Ein schwieriger Anfang
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Systemtransformation in Polen und der Wiedervereinigung Deutschlands begann eine neue Etappe in den deutsch-polnischen Beziehungen. Ein Neuanfang war es auch für das deutsch-polnische Grenzgebiet, das häufig als »Mikrokosmos« der europäischen Integration und als Lackmustest für die bilateralen Beziehungen der beiden Regierungen betrachtet wird, da eben dort die große Politik auf die Alltagserfahrungen der Grenzbevölkerung stößt. Eine Grenzregion ist häufig Bühne für symbolische Ereignisse und Erinnerungspraktiken. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 2004 trafen sich auf der Brücke zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice die damaligen Außenminister, Joschka Fischer und Włodzimierz Cimoszewicz, um gemeinsam den Beitritt Polens zur Europäischen Union zu feiern.
Das deutsch-polnische Grenzgebiet ist allerdings mit einem schwierigen historischen Erbe belastet: Es entstand infolge des Potsdamer Abkommens, einer Grenzverschiebung zwischen Deutschland und Polen in Richtung Westen und eines Bevölkerungstransfers. Die Tabuisierung des Problems der »Umsiedlung« in der DDR, der in der Volksrepublik Polen propagierte Mythos der »wiedergewonnenen Gebiete« sowie die Propaganda von der »sozialistischen Freundschafts- und Friedensgrenze« nahmen das Grenzgebiet ideologisch in Besitz und behinderten den Integrationsprozess der Bevölkerung beiderseits der Grenze. Besonders schmerzhaft spürten das die Polen, die an der westlichen Landesgrenze wohnten. Mit dem westdeutschen Revisionismus erschreckt, lebten sie bis in die 1970er Jahre in dem Gefühl der Vorläufigkeit und in der Angst vor der Rückkehr der Deutschen, weshalb sie nur eine schwache regionale Identifikation ausbildeten. Ein erster Schritt in Richtung Annäherung war für die Bewohner der Grenzregion die Öffnung der Grenze für den pass- und visafreien Verkehr im Jahr 1972. Polen und Deutsche aus der DDR übertraten die Grenze massenhaft; Erstere vor allem um einzukaufen, Letztere hatten dagegen nun zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre im Zuge des Krieges oder unmittelbar danach verlassene Heimat zu besuchen. Allerdings stellte sich bald heraus, dass die ostdeutsche Wirtschaft nicht auf den »Ansturm« polnischer Kunden vorbereitet war, und es wurde eine Reihe von Verschärfungen eingeführt. Zum Beispiel wurden die Summe des Geldumtausches beschränkt und polnische Kunden kontrolliert. Schließlich schlossen die Machthaber der DDR aus Angst vor den freiheitlichen Ideen der Solidarność-Bewegung im Jahr 1980 die Grenzen für die Polen. Und obwohl diese Phase auch mit negativen Erlebnissen deutsch-polnischer Begegnungen verbunden ist, war sie doch für viele Deutsche und Polen die erste Gelegenheit, das Nachbarland zu besuchen.
Doch erst die Veränderungen im Jahr 1989, die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrages 1990 sowie des Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit im Jahr 1991 legten ein dauerhaftes Fundament für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Artikel 12 des Nachbarschaftsvertrages unterstreicht die große Bedeutung »der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Regionen, Städten, Gemeinden und anderen Gebietskörperschaften, insbesondere im grenznahen Bereich« und verpflichtet beide Staaten, eine solche Zusammenarbeit auf allen Gebieten zu erleichtern und zu fördern. Kraft des Vertrages wurde auch die Deutsch-Polnische Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit berufen, die in vier Ausschüsse – für regionale und grenznahe Zusammenarbeit, für interregionale Zusammenarbeit, für Raumordnungsfragen, für Bildungszusammenarbeit – unterteilt ist. Darüber hinaus schuf Deutschland 2004 das Amt eines »Koordinators für zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit«, dessen Aufgaben die Stärkung der gutnachbarschaftlichen Beziehungen und die Förderung grenzübergreifender Aktivitäten der Zivilgesellschaft, des Jugendaustausches, der Gemeinde- und Regionenpartnerschaften sowie die grenznahe Zusammenarbeit sind. Die polnische Regierung setzte ein vergleichbares Amt erst im Jahr 2014 ein und bestimmte dessen Aufgaben als »Koordination und Entwicklung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in der Grenzregion, Identifizierung und Management der im Grenzbereich auftauchenden Herausforderungen sowie Vorlegen von Entwicklungsvorschlägen für die polnischen und deutschen Grenzregionen«. Man kann also davon ausgehen, dass beide Staaten angemessene institutionelle Strukturen für die Entwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geschaffen haben. Aus meinen Interviews mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, die auf der staatlichen, regionalen und lokalen Ebene für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zuständig sind, geht allerdings hervor, dass sowohl die bilaterale Regierungskommission als auch das Amt des Koordinators von den lokalen Akteuren eher als politische Symbole gutnachbarschaftlicher Beziehungen eingeschätzt werden, denn als tatsächliche Vermittlung im Integrationsprozess der Grenzregionen.
Darüber hinaus bedingen deutsche und polnische Rechtsakte den Umfang und die Form der Zusammenarbeit. Sie betreffen die Kompetenzen der lokalen und regionalen Behörden im Bereich der Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit und des Beitritts zu grenzüberschreitenden Verbänden. Die grenznahe Zusammenarbeit ist aber nicht nur auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene geregelt, sondern auch auf europäischer. Bereits im Jahr 1980 verabschiedete der Europarat das »Europäische Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften«, das die Bundesrepublik Deutschland 1981 und Polen 1993 ratifizierten. Dessen Ziel ist es, Tätigkeiten zu unterstützen, die nachbarschaftliche Kontakte zwischen der Bevölkerung und den Behörden von Regionen stärken und ausbauen.
Der 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages ist eine gute Gelegenheit, über die Faktoren nachzudenken, die die deutsch-polnische grenznahe Zusammenarbeit bestimmen. Die vorliegende Analyse geht aus dem Forschungsprojekt »Die multidimensionale Dynamik der bilateralen Beziehungen – Polen und Deutschland in der Europäischen Union« hervor, das vom Institut für Soziologie der Universität Wroclaw (Breslau) und der Hertie School in Berlin durchgeführt und von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (DPWS) unterstützt wurde. Im Folgenden werden drei maßgebliche Faktoren untersucht, und zwar das historische Erbe, die Asymmetrie und die Interdependenz als Schlüsselkategorien für die bilateralen Beziehungen im deutsch-polnischen Grenzgebiet.
Das historische Erbe
Wie bereits erwähnt, war das deutsch-polnische Grenzgebiet in dieser Gestalt eine Folge des Zweiten Weltkrieges. Das Trauma der Aufteilung der deutschen Gebiete, der Bevölkerungsaustausch, die Politik der »Ent-Germanisierung und Re-Polonisierung« der Polen zugesprochenen westlichen und nördlichen Gebiete sowie der Mythos des Antifaschismus und die Abgrenzung von den Verbrechen des Hitler-Regimes in der DDR gehörten zum historischen Erbe, mit dem sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die lokale Verwaltung und Einwohner in den Grenzgebieten auseinandersetzen mussten. Daher war die deutsch-polnische Versöhnung in den ersten Jahren der Entwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit das maßgebende Ziel vieler Initiativen, organisierter Begegnungen, Schüleraustausche und kultureller Ereignisse. Allerdings war der historische Ballast nicht nur ein Hindernis in den deutsch-polnischen Beziehungen. Viele Experten unterstreichen, dass gerade die »schwierige Vergangenheit« ein wichtiger Motor für die grenzübergreifenden Projekte war. Die gemeinsame Enthüllung »weißer Flecken« in der Geschichte, Diskussionen über traumatische Kriegserlebnisse, die Suche nach einer gemeinsamen Geschichte in den Grenzgebieten waren wesentliche Aktivitäten auf dem Wege des Aufbaus nachbarschaftlicher Beziehungen. Viele dieser Projekte wurden mit Blick auf die europäische Integration realisiert. Im Vertrag von 1991 hat sich Deutschland verpflichtet, Polen bei seinen Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu unterstützen (Art. 8). Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wurde als eine wichtige Etappe im Europäisierungsprozess betrachtet. Bereits in den 1990er Jahren wurden im westpolnischen Grenzgebiet vier Euroregionen festgelegt – die Euroregion Neiße-Nisa-Nysa, die Euroregion Spree-Neiße-Bober, die Euroregion Pro Europa Viadrina und die Euroregion Pomerania. Geteilte Städte wie Görlitz/Zgorzelec und Guben/Gubin erhielten den Titel Euro(pa)-Stadt. Zunächst allerdings betrachteten die Einwohner der Grenzgebiete die europäischen Initiativen als Projekt, das von den Bürgermeistern und lokalen Eliten forciert wird. Sie brauchten mehr Zeit, um die negativen Stereotype über den Nachbarn zu überwinden und die positiven Seiten der grenznahen Zusammenarbeit wahrzunehmen.
Nach Ansicht meiner Gesprächspartner spielt das historische Erbe gegenwärtig keine größere Rolle mehr für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Vielmehr herrscht eine pragmatische Herangehensweise vor. Viele Akteure der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit betrachten das Schwinden der normativen Motivation allerdings als eine Gefahr. Das Fehlen eines moralischen Imperativs bewirke, dass in den Beziehungen Gleichgültigkeit dominiere und die Vorteile der offenen Grenze nicht wahrgenommen würden. Die seit 2020 herrschende Corona-Pandemie hat jedoch in einem bestimmten Bereich die Situation verändert: Die einstweilige Grenzschließung und Einführung von Grenzkontrollen haben vielen Einwohnern bewusst gemacht, wie sehr sich ihr Leben beiderseits der Grenze abspielt. Beispiele wären die Arbeitnehmer und Schüler, die über die Grenze pendeln, oder auch die täglichen Einkäufe und die Inanspruchnahme von Dienstleistungen beim Nachbarn. Während der Proteste, die infolge der Grenzschließungen und Beschränkungen in den Grenzgebieten organisiert wurden, tauchten wieder Slogans auf, die sich auf die Idee des »gemeinsamen Europa«, der »offenen Grenze« und auf die »Sehnsucht nach dem Nachbarn« bezogen. Die offene Grenze wurde als verteidigungswürdiger Wert wahrgenommen.
Asymmetrien
Neben dem historischen Erbe haben Asymmetrien einen wesentlichen Einfluss auf die bilateralen Beziehungen. Unter einer Asymmetrie wird ein Ungleichgewicht zwischen Staaten und Regionen in geografischer, demografischer, wirtschaftlicher oder politischer Hinsicht verstanden. Der Vergleich verschiedener Indizes von Deutschland und Polen auf nationaler Ebene zeigt, dass sich die beiden Länder bei der Bevölkerungszahl, dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, der militärischen Stärke und bezüglich der EU-Mitgliedschaft unterscheiden. Doch abgesehen von objektiven statistischen Daten, die Asymmetrien widerspiegeln, kann ein Ungleichgewicht auch in der gegenseitigen Wahrnehmung und den Stereotypen, die im Bewusstsein der Grenzbewohner verankert sind, bestehen. Vergleicht man die Grenzgebiete (was keine einfache Aufgabe ist, da es schwierig ist, diesen Bereich festzulegen), lässt sich feststellen, dass die Asymmetrie im Falle der deutsch-polnischen Grenzregionen am deutlichsten im wirtschaftlichen Bereich (BIP pro Kopf) ist. Das kann sich negativ auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auswirken, da dies zu unterschiedlichen Interessen beispielsweise bei der Durchführung europäischer Projekte führen kann. Während die deutschen Akteure Innovationsprojekte im Bereich Hightech anstrebten, wollten die polnischen Antragspartner Infrastrukturinvestitionen realisieren.
Darüber hinaus hatte auch die Vorbereitung der EU-Mitgliedschaft Einfluss auf die deutsch-polnische Zusammenarbeit. Während die deutschen Grenzgebiete, die in der DDR lagen, nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 automatisch zur Europäischen Union gehörten, musste die polnische Seite tief greifende Reformen umsetzen, um ihre Verwaltungsstrukturen an die Erfordernisse der EU anzupassen (Selbstverwaltungsreformen im Jahr 1990 und 1998). Ähnlich wie im Falle der anderen mittelosteuropäischen Länder, versetzten die EU-Beitrittsvorbereitungen Polen in eine Beziehung der »asymmetrischen Interdependenz«, die den Akteuren der EU die Möglichkeit bot, Einfluss auf Polen (sowie auf die anderen Staaten Mittelosteuropas) auszuüben. Meinen Gesprächspartnern zufolge beeinflusste diese hierarchische Beziehung und eindeutige Einteilung in diejenigen, welche die Politik der Zusammenarbeit abstecken auf der einen Seite, und die passiven Empfänger auf der anderen Seite die deutsch-polnischen grenzüberschreitenden Beziehungen bis zum Jahr 2004. Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union wurden die bilateralen Beziehungen zwischen den lokalen und regionalen Verwaltungseinheiten auf eine partnerschaftliche Basis gestellt.
Es gibt jedoch nach wie vor Asymmetrien, die die Umsetzung von grenzüberschreitenden Projekten deutlich erschweren. Sie liegen in den unterschiedlichen institutionellen Systemen begründet. In Deutschland, einem föderalen Staat, können viele Entscheidungen auf der Ebene des Bundeslandes getroffen werden, während die polnischen Behörden im Grenzgebiet von den Entscheidungen des Zentrums, Warschau, abhängig sind. Die administrativen Hürden beschränken die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit u. a. im Bereich der regionalen Rettungsdienste, des Transportes oder der Bildung.
Die Asymmetrie kann aber auch positiv gesehen werden und als Schwungrad für die Zusammenarbeit fungieren. Die lokalen Akteure sehen in der Entwicklung der grenznahen Zusammenarbeit eine Möglichkeit, Schwächen auf ihrer eigenen Seite zu überwinden. Daher wird der Standort an der Grenze als eine Ressource betrachtet, die sich für einen Entwicklungsschub nutzen lässt. Beispielsweise sind die Unterschiede bei Löhnen und Preisen ein Anreiz, auf die andere Seite der Grenze zu fahren und die Ressourcen und Angebote des Nachbarn zu nutzen. Motiviert von gemeinsamen Interessen und einer gemeinsamen Vision, haben die Grenzstädte Frankfurt (Oder) und Słubice eine gemeinsame Entwicklungsstrategie erarbeitet und im Jahr 2011 ein gemeinsames Büro beider Gemeinden in Frankfurt (Oder) eröffnet – das Frankfurt-Słubicer Kooperationszentrum (Słubicko-Frankfurckie Centrum Kooperacji).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Asymmetrien einen ambivalenten Einfluss auf die deutsch-polnische Zusammenarbeit im Grenzgebiet ausüben. Vor dem Beitritt Polens zur EU erschwerte die Asymmetrie in der gegenseitigen Wahrnehmung und die Hierarchie der eingenommenen Positionen die grenzübergreifende Zusammenarbeit und Kommunikation. Andererseits motiviert die wirtschaftliche Asymmetrie die Bürger, das Nachbarland aufzusuchen. Hier ergänzen sich die deutschen und polnischen Grenzregionen gegenseitig durch ihre Unterschiedlichkeit.
Interdependenz
Im Falle der deutsch-polnischen Grenzregionen wird die Interdependenz vor allem durch die Europäische Union generiert, die Strukturen schafft und finanzielle Mittel bereitstellt. Um Zugang zu den EU-Geldern für grenznahe Zusammenarbeit zu bekommen, entwickeln die lokalen Akteure Prozedere und Institutionen zur Koordinierung der transnationalen Beziehungen, was im Ergebnis zu gegenseitiger Abhängigkeit führt.
Institutionelle Strukturen wie die Euroregionen entwerfen und realisieren gemeinsame Handlungspläne und Entwicklungsstrategien und verwalten die zugewiesenen Mittel des EU-Kleinprojektefonds (KPF). Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wird dabei als strategisches Ziel und Chance betrachtet, eine nachhaltige Entwicklung der Grenzregionen umfassend zu gewährleisten – im Bereich der Kommunikationsinfrastruktur, des Umweltschutzes, der Energiewirtschaft, des Erhaltes und Schutzes des kulturellen Erbes, der Entwicklung gemeinsamer Gesundheitsdienstleistungen, der Ordnungs- und Sicherheitsdienste, der Wissenschaft und Bildung und der Umsetzung eines grenzübergreifenden Tourismusmarketings.
Die deutsch-polnische Interdependenz in den Grenzregionen zeigt sich auch in den zahlreichen grenzübergreifenden Koordinationsgremien, den gemeinsamen Sitzungen der Stadträte der an der Grenze gelegenen Städte, in grenzübergreifenden wissenschaftlichen Institutionen, Nichtregierungsorganisationen, Schulausschüssen, Seniorenakademien usw.
In der Überzeugung der Akteure der Grenzgebiete, dass die grenznahe Zusammenarbeit für beide Seiten von Vorteil ist, spiegelt sich auch eine soziale Interdependenz wider. Die Grenzregionen müssen sich mit vielen strukturellen Problemen auseinandersetzen wie der alternden Gesellschaft, der Migration junger Menschen, mangelhafter städtischer Infrastruktur oder einer geringen Wirtschaftsentwicklung. Eine effektive grenzüberschreitende Zusammenarbeit kann manche Lösungen bieten, um die gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen. Die Lage an der Grenze kann außerdem als originäre Eigenschaft dieser Regionen vermarktet werden, beispielsweise im Bereich Tourismus und Investitionen. Diese Besonderheit des Grenzgebietes wurde von meinen Gesprächspartnern aus Frankfurt (Oder) und Słubice als Trumpfkarte herausgestellt: »Ohne die Grenze wären Frankfurt (Oder) und Słubice wenig bekannte Städte. Das ist ein Erkennungszeichen, das zur Folge hat, dass die Städte in touristischer Hinsicht attraktiv sind, wenn beide Seiten berücksichtigt werden.«
Darüber hinaus unterstrichen die Gesprächspartner die Bedeutung der lokalen Akteure und ihrer Kompetenzen. Sprachkompetenzen, Offenheit und die Kenntnis der Arbeitskultur des Nachbarn werden als Schlüsselelemente für eine gelingende grenzüberschreitende Zusammenarbeit genannt: »Sie [die Akteure der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, E.O.] sollten der anderen Seite gegenüber sehr offen sein, flexibel, offen auch für unvorhersehbare Situationen. Sogar wenn sie die Sprache nicht beherrschen, auf rechtliche Probleme stoßen, lassen sie sich nicht entmutigen, sondern suchen nach Lösungen. Das sind Kompetenzen, die Erfolge garantieren. Wichtig sind interkulturelle Kompetenzen und Sprachkenntnisse, aber wichtig ist auch Flexibilität beim Handeln und im Denken.«
Die interkulturellen Kompetenzen der lokalen Behörden tragen zur Entwicklung gesellschaftlicher Bindungen und gesellschaftlichen Kapitals bei. Das allerdings erfordert Zeit und Beständigkeit. Hier beklagen die deutschen Gesprächspartner, dass bei der Besetzung und Ausübung der leitenden Positionen in den polnischen lokalen Behörden und Wirtschaftsinstitutionen Kontinuität fehle. Der häufige Leitungs- und Personalwechsel auf der polnischen Seite erschwere eine effektive Kooperation, da die Partner auf beiden Seiten sich und ihre Arbeitsweise erst kennenlernen und Kontakte ganz neu knüpfen müssen, was wiederum Zeit erfordere und die Zusammenarbeit verlangsame.
Meine Gesprächspartner unterstreichen, dass die europäischen Fonds eine große Rolle beim Aufbau grenzüberschreitender Kontakte spielen. Sie erlauben nicht nur die Realisierung vieler wichtiger Projekte, sondern auch die Unterhaltung von Büros und die Schaffung von Arbeitsstellen, die auf die grenznahe Zusammenarbeit ausgerichtet sind.
Wie blicken die Einwohner der Grenzgebiete auf die Zusammenarbeit und die realisierten europäischen Projekte? Im Jahr 2020 wurden Umfragen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit unter den Einwohnern der EU-Grenzgebiete durchgeführt (European Commission: Cross-Border Cooperation in the EU). Bei den deutsch-polnischen Grenzgebieten handelt es sich um die drei »Interreg grenzüberschreitenden Kooperationsprogramme«: Deutschland/Brandenburg-Polen; Polen-Deutschland/Sachsen; Deutschland (Mecklenburg-Westpommern/Brandenburg)-Polen. Die Erhebungen zeigen, dass die Einwohner dieser Gebiete nur wenig über die realisierten europäischen Programme wissen. Nur knapp 22 Prozent der deutschen und polnischen Befragten haben etwas über die grenzüberschreitenden Tätigkeiten gehört, die in ihrer Region dank europäischer Fördermittel realisiert wurden. Beunruhigend ist die Tatsache, dass die Anzahl der Befragten, die von EU-geförderten Initiativen gehört hat, seit dem Jahr 2015 (der vorangegangenen Umfrage) um fast 20 Prozent gesunken ist. Als Hindernisse für die grenznahe Zusammenarbeit nannten die Befragten vor allem die Sprache (ca. 77 Prozent), wirtschaftliche und soziale (53 Prozent), rechtlich-administrative (52 Prozent) sowie kulturelle Unterschiede (47 Prozent). Interessant ist, dass unter den Befragten der insgesamt 54 grenzübergreifenden geförderten Regionen die Befragten der deutsch-polnischen Grenzgebiete an der Spitze derjenigen standen, die die kulturellen und sprachlichen Unterschiede als größtes Problem betrachten. Im Vergleich zu der Umfrage im Jahr 2015 sank unter den Befragten des Programms »Polen-Sachsen«, die Zahl derjenigen, die kulturelle Unterschiede als Problem wahrnahmen, während sie in den beiden anderen deutsch-polnischen Interreg-Kooperationsprogrammen stieg.
Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen, dass trotz der großen Bedeutung, die die Experten den EU-Fonds zuschreiben, die Einwohner der Grenzregionen nur einen geringen Anteil der EU an der Entwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wahrnehmen.
Fazit
Im Jahr 2021 wird der 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen begangen, der das Fundament für die Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen legte. Für die Behörden der Grenzregionen bedeutete der Vertrag den Beginn einer neuen Ära für den Aufbau der grenzüberschreitenden Beziehungen und für die lokalen Gesellschaften das Ende der Ungewissheit und des »Sitzens auf den Koffern«.
Zunächst war das Hauptmotiv der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit die Versöhnung – die Enttabuisierung der Geschichte, die Überwindung von Vorurteilen und die Verarbeitung historischer Erfahrungen.
Sehr schnell wurden institutionelle Strukturen geschaffen wie die Euroregionen oder Partnerschaften zwischen den Zwillingsstädten an der Grenze. Der Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004 und zum Schengenraum im Jahr 2007 sowie die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Polen im Jahr 2011 hob die physische und administrative Grenze zwischen Deutschland und Polen deutlich sichtbar auf. Schrittweise wurde die Grenze nicht mehr als Barriere wahrgenommen, sondern als Ressource, die man für Marketing-Zwecke sowie zum Ausgleich der eigenen Defizite mit Hilfe des Potentials des Nachbarn nutzen kann.
Auf der Grundlage der geführten Interviews und der Analyse von Dokumenten lässt sich feststellen, dass die bilateralen Beziehungen auf subnationaler Ebene als stabil bezeichnet werden können, verankert in EU-Programmen und institutionalisierten grenzübergreifenden Strukturen, wie den Euroregionen oder Partnerstädten. Ebenso lassen sie sich als widerstandsfähig gegenüber Veränderungen und Beeinträchtigungen auf nationaler Ebene beurteilen. Die Abkühlung der deutsch-polnischen zwischenstaatlichen Beziehungen seit der politischen Wende in Polen im Jahr 2015 hat nach Einschätzung der Experten aktuell keinen direkten Einfluss auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Allerdings hat sich die Atmosphäre der Zusammenarbeit dahin gehend verändert, dass sie nicht mehr so förderlich für die Realisierung deutsch-polnischer Projekte ist.
Was die Determinanten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit betrifft, so fungieren die Asymmetrie und das historische Erbe sowohl als motivierender als auch als erschwerender Faktor für die grenznahe Zusammenarbeit. In diesem Zusammenhang kann die Interdependenz, die im grenzüberschreitenden Bereich vor allem durch die europäischen Programme und Fonds geschaffen wird, als stärkster von oben kommender Faktor bewertet werden, der grenzüberschreitende Initiativen weckt. Die deutschen und polnischen Akteure nehmen die grenzüberschreitenden Aktivitäten als nützlich für beide Seiten wahr. Die Zusammenarbeit ist bereits Normalität und Routine, die nach Meinung der Experten sogar fortgesetzt werden wird, wenn es keine Unterstützung mehr aus den europäischen Fonds geben sollte.
Insgesamt arbeiten die Deutschen und Polen auf subnationaler Ebene trotz nationaler Unterschiede, innenpolitischer Veränderungen und Corona-Pandemie zusammen. Die gemeinsame Abhängigkeit von europäischen Fonds und institutionellen Strukturen, die Anerkennung des beiderseitigen Nutzens der Zusammenarbeit, aber auch das gesellschaftliche Kapital, das in den letzten 30 Jahren aufgebaut werden konnte, gewährleisten die beiderseitigen Verbindungen. Die Perspektive der lokalen Akteure gibt ein Zitat aus einem meiner Interviews wieder: »Wir sitzen im gleichen Boot.«
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Diese Analyse ist die leicht veränderte und aktualisierte Kurzfassung des Kapitels »Determinants of the Cross-border Cooperation in the German-Polish Borderland«, das in dem Buch »Poland and Germany in the European Union. The Multidimensional Dynamics of Bilateral Relations«, hrsg. von Elżbieta Opiłowska und Monika Sus, Routledge Advances in European Politics 2021, erschienen ist.