Die innenpolitische Situation in Polen um die Jahreswende 2020/21

Von Ewa Maria Marciniak (Universität Warschau)

Zusammenfassung
In der Analyse geht es um die gegenwärtige politische Verfassung des Regierungslagers und der Opposition in Polen. Es würde den Fortbestand und die Integrität der Regierungskoalition begünstigen, wenn Präsident Andrzej Duda den bisherigen Stil seiner Amtsausübung fortsetzt. Das heißt, dass er seine Aktivitäten den politischen Interessen seines Lagers unterordnet. Das Jahr 2021 begann jedoch mit einem Veto des Präsidenten. Hinzu kommen Spannungen in der Regierungskoalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica). Die Oppositionsparteien haben zurzeit kein ausformuliertes politisches Programm, das eine Alternative zum Regierungsprogramm sein könnte. Die Gesellschaft braucht jedoch Alternativen, was die Wahlergebnisse der Präsidentenwahlen sowie die großen Straßenproteste im Jahr 2020 zeigen. Da ein Regierungswechsel in einem demokratischen Land mittels Wahlen stattfindet, kann die Institutionalisierung der gesellschaftlichen Protestenergie oder die Bildung eines Bündnisses der Protestierenden mit den bestehenden Parteien eine Voraussetzung für eine Veränderung in Polen sein.

Der Kontext

Um die innenpolitische Situation um den Jahreswechsel 2020/21 einordnen zu können, sollten sowohl zeitlich entferntere Faktoren hinzugezogen werden als auch solche, die aktuell Einfluss nehmen. Zu ersteren gehören das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Juni/Juli 2020 und der vorangegangene Wahlkampf. Auch kann die Covid-19-Pandemie nicht übergangen werden, ein Ereignis, das gewaltigen Einfluss auf alle Lebensbereiche des Individuums, der Gesellschaft und des Staates hat. Das Ende des Jahres 2020 war gekennzeichnet von den Protesten verschiedener Milieus, insbesondere von den Frauenprotesten gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechtes, die ein Urteil des polnischen Verfassungstribunals (Oktober 2020) angestoßen hat. Erfahrungsgemäß können solche Faktoren nur im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse getrennt betrachtet werden; in der Realität beeinflussen sie sich gegenseitig und beantworten zusammen die Frage, in was für einer Zeit wir leben und was das für uns bedeutet.

Ich beginne mit den Präsidentenwahlen im Juni/Juli 2020, die trotz der seitdem vergangenen Zeit von Bedeutung für die aktuelle Situation sind.

Das Wahlergebnis des bestätigten Präsidenten Andrzej Duda muss zwar als Erfolg interpretiert werden, doch es illustriert viele Phänomene und Prozesse, die sich in der Gesellschaft herausbildeten und weiterwirken. Dudas Sieg hat natürlich Bedeutung für seine Beziehung zum Milieu der größten Regierungspartei, Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS). Angesichts der großen finanziellen Summen (mehr als 28 Millionen Zloty) und des Engagements vieler führender PiS-Politiker im Wahlkampf, u. a. des Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, muss der geringe Vorsprung von ca. 400.000 Stimmen gegenüber dem Kandidaten Rafał Trzaskowski jedoch dazu führen, dass über eine Neuorientierung des Stils der zweiten Amtszeit nachgedacht wird. Das vom Präsidenten im Januar 2021 eingebrachte Veto gegen eine Gesetzesnovelle (zur Einteilung der Bereiche der Regierungsverwaltung) kann der Anfang einer autonomen Politik des Präsidenten sein. Das Veto ist im Grunde die erste bedeutende Aktivität Dudas. Bisher, seit seinem Wahlsieg, war er im öffentlichen Bereich wenig aktiv; abgesehen von rituellen Pflichten hat er nicht das Wort ergriffen, so auch nicht in Schlüsselfragen wie beispielsweise den Straßenprotesten. (Der Ordnung halber sei hier an seinen Gesetzesentwurf zur Familienplanung und zu den Bedingungen der Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs erinnert, der aktuell aber nicht weiterverfolgt wird.) Der Anfang seiner zweiten Amtszeit war davon gekennzeichnet, dass der Präsident im Schatten blieb.

Das Regierungslager um die Jahreswende 2020/21

In der öffentlichen Meinung kam die Überzeugung auf, dass Dudas Veto der Beginn für die Entwicklung neuer Aktivitäten ist. Was spricht dafür? Erstens die Personalveränderungen in der Präsidentenkanzlei. Krzysztof Szczerski, der Leiter des Präsidentenkabinetts und langjährige Mitarbeiter Dudas, verliert seinen Posten, und auch die Abberufung von Paweł Mucha, dem Chef der Präsidentenkanzlei, der sich stets als loyaler Beamter präsentierte, gibt zu denken. Allerdings wurde Szczerski zum Beauftragten für den Aufbau des Büros für Internationale Politik des Präsidenten ernannt, eines neuen Gebildes, dessen Aufgabe darin besteht, die internationalen Politikbereiche des Staatsoberhauptes zu systematisieren. Dass der Präsident in den vergangenen Tagen aktiver wurde, kann der Beginn einer neuen Etappe in seiner Präsidentschaft sein, manchen Einschätzungen zufolge kann er sogar die Rolle eines weiteren Koalitionspartners einnehmen. Das würde bedeuten, dass er Bedingungen stellen und ein zähes Spiel mit der PiS spielen wird. Die Frage ist, ob Andrzej Duda eine solche politische Position und Persönlichkeit hat, die einen Neubeginn erlauben. Nein, meiner Meinung nach. Duda wird ein Politiker bleiben, der gegenüber Jarosław Kaczyński, dem PiS-Parteivorsitzenden und Vize-Ministerpräsidenten, loyal ist. Obgleich er zu jung für den politischen Ruhestand ist, ist er bislang zu schwach für vollständige Unabhängigkeit. Doch selbst wenn diese politische Säule unverändert bliebe, hat die PiS ein Problem mit ihren Koalitionspartnern Solidarisches Polen (Solidarna Polska) und Verständigung (Porozumienie). Der Konflikt mit Solidarisches Polen, der Partei von Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, äußert sich zurzeit nicht deutlich – was nicht bedeutet, dass er nicht existiert. Die Spannungen zwischen Solidarisches Polen und der PiS, die vor der Regierungsumbildung im Herbst 2020 zutage traten, bestehen bis heute. Vielleicht werden sie von den Medien nicht so laut bekannt gemacht, aber das heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Zugrunde lagen dem Streit zwischen der PiS und Solidarisches Polen ideologische Fragen, die nach wie vor aktuell sind. Es ging so weit, dass Solidarisches Polen mit seinem Austritt aus der Koalition drohte.

Die Politiker der Gruppierung von Zbigniew Ziobro stellten infrage, dass die PiS zur politischen Rechten gehört, sowie ihre Verbundenheit mit konservativen Werten. Patryk Jaki rief zum Kulturkampf im Namen der Verteidigung rechter Ideen und Werte auf. Die PiS verteidigte sich lange und wollte in Richtung Mitte gehen. Allerdings sehen wir, dass sie nachgeben musste, da für die PiS das effektive Regieren Priorität hat, zumal die wichtigsten Kräfte und Instrumente für die Bekämpfung der Corona-Epidemie eingesetzt werden müssen und nicht für koalitionsinterne Streitigkeiten. Darüber hinaus liegt der Regierungskoalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) insgesamt sehr daran, nach außen das Bild eines monolithischen Bündnisses abzugeben. Dieses Bild wird nicht nur von der Kernwählerschaft gewünscht, sondern auch von den Wählern, die den »guten Wandel« im Allgemeinen unterstützen und Stabilisierung sowie eine effektive Regierung wollen. Heute, da sich Fragen der Rettung der Wirtschaft vor den Folgen der Pandemie und der Kampf gegen das Corona-Virus an die Spitze der politischen Agenda schieben, belebte sich die weltanschauliche Problematik angesichts des oben genannten Urteils des Verfassungstribunals und der großen gesellschaftlichen Proteste (siehe Polen-Analyse 267). Ziobro will der Anführer der »wahren Rechten« sein, die Frage ist, um welchen Preis? Die Mehrheit der Umfragen weist nicht darauf hin, dass Solidarisches Polen selbständig erfolgreich in Parlamentswahlen starten kann, es gibt aber auch solche, in denen Solidarisches Polen die Fünf-Prozent-Hürde überschreitet. Das gibt der Partei Antrieb für ein autonomeres Vorgehen. Zur Hilfe kommt die Haltung von Jarosław Gowin, Vorsitzender des Koalitionspartners Verständigung. In den letzten Tagen protestierte Gowin deutlich gegen den Entwurf einer Gesetzesnovelle, demzufolge es nicht mehr möglich sein soll, ein wegen einer Ordnungswidrigkeit verhängtes Bußgeld abzulehnen. Gowin hat angekündigt, dass er diese Novelle nicht unterstützen wird. Seine Partei Verständigung lanciert die Botschaft, dass sie eine freiheitliche und auf den Bürger ausgerichtete Vereinigung ist, weshalb sie Restriktionen nicht unterstützen könne, die eine Beschränkung der Freiheit des Bürgers bedeuten. Ziobro und Gowin scheinen sich also von manchen Ideen der PiS zu distanzieren. Solche Einstellungen werden sich umso deutlicher und häufiger zeigen, je näher die Parlamentswahlen im Jahr 2023 kommen. Dann wird man sich nach potentiellen neuen Koalitionspartnern umsehen müssen, wenngleich solche aus der Perspektive des Januar 2021 sehr exotisch scheinen.

Mit welchen Ressourcen ging die Opposition in das neue Jahr 2021? Verfügt sie über politische Stärke?

Welchen Einfluss hat die Opposition auf die aktuellen Themen?

Ganz offensichtlich ist die Opposition nicht homogen. Feststellen lassen sich bestimmte Unterschiede in der Haltung der oppositionellen Parteien zum Regierungslager. Dabei halte ich die Partei Konföderation (Konfederacja) für diejenige, die am kritischsten eingestellt ist. Die Kritik dieser Formation bezieht sich vor allem auf die ökonomischen Lösungen und Vorhaben der Regierung. Das ergibt sich daraus, dass sich die Konföderation als Partei geriert, die für die freie Marktwirtschaft und eine Minimalisierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft ist. Diese Aspekte bescherten der Konföderation Unterstützung in den Parlamentswahlen und nicht die Themen, die mit ihrer national-katholischen Orientierung verknüpft sind. Um also in den kommenden Jahren unterstützt zu werden, muss sich die Konföderation als Fürsprecher für Kleinunternehmen präsentieren. Ein großer Teil ihrer Kritik ergibt sich aus ihrer Ablehnung des wirtschaftlichen Lockdowns infolge der Corona-Pandemie. Bei dieser Partei wird also fokussierte Kritik deutlich.

Das Bündnis Bürgerkoalition (Koalicja ObywatelskaKO) konzentriert sich ebenfalls darauf, die Regierung zu kritisieren. Hier handelt es sich aber um vergleichsweise diffuse Kritik, das heißt, dass sie sich auf viele verschiedene Aspekte – wirtschaftliche, weltanschauliche, strukturelle – bezieht. Diese Ausdifferenzierung dient der KO nicht, und zwar in dem Sinne, dass der Wähler viel Zeit und intellektuelle Mühe aufbringen muss, um die Standpunkte der KO zu verstehen und zu interpretieren. Indessen interessieren sich die Menschen nur bedingt für politische Fragestellungen, weshalb sie unkomplizierte und klare Botschaften bevorzugen. Zudem ist auch die Bürgerkoalition nicht frei von internen Spannungen. Der schon länger bestehende Konflikt zwischen den verschiedenen Flügeln der Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO), die die größte Gruppierung in der KO ist, spiegelt sich gegenwärtig in den Spannungen zwischen Borys Budka und Grzegorz Schetyna wieder. Es ist ein Konflikt zwischen zwei Anführern und zwei Generationen. Von der öffentlichen Meinung wird Budka nicht als Oppositionsführer anerkannt, es werden ihm keine Führungsqualitäten zugeschrieben. In einer Umfrage zum »Politiker des Jahres 2020« wird Budka nicht aufgeführt. Aus den Reihen der Oppositionspolitiker erhielten Szymon Hołownia und Rafał Trzaskowski (PO) je sechs Prozent (Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wurde mit elf Prozent auf den ersten Platz gewählt, Präsident Andrzej Duda belegte mit acht Prozent den zweiten Rang). Diese Ergebnisse zeigen, dass der Bürgerplattform Diskussionen über personelle und programmatische Veränderungen sowie über Veränderungen in der Kommunikation mit ihren Wählern bevorstehen.

Die parlamentarische Koalitionsfraktion der Linken (Lewica) wird vor allem mit der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy DemokratycznejSLD) assoziiert, denn trotz seines großen politischen Potentials scheint Adrian Zandberg, Mitbegründer der linken Partei »Gemeinsam« (Razem), im Schatten der aktuellen Politik zu bleiben. Seine eher beiläufigen Aussagen reichen nicht aus, um das Bild eines effektiven Politikers aufrechtzuerhalten, und man kann sagen, dass Zandberg seine Chance auf wesentliche politische Einflussnahme vergeudet. Er ist in den sozialen Medien aktiv, ebenso wie andere Politiker seiner Partei, allerdings ergibt sich daraus nicht die Möglichkeit der sekundären, das heißt einer medialen Legitimation. Damit ist die große, übergreifende mediale Sichtbarkeit gemeint, die Politikern nach einem Wahlsieg die Chance auf Aufrechterhaltung ihrer Popularität gibt. Das ergibt sich schlicht aus der Medialisierung der Politik. Folglich können die linken Wähler, die bereits zuvor von der Partei Frühling (Wiosna) mit Robert Biedroń an der Spitze enttäuscht wurden, erneut eine Enttäuschung erleben. Es bleibt also die SLD übrig, die konsequent ihre linke und progressive Orientierung präsentiert. Leider ist angesichts der Tatsache, dass viele junge Politiker zur KO überwechselten, das Gesicht der polnischen Linken vor allem das von Włodzimierz Czarzasty. Das ist jedoch nicht zukunftsweisend. Die Linke sollte daher in junge Aktivisten investieren, ihnen die Chance auf eine mediale Existenz geben, um so ihre Möglichkeiten in den kommenden Wahlen zu vergrößern.

Die Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo LudowePSL) ist eine Partei, die unter dem Vorsitz von Władysław Kosiniak-Kamysz in der letzten Zeit viel experimentiert hat. Beispielsweise hat sie die Polnische Koalition (Koalicja Polska) gegründet, ein Gebilde, das allerdings die Zeit und die Herausforderungen nicht überdauerte. Um die Jahreswende 2020/21 ist der Einfluss der PSL auf die Ereignisse verschwindend gering. Vielleicht aber flüstert Kosiniak-Kamysz’ Intelligenz ihm neue Lösungen ein sowie Möglichkeiten, politische Verbündete oder Koalitionäre zu finden. Gegenwärtig sind Annäherungsversuche mancher PSL-Akteure an die PiS zu beobachten. Es ist schwer vorherzusehen, was sich daraus ergeben wird, zumal hier auch das Verhältnis zwischen der PiS und Solidarisches Polen und die potentielle Suche nach einem neuen Koalitionspartner mit hineinspielt.

Szymon Hołownia ist ein Politiker, der die Hoffnung auf eine qualitative Veränderung in der polnischen Politik weckt. Er nutzt die Zeit seit den Präsidentenwahlen auf maximal effektive Weise. Es gelang ihm, eine Parlamentsabgeordnete für seine Bewegung Polen 2050 (Polska 2050) zu gewinnen, und auch ein Senatsmitglied hat den Wechsel vollzogen. Gemächlich bestimmt Hołownia seinen Platz auf der politischen Bühne und vielleicht wird diese Gruppierung ja nicht das Los von Kukiz ‘15, Frühling und Die Moderne (Nowoczesna) teilen, die praktisch keine politische Bedeutung haben (hier könnte auch die nicht mehr existierende Palikot Bewegung/Ruch Palikota hinzugefügt werden). Bei Hołownia ist eine große Entschlossenheit zu beobachten, ein politisches Programm zu entwickeln und lokale Strukturen zu schaffen. Drei Bedingungen für das Funktionieren einer politischen Vereinigung – Führung, Programm, Strukturen – scheinen also umgesetzt zu werden. Was fehlt, ist Geld.

Außerdem gibt es den »Landesweiten Frauenstreik« (Ogólnopolski Strajk Kobiet). Es ist nicht möglich, diese Organisation, die hinter den großen Protesten im Herbst steht, zu übergehen. Die Proteste weckten eine enorme gesellschaftliche Energie, zu handeln und die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren. Für die nächste Zeit sind zwei Aspekte von Bedeutung. Erstens das Szenario, dass die gesellschaftliche Energie institutionalisiert wird. Der Landesweite Frauenstreik kann dafür der Anfang sein; um die Organisation herum kann eine neue gesellschaftliche Bewegung entstehen mit Ambitionen, bei den nächsten Wahlen zu kandidieren. Notwendig ist daher ein Programm. Davon, ob es gelingt, die aktuelle gesellschaftliche Energie, Empörung und den Wunsch nach Veränderung zu institutionalisieren und in eine gesellschaftliche Bewegung umzugestalten, die die Verwirklichung konkreter Forderungen anstreben wird, hängt die Zukunft und Struktur dieser oppositionellen Manifestation ab. Die zweite Frage ist, ob die parlamentarische Opposition das gesellschaftliche Potential effektiv nutzt und es nicht zulässt, dass die ganze Angelegenheit eines natürlichen Todes stirbt. Man kann die Hypothese aufstellen, dass die Menschen ohne die Institutionalisierung der Bewegung und ohne die Aktivitäten der parlamentarischen Opposition schnell vergessen werden, wofür und für wen der Landesweite Frauenstreik gekämpft hat.

Jeder Protest, der wirksam sein und zu gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen führen soll, muss eine Führung, ein Ziel und einen Handlungsplan haben. Die Hoffnung der Protestierenden bestand darin, dass der Landesweite Frauenstreik diese Führung übernimmt und festigt, klare Ziele bestimmt und die Protestierenden zu deren Verwirklichung führt. Reicht die Entschlossenheit und Konsequenz? Das ist eine Frage an die Anführerinnen des Landesweiten Frauenstreiks, insbesondere an Marta Lempart.

Die gesellschaftliche Energie

Die politischen Erfahrungen der letzten Zeit und insbesondere die Präsidentenwahlen zeigten, dass es eine Alternative zum Regierungslager gibt. Das bestätigt das Wahlergebnis von Rafał Trzaskowski, der im zweiten Wahlgang der Präsidentenwahlen eine mit dem Ergebnis von Andrzej Duda vergleichbare Unterstützung erhielt. Nicht zu vergessen, braucht die Gesellschaft eine solche Alternative, denn sie will die Wahl haben.

Das Bewusstsein über den Wunsch nach Wahlmöglichkeit und ungefährdeter Wahlfreiheit ist eine Folge dessen, dass die Gesellschaft aus ihrer politischen Lethargie aufgewacht ist. Der Wahlkampf, die kommunikative Aktivität der Politiker und Kandidaten waren ein Anreiz für die Menschen, nachzudenken, ob sie eine Fortsetzung der Politik oder eine Veränderung wollen. Die hohe Beteiligung bei den Präsidentenwahlen 2020 ist die Voraussetzung, darüber zu reflektieren, dass die polnische Gesellschaft in verschiedenen Bereichen aktiv sein kann, was zum Beispiel die Proteste im Herbst letzten Jahres gezeigt haben.

Wahlfreiheit ist ein Schlagwort, das diese Proteste begleitete. Von ihnen wurden nicht nur die großen Städte, sondern auch mittlere und Kleinstädte sowie Dörfer ergriffen (was ein Unterschied beispielsweise zu den Protesten gegen die Justizreform ist). Die so weit reichende Mobilisierung hat die PiS-Führung zweifellos überrascht. Die bemühte Narration, dass die Proteste einen Anstieg der Corona-Infektionen hervorrufen, wirkte nicht.

Die Regierung war überzeugt, dass die beherrschende gesellschaftliche Emotion die Angst vor der Epidemie, die Sorge um Gesundheit und Leben sei. Sie ging davon aus, dass die Epidemie die Menschen zu Hause halten und Proteste gegen das Urteil des Verfassungstribunals zum Abtreibungsrecht verhindern wird. Sie hat sich schmerzhaft getäuscht, denn die Proteste waren keine einmalige Angelegenheit. Am 30. Oktober 2020 gingen in Warschau ca. 100.000 Menschen auf die Straße; zwei Tage zuvor war es in 410 polnischen Städten und in vielen Städten im Ausland zu Protesten gekommen. Mit Slogans gegen die Regierungspartei zogen die Protestteilnehmer vor das Gebäude des Verfassungstribunals, das Haus von PiS-Chef Jarosław Kaczyński, in verschiedenen Städten vor den Parteisitz der PiS. Die gesellschaftliche Erregung, der Widerstand und die Wut der Frauen, die im Herbst 2020 in ganz Polen sichtbar wurden, kann der Keim einer größeren Abneigung gegenüber der regierenden Vereinigten Rechten in der Zukunft sein. In der aktuellen Situation geht es allerdings nicht nur darum, ob die PiS in Umfragen an Zustimmung verliert und ggf. wieviel. (Zumal Umfragen immer einer gewissen Dynamik unterliegen und nach einer Phase deutlich reduzierter Zustimmung zu beobachten ist, dass sich die Umfragewerte der PiS wieder schrittweise verbessern.)

Wichtig ist, in welchem Ausmaß der aktuelle Konflikt unter der PiS-Regierung auf weltanschaulicher, absolut fundamentaler Ebene aktiviert wird, um die Frage zu stellen, was Freiheit ist, was Wahl ist, was Leben ist. Die Antworten müssen individuell gegeben werden, was bedeutet, dass jeder Mensch in bestimmten Situationen damit konfrontiert wird. Sie werden nicht nur von den persönlichen Ansichten beeinflusst, sondern auch von den institutionellen und strukturellen Gegebenheiten. Und darum geht es im aktuellen Konflikt, der bisher sehr diffus war und nun die fundamentalen Werte betrifft und unvorhersehbare Folgen haben kann. Wir wissen nicht, wohin das Ganze führen wird, ebenso wenig sind die politischen Folgen schon zu sehen.

Es kam eine gesellschaftliche Energie zum Vorschein, die zur Bewirtschaftung steht. Aber das ist problematisch, denn wer soll der Lenker, Heger und Pfleger der gemeinsamen Energie sein? Die Entwicklung der Ereignisse wird davon abhängen, wie die Regierung mit der Krise zurechtkommt und wie sich das Mengenverhältnis zwischen den Unzufriedenen und denen, welchen alles egal ist, ausnimmt.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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