheit in der EU und den OECD-Ländern herausgibt. Interessant ist für ein Transformationsland wie Polen vor allem der intraregionale Vergleich mit anderen Transformationsländern wie der Slowakei, Tschechien oder Ungarn sowie der Vergleich über die Jahre, um Entwicklungen auszumachen.
Die OECD fokussiert für ihre Datenbank auf das zur Verfügung stehende Haushaltseinkommen angepasst an die Haushaltsgröße und auf Armut, festgemacht an einem Schwellenwert von 50 Prozent des durchschnittlich zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens. Danach hat sich das zur Verfügung stehende Haushaltseinkommen zwischen 2004 und 2017 in Polen mehr als verdoppelt. Der Gini-Koeffizient, erstellt von der Universität der Vereinten Nationen (World Income Inequality Database), hat sich von 34,49 im Jahr 2005 auf 29,2 im Jahr 2017 reduziert. Beim Gini-Koeffizienten bedeutet 100 völlige Ungleichheit und 0 völlige Gleichheit. Der Gini-Koeffizient lag für die Tschechische Republik bei 26,94 im Jahr 2005 und bei 24,5 im Jahr 2017, für die Bundesrepublik Deutschland bei 31,4 im Jahr 2005 und bei 29,1 im Jahr 2017 (siehe auch Grafik 1 auf Seite 9).
Der Index für soziale Gerechtigkeit der Bertelsmann Stiftung ist etwas anders aufgebaut. Er berücksichtigt insgesamt sechs Dimensionen, verwendet also eine breitere Definition von sozialer Gerechtigkeit, und reicht von 0 bis 10 (bester Wert). Die gemessenen Dimensionen, jeweils unterfüttert mit verschiedenen Indikatoren, sind: Armutsvermeidung, Zugang zu Bildung, Zugang zum Arbeitsmarkt, soziale Kohäsion und Nicht-Diskriminierung, Generationengerechtigkeit und Gesundheit. Im Index setzten auch im Jahr 2019 die skandinavischen Länder die Standards – so wie auch bei anderen Indizes. Aber auch die postsozialistischen Länder schneiden zum Teil beachtlich ab und sind – trotz des nach wie vor existierenden ökonomischen Rückstands gegenüber den G7-Ländern – teilweise im vorderen Feld. Slowenien und die Tschechische Republik sind mit den Plätzen sieben und acht unter 41 Ländern noch vor der Bundesrepublik Deutschland (Platz zehn) und auch Polen liegt mit Platz 16 deutlich über dem EU-/OECD-Durchschnitt. Bemerkenswert ist insbesondere die beachtliche Verbesserung Polens in den letzten Jahren. Dabei schneidet Polen insbesondere bei der Armutsvermeidung und beim Zugang zur Bildung überdurchschnittlich ab, während die Kriterien Nicht-Diskriminierung, Generationengerechtigkeit und Gesundheit deutlich schlechter ausfallen. Positiv hat sich sicherlich das von der PiS eingeführte Kindergeld »500+« ausgewirkt, denn das Armutsrisiko hat sich von 2009 auf 2019 fast halbiert, und auch die Altersarmut ist in Polen zurückgegangen. Negativ wirken sich dem Länderbericht zufolge Diskriminierungen von Flüchtlingen, Muslimen oder LGBTQ-Gruppen aus. Bezogen auf den Arbeitsmarkt verweist der Bericht darauf, dass Polen das Land in der EU mit dem höchsten prozentualen Anteil an Zeitverträgen sei, trotz eines deutlichen Rückgangs in den letzten Jahren. Auch die Integration von jungen Menschen in den Arbeitsmarkt lässt nach wie vor zu wünschen übrig. Das schlechte Rating Polens im Bereich Generationengerechtigkeit liegt vor allem an den geringen staatlichen Investitionen im Bereich Forschung und Entwicklung (0,37 Prozent des Bruttosozialproduktes (BSP) im Jahr 2019; in Deutschland 3,09 Prozent des BSP im Jahr 2018 laut Weltbank) sowie an der Energiepolitik, die noch stark an fossilen Brennstoffen festhält – notgedrungen mit Blick auf die heimische Kohle, aber zum Nachteil des CO2-Abdruckes. Zur Generationengerechtigkeit gehört sicherlich auch, dass die Zahl der Polen, die mehrere Monate im Ausland arbeiten, seit 2004, dem Jahr des EU-Beitritts, kontinuierlich zugenommen hat. Ende 2018 waren nach Angaben des Statistischen Hauptamtes (Główny Urząd Statystyczny – GUS) knapp 2,5 Millionen Polen zeitweise im Ausland tätig, davon mehr als 2,1 Millionen in der EU. Zuverlässige Zahlen über Rückkehrer liegen nicht vor, aber ein großer Teil wird wohl dauerhaft im Ausland verbleiben und geht damit dem polnischen Arbeitsmarkt und den polnischen Sozialsystemen bei ähnlichen demographischen Problemen wie in Deutschland verloren. Schließlich bleibt noch das letzte im Index für soziale Gerechtigkeit genannte Kriterium: das polnische Gesundheitswesen. Hier vermochte in den letzten Jahrzehnten keine Regierung nachhaltige Verbesserungen herbeizuführen – trotz umfangreicher Reformen und mehrerer Systemwechsel. Der Oberste Rechnungshof (Najwyższa Izba Kontroli – NIK) konstatierte in einem Bericht zum polnischen Gesundheitswesen aus dem Jahr 2019 neben einer mangelnden Akzeptanz seitens der Patienten erhebliche Mängel. Aufgeführt wurden unter anderem eine schlechte Organisation des Gesundheitssystems, die zu einer schlechten Vorsorge und einem zu späten Erkennen von Krankheiten führt, eine regional unterschiedliche medizinische Versorgung der Bevölkerung, mangelnde Transparenz des Systems hinsichtlich der angebotenen Qualität, ein Mangel an geschultem Personal und generell zu wenig Beschäftigte im Gesundheitssektor sowie ganz allgemein eine zu geringe finanzielle Ausstattung. Nach Angaben des NIK wurden vom Staat im letzten Jahr nur 4,6 Prozent des BSP für das Gesundheitssystem aufgewendet gegenüber 6,7 Prozent des BSP an privaten Aufwendungen. Damit befindet sich Polen bezüglich der staatlichen Mittel für das Gesundheitssystem an drittletzter Stelle in Europa. Die schlechte Bezahlung und der zu geringe Mitteleinsatz sind wohl auch mit verantwortlich für einen brain drain in diesem Bereich. Tausende Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger aus Polen arbeiten in Deutschland oder in Großbritannien und eine Umkehr des Trends ist angesichts der großen Nachfrage und der deutlich schlechteren Bezahlung in Polen nicht in Sicht.
Trotz der beachtlichen Fortschritte Polens in einzelnen Bereichen einer breit verstandenen sozialen Gerechtigkeit ist der Berg der Probleme nach wie vor groß. Wie sieht angesichts dieser Zahlen die Sozialpolitik der PiSgeführten Regierung aus?
Die PiS und die neue Sozialpolitik
Zunächst muss angemerkt werden, dass sich die PiS-Regierung bei allen Politikansätzen auf nach wie vor sehr gute konjunkturelle Daten stützen kann. Auch im Jahr 2019 wuchs die polnische Wirtschaft mit 4 Prozent kräftig. Allerdings wird auch Polen von den ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie erschüttert. Das Statistische Hauptamt schätzt den Rückgang des BSP für das zweite Quartal 2020 auf minus 8,2 Prozent. Umso mehr werden auch die Sozialprogramme der Regierung auf den Prüfstand gestellt werden müssen, aber eine entsprechende Debatte hat in Polen noch nicht begonnen.
Klar ist, dass die Regierung für ihr Sozialprogramm nachhaltige Unterstützung in der Bevölkerung hat. Reichtum wird von 47 Prozent der Bevölkerung nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS vom August 2019 nach wie vor skeptisch beäugt und gar 77 Prozent sind der gleichen Umfrage zufolge der Ansicht, dass die Menschen keine gleichen Chancen hätten und nur wenige über die Möglichkeit verfügen würden, wohlhabend zu werden. Das Thema der sozialen Gerechtigkeit und eine paternalistische Erwartungshaltung gegenüber dem Staat sind also auch 30 Jahre nach der Transformation in Polen sehr verbreitet (siehe Grafik 4 bis 7).
Kein Wunder also – auch mit Blick auf die eingangs aufgezeigten Traditionslinien der Gewerkschaft Solidarność –, dass die PiS auf dem Feld der Sozialpolitik schon im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen im Jahr 2015 große Aktivitäten entwickelt hatte und dies auch im Vorfeld der Parlamentswahlen im Jahr 2019 fortsetzte.
Im Programm der PiS aus dem Jahr 2019 ist unter der Zwischenüberschrift »Solidarität und Würde« zu lesen, dass der Staat eine Verpflichtung gegenüber den sozialen Verhältnissen habe (siehe Dokumentation auf Seite 7f.). In einem ehrlichen und solidarischen Staat müsse dieser Gleichheit vor dem Gesetz sowie soziale Gerechtigkeit garantieren und die Würde der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft schützen. Grundlage dieser gesellschaftlich gelebten und als Selbstverpflichtung empfundenen Solidarität ist danach die nationale Gemeinschaft. In diesem Kontext verweist das Programm auf soziale Errungenschaften der PiS-Regierung in den Jahren 2015–2019 wie die Förderungen für Familien, Kinder und Senioren. Darüber hinaus wird auf den Kampf gegen soziale Ausgrenzungen aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit oder körperlicher Beeinträchtigung verwiesen. Ziel ist es, Zentren für soziale Dienste (Centrum Usług Społecznych) zu gründen.
Auch das Exposé von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vom November 2019 unterstreicht bereits in den ersten Absätzen die Rolle des Staates, der globalen Ungerechtigkeiten, die auch Polen betreffen, entgegen treten müsse (siehe Dokumentation auf Seite 8f.). Genannt wird eine Zunahme sozialer Ungleichheiten, die Steuervermeidung durch große Unternehmen oder die Geringschätzung gesellschaftlicher Solidarität. Es soll ein Polen der alltäglichen Normalität, also jenseits gesellschaftlicher Missstände, aufgebaut werden. Als Politikfelder werden Sicherheit, eine Energiestrategie, das Rentensystem und die demographische Entwicklung angeführt. Verwiesen wird auch auf die positive Entwicklung des Gini-Koeffizienten seit 2015, wodurch Polen besser da stehe als westliche Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Auch sei es gelungen, zwei Millionen Polen aus der Armut zu befreien, unter anderem durch die Einführung des Kindergeldes »500+«, Steuerbefreiungen für niedrige Einkommen oder eine 13. Monatsrente. Dabei bleibt aber unerwähnt, dass die PiS zum 1. Oktober 2017 das Renteneintrittsalter für Männer auf 65 und für Frauen auf 60 gesenkt hat, nachdem die Vorgängerregierung aus Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und Polnischer Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) erst kurz zuvor ein einheitliches Renteneintrittsalter von 67 Jahren beschlossen hatte. Kürzere Lebensarbeitszeiten tragen natürlich zu geringeren Renten bei.
Unmittelbar vor den Parlamentswahlen am 13. Oktober 2019 kündigte der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński weitere fünf Gesetzespakete in den ersten 100 Tagen nach der Wahl an. Dabei handelt es sich um geringere Sozialversicherungsabgaben für kleine Firmen, eine 13. Rente im Jahr 2020 und eine 13. und 14. Rente im Jahr 2021, ein Paket von Vorsorgeuntersuchungen für Menschen ab dem 40. Lebensjahr, ein Programm für 100 Umgehungsstraßen für polnische Städte sowie einen Plan für Ausgleichszahlungen für polnische Landwirte. Tatsächlich wird eine 13. Rente bereits seit April dieses Jahres ausgezahlt, da ein entsprechendes Gesetz im Januar im Sejm verabschiedet werden konnte. Auch geringere Sozialabgaben für kleine Firmen sind ab Februar 2020 möglich und Vorsorgeuntersuchungen sollen nach Auskunft des Gesundheitsministeriums kostenlos ab Januar 2021 für die genannten Alterskohorten möglich sein. Bei den zugesagten Umgehungsstraßen geht es natürlich um ein langfristiges Investitionsprogramm bis 2030, so dass gegenwärtig erst über eine Liste diskutiert wird, und die zugesagten Ausgleichszahlungen für polnische Landwirte, die damit Landwirten in den alten EU-Mitgliedsländern gleichgestellt werden sollen, sind erst vage im Gespräch. Ziel ist es wohl eher, hier eine Änderung innerhalb der EU zu erreichen.
Umfragen zeigen, dass in Polen ein Gesellschaftsmodell präferiert wird, in dem die meisten Menschen der Mittelschicht angehören (39 Prozent im Jahr 2019) und so wird Polen heute auch erstmals von der Mehrheit der Befragten mit 28 Prozent (2019) eingeordnet (siehe Tabelle 1 und Grafik 8). Es kann daher nicht verwundern, dass die Sozialpolitik für die PiS ein zentrales Anliegen bleibt, und hier insbesondere Sozialtransfers (Rente, Kindergeld etc.). Die gesellschaftliche Akzeptanz insbesondere für das Kindergeld »500+«, nun bereits ab dem ersten Kind, und für eine zusätzliche Rente ist sehr hoch. Eine CBOS-Umfrage vom September 2018 belegt, dass die gesellschaftliche Bereitschaft, Kranken (59 Prozent), Alten (44 Prozent) und Familien (32 Prozent) zu helfen, sehr groß ist. Zumindest deklarativ ist Polen eine solidarische Gesellschaft. Allerdings sieht man vor allem die Gemeinden (77 Prozent) und die Regierung (69 Prozent) noch vor der Familie (44 Prozent) in der Pflicht, wenngleich in der allgemeinen Wahrnehmung vor allem die Gemeinden (54 Prozent) und die Familien (52 Prozent) Hilfe leisten, weniger die Regierung und ihre Institutionen – 32 Prozent (siehe Grafik 4 und 6). Hier wird deutlich ein stärkeres Engagement von Gemeinden, Selbstverwaltungen und der Regierung erwartet.
Eine Rechnung für die nächste Generation? Ein Ausblick
Zweifellos trifft die Sozialpolitik der PiS-Regierung auf große gesellschaftliche Zustimmung. Nicht zuletzt deswegen hat der in den Präsidentschaftswahlen im Juni/Juli 2020 unterlegene Kandidat der Bürgerplattform, Rafał Trzaskowski, im Wahlkampf angekündigt, jeden Versuch, das Kindergeld »500+« wieder abzuschaffen, mit einem Veto blockieren zu wollen. Auch im Vorfeld der Parlamentswahlen im Herbst 2019 ließen alle Parteien, die sich später im Sejm wiederfanden, erkennen, am Programm »500+« festhalten bzw. es sogar noch ausbauen zu wollen. Eine aktive Sozialpolitik scheint für viele Politstrategen heute der Schlüssel zum Wahlerfolg zu sein.
Allerdings gibt es auch beträchtliche Kritik an der Sozialpolitik der PiS. Zunächst wird immer wieder auf die beträchtlichen Kosten verwiesen und darauf, dass es sich im Wesentlichen um Transferleistungen handele. Ob der polnische Staat weiterhin im Stande sein wird, diese Sozialleistungen zu finanzieren, vermag heute in Zeiten der Corona-Pandemie niemand seriös zu beantworten. Gegenwärtig steht Polen noch gut da und die Staatsschuldenquote lag Ende 2019 bei lediglich 44,2 Prozent – vor der Pandemie! Allerdings wären höhere Löhne und Renten sowie sichere Arbeitsverhältnisse womöglich probatere Mittel, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit anzugehen. Zudem ist – so die Kritiker – wohl kaum anzunehmen, dass das Kindergeld »500+« tatsächlich einerseits vollständig den Kindern zugutekomme und andererseits lösten Transferleistungen nicht zwingend bestimmte Probleme wie niedriges Ausbildungsniveau oder bestimmte gesellschaftliche Missstände in der betroffenen Bevölkerungsgruppe. Ein Effekt auf die niedrige Geburtenrate ist gleichfalls noch nicht zu konstatieren. Auch sehen Beobachter die Gefahr, dass die ökonomische Aktivität von Frauen zurückgehen könnte. Allerdings deuten Umfragen des GUS aus dem Jahr 2019 eher in eine gegenteilige Richtung. Danach haben sehr viel mehr Frauen die Zuzahlungen zum Anlass genommen, eine Arbeit aufzunehmen, weil nun eine Betreuung für die Kinder bezahlt werden kann. Dies sind jedoch erst vorläufige Ergebnisse, die noch genauer untersucht werden müssen.
Die PiS-Regierung lässt sich in ihrer Sozialpolitik vom Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität leiten und knüpft damit an Traditionen der Gewerkschaft Solidarność an, wie sie bereits im Programm der Gewerkschaft 1981 vorgestellt wurden. Ideengeschichtlich handelt es sich um eine Abkehr von neoliberalen, am Markt ausgerichteten Konzeptionen und eine Hinwendung zu republikanischen Vorstellungen. Internationale Indizes zeigen, dass Polen einerseits auf dem Weg zur gesellschaftlich gewünschten sozialen Gerechtigkeit auf einigen Feldern erhebliche Fortschritte gemacht hat, am deutlichsten feststellbar am gesunkenen Gini-Koeffizienten. Andererseits bleiben erhebliche Zweifel, dass der eingeschlagene Weg zu einer gesellschaftlichen Befriedung und zur Verwirklichung gesellschaftlicher Solidarität beitragen kann. Nach wie vor bleibt die Gesundheitspolitik ein schwieriges Feld und ein Bereich, in den alle polnischen Regierungen nach 1989 zu wenig Geld investiert haben. Zudem bleibt fraglich, ob eine nationale Gemeinschaft mit christlichen Wurzeln, so wie es in der Programmatik der Gewerkschaft Solidarność vor 40 Jahren beschrieben wurde, noch zeitgemäß ist mit Blick auf eine sich zunehmend stärker ausdifferenzierende polnische Gesellschaft. Zwar sind soziale Transferleistungen als temporäres Korrektiv durchaus vertretbar, aber die gleichzeitige Diskriminierung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und ein strikt konservatives Familienmodell sind es eben nicht. Ähnlich wie auch andere konservative Parteien in Westeuropa und insbesondere in Deutschland, steht auch die PiS vor der Herausforderung, einen modernen, gegebenenfalls christlich fundierten Gesellschaftsentwurf zu erarbeiten, der Solidarität und Anteilnahme allen gesellschaftlichen Gruppen anbietet – ohne Rücksicht auf Herkunft, Geschlecht oder religiöse Überzeugung. Davon ist die PiS momentan noch entfernt.