Deutsch-polnischer Jugendaustausch vor und während der Wende 1989/90
Zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des »Abkommens über das Deutsch-Polnische Jugendwerk« am 17. Juni 1991 durch die Außen- und die Jugendminister beider Staaten soll eine Zwischenbilanz zur Entwicklung der deutsch-polnischen Nachbarschaft im Bereich des Jugendaustausches gezogen werden. Nicht immer herrschte politisch eitel Sonnenschein, es kamen zwischenzeitlich auch Gewitter und Stürme auf. Hier wird es vor allem um die Zeiten mit klarer Sicht sowie um einige Wolken gehen.
Als das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) nach diversen Vorbereitungsarbeiten vor knapp 30 Jahren seine Arbeit aufnahm, konnte es in Deutschland an eine Vielzahl von Beziehungen anknüpfen, die sich unter den Vorzeichen des Ost-West-Konflikts entwickelt hatten. Aus der Zivilgesellschaft im Westen waren es u. a. die Kirchen, Jugendverbände im Deutschen Bundesjugendring (DBJR) wie die Pfadfinder sowie die Deutsche Sportjugend, die bereits einen Austausch mit Polen pflegten. Eine Reihe Bundesländer mit besonderen Bezügen zu Polen und der Bund waren ebenfalls für den Jugend- und Schulaustausch tätig. Zahlreiche deutsch-polnische Städte- und Gemeindepartnerschaften wurden seit den 1970er Jahren gegründet. Eine wichtige Rolle spielte zudem die Versöhnungsarbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF). Schon lange vor 1991 setzte ASF wichtige Impulse für das Miteinander, zum Beispiel durch die Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz und Freiwilligendienste an Orten im heutigen Polen, wo in der Zeit der deutschen Besatzung Konzentrationslager errichtet worden waren. Nach der Versöhnungsmesse im niederschlesischen Kreisau (Krzyżowa), an der der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki im November 1989 teilgenommen hatten, spielte die Idee, eine Internationale Jugendbegegnungsstätte in Kreisau aufzubauen, eine große Rolle.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die unterschiedlichen Traditionen der Beziehungen in West und Ost. Auch von Seiten der DDR bestanden über »Ferienmaßnahmen« im Rahmen eines staatlich organisierten Jugendaustausches Kontakte zum sozialistischen Bruderland Polen. Das Miteinander zwischen den Nachbarländern gestaltete sich aber nicht spannungsfrei.
Das Interesse auf deutscher Seite war groß, die Chancen der Wende in Deutschland und der Transformation in Polen für einen Aufbruch im Miteinander zu nutzen. Dies korrespondierte mit dem ebenfalls hohen Interesse der polnischen Gesellschaft an einem Aufbau und Ausbau der Beziehungen.
Bei den zahlreichen Neugründungen von Initiativen und Einrichtungen ging es den Trägern in Polen erst einmal darum, die eigene Arbeit aufzubauen und dafür Arbeitsstrukturen zu schaffen. Der Kontakt mit und das Kennenlernen von Partnern aus dem Ausland wurde dabei als sehr hilfreich empfunden, weil der Erfahrungsaustausch und der Aufbau von Kooperationsstrukturen beide Seiten bereicherte. Die Unterstützungsmöglichkeiten des DPJW stellten hier eine große Hilfe dar.
Die politischen Rahmenbedingungen waren für diese Entwicklungen ausgesprochen förderlich. Erinnert sei nur an die Abschaffung der Visagebühren im Jahr 1990 und die Einführung der Visafreiheit für Austauschbesuche sowie die Unterzeichnung der verschiedenen Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen bereits in den Jahren vor der Gründung des DPJW. Wesentlich für das verstärkte Interesse am Jugendaustausch, der immer auch den Schüleraustausch einschloss, war die Errichtung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks als binationale Einrichtung mit Sitz in Potsdam und Warschau im Jahr 1991 und dessen Ausstattung mit eigenen Finanzmitteln. Seit Aufnahme der Tätigkeit im Jahr 1993 konnten sich mit Unterstützung des DPJW mehr als drei Millionen junger Menschen begegnen.
Einen Einblick, wie die westdeutsche Seite die Lage der Jugend in Polen einschätzte, gibt die Materialsammlung des Jugendministeriums der Bundesrepublik Deutschland vom November 1989 zur Information der Trägerorganisationen: »Wohnungsnot, Desorientierung und Auswanderung kennzeichnen die soziale Lage der Jugend in Polen heute. […] Schlüsselerlebnisse für die junge Generation sind Krise, Kriegsrecht und politischer Umbruch im Land. […] 1979 herrschte noch die Hoffnung vor, dass Veränderungen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft möglich seien und der Glaube daran erhielt insbesondere in den Jahren 1980/81 neue Nahrung. Aber die Krise ließ keinen Spielraum […].«
Gemeinsamkeit als Grundsatz des DPJW
1989 nahmen 3.000 deutsche und 2.000 polnische Jugendliche an rund 200 Programmen des internationalen Jugendaustausches teil, die von der deutschen Bundesregierung gefördert wurden. Hinzu kamen Aktivitäten, die von den Bundesländern, den Kommunen und privat unterstützt wurden. Von polnischer Seite liegen mir keine Zahlen vor; zu diesem Zeitpunkt gab es auch noch keine systematische Förderung für den Austausch mit dem Westen. 30 Jahre später wurden im Jahr 2019 laut Geschäftsbericht des DPJW 38.880 Teilnehmende aus Deutschland und 40.069 aus Polen bei Begegnungen gezählt.
Dieser Erfolg ist entscheidend dem Umstand zu verdanken, dass das DPJW Begegnungen, Austausch und Zusammenarbeit auf der Grundlage von Richtlinien fördern konnte, die seit der Gründung im Wesentlichen unverändert gelten. Unter der Maßgabe, dass die finanzielle Förderung immer die direkte Begegnung der Beteiligten zum Ziel haben muss, ermöglichen sie den Trägern – ganz praxisorientiert – große Gestaltungsspielräume. Als zweite Komponente baut das DPJW auf die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft beider Länder über sog. Zentralstellen. Das sind Partnerinstitutionen, die für Antragsteller aus einer bestimmten Region oder mit einer bestimmten Zugehörigkeit (Kirche, Pfadfinder) zuständig sind. Unter Beachtung der Förderrichtlinien gestalten die Zentralstellen in eigener Verantwortung die Austauscharbeit und entwickeln sie weiter. Auch hier wird – wie bei den Austausch-Begegnungen – darauf geachtet, dass polnische und deutsche Partnerorganisationen zusammenarbeiten. Auf polnischer Seite war diese Arbeitsstruktur anfangs nicht selbstverständlich, sie hat sich aber inzwischen eingespielt und stellt einen wichtigen Bestandteil der Infrastruktur des Austausches dar. Die Ausrichtung auf bilaterale Gemeinsamkeit gilt auch für das DPJW selbst. In die Geschäftsführung wird je eine Person von deutscher und von polnischer Seite berufen. Beide sind gemeinsam für die Arbeit verantwortlich. Die Büros in Warschau und Potsdam sind binational besetzt. Die laufenden Geschäfte werden nicht nach nationalen Kriterien betrieben, sondern nach sachlichen Erfordernissen, bestimmt von gemeinsam festgelegten Grundsätzen. So wie das DPJW bei den geförderten Maßnahmen fordert, dass es zu einer Begegnung kommt, praktiziert es im Büro selbst Begegnung als Grundsatz. Als dritte Komponente ist die Fähigkeit der Verantwortlichen im DPJW zu nennen, immer wieder neue Herausforderungen aufzugreifen und flexibel auf Bedürfnisse zu reagieren. Hier denke ich an den Ausbau von Praktika zur Berufsorientierung, Berufsvorbereitung oder Weiterbildung, an die Freiwilligendienste, die Sonderaktionen aus Anlass der Oderhochwasser in verschiedenen Jahren oder die Zusammenarbeit mit Drittländern wie der Ukraine. Auch das Förderprogramm »Individueller Jugendaustausch #2amongmillions« gehört in diese Reihe innovativer Ideen: Es ermöglicht niedrigschwellig, dass deutsche und polnische Jugendliche, die sich bei einem Austausch kennengelernt haben, Kontakt halten. Diese kreative Grundhaltung hat sich auch in den vergangenen Monaten der Corona-Pandemie gezeigt: Entwickelt wurden Online-Angebote und Sonderbedingungen für die Projektförderung. Dadurch ist es gelungen, die Infrastruktur des Austausches und dessen Fortsetzung aufrecht zu erhalten, auch wenn Begegnungen vor Ort pandemiebedingt praktisch unmöglich waren. Das Beratungsangebot, die Erstellung von Informationsmaterialien und Arbeitshilfen sowie Fortbildungen machen deutlich, dass sich das DPJW als Dienstleister versteht.
Finanzielles und Formales
Auch von den finanziellen Mitteln, die für den Austausch zur Verfügung stehen, muss gesprochen werden, weil sie eigentlich nie ausreichten. Grundsätzlich übernimmt das DPJW nicht einfach die Kosten einer Begegnung, sondern bestimmt Festbeträge für einzelne Positionen, die unterstützt werden sollen, zum Beispiel Fahrtkosten, Aufenthaltskosten oder Kosten für die Sprachmittlung. Der tatsächliche Aufwand, der damit nicht vollständig gedeckt ist, muss in Verantwortung der Träger über Teilnahmebeiträge, Eigenbeiträge der Träger, Eigenleistungen, Spenden oder andere Zuschüsse aufgebracht werden. Der Bedarf der Träger überstieg immer die beim DPJW vorhandenen Mittel. Als Antwort auf die Frage, wie das Geld trotzdem »gerecht« verteilt werden könnte, wurde als Notlösung die »Quote« erfunden. Das Verfahren wurde für Einzelantragsteller etwas anders gehandhabt als für Zentralstellen. Die Bewilligung des möglichen Zuschusses auf der Grundlage der Festbeträge wurde je nach Jahr auf durchschnittlich jeweils rund 50 Prozent festgelegt, also die Hälfte der anerkannten Festbeträge. Die Zentralstellen konnten je nach Situation auch andere Prozentsätze festlegen, solange der Gesamtdurchschnitt für alle Maßnahmen im Jahr eingehalten wurde.
Erfreulicherweise ist es durch politische Lobbyarbeit immer wieder gelungen, die Regierungen und Parlamente in beiden Staaten über die Jahre davon zu überzeugen, dass eine Erhöhung der Haushaltsmittel erforderlich ist. Mehr Geld hieß aber nicht unbedingt, dass nun mehr gemacht werden konnte. Auch die bestehenden Aufgaben sind umfangreicher geworden, u. a. wurde seit Januar 2019 nach langjährigen Verhandlungen die Förderung des Schulaustausches der deutschen Schulen übernommen. Diese lag bis dahin in der alleinigen Zuständigkeit der deutschen Bundesländer. Im Sinne des Grundsatzes der Subsidiarität hat das DPJW Fördervereinbarungen mit großen Trägern abgeschlossen, die im laufenden Jahr und darüber hinaus Planungssicherheit garantieren und den langfristigen Aufbau von Zusammenarbeit, Experimente und Innovation sowie eigene Wege der Qualitätssicherung ermöglichen.
Im Prinzip wird der Etat von beiden Ländern zu gleichen Teilen getragen, aber die Praxis zeigt, dass das nicht immer gelingt. Die Partnerregierungen mussten sich mit Rücksicht auf Bevölkerungszahlen, Wechselkurs und Wirtschaftsentwicklung auf Kompromisslösungen verständigen. Die Entwicklung der Lebensverhältnisse in beiden Ländern lieferte Begründungen für die Aufstockungen des Etats und der Fördersätze. Im Einvernehmen mit den Trägern, die das DPJW in regelmäßigen bilateralen Zentralstellenkonferenzen und über eine eigene Richtlinienkommission konsultiert, werden Vorschläge erarbeitet. Durch Zustimmung des Aufsichtsgremiums, des Deutsch-Polnischen Jugendrates, den beide Regierungen berufen, werden sie einvernehmlich genehmigt. Auch hierin wird das vom DPJW praktizierte Prinzip der Gemeinsamkeit sichtbar.
Schon zu Gründungszeiten des DPJW waren Formulare und Verfahren zur Antragstellung und Abrechnung relativ einfach gehalten, auch wenn natürlich Ungeübten der »Verwaltungsaufwand« immer noch zu hoch erschien. Die Antragstellung, die Erstellung von Förderbescheiden und die Abrechnung von Förderprojekten erfolgt heute im Wesentlichen über die digitalen Instrumente des Onlineportals »OASE«. Diese ermöglichen Einblick in den Bearbeitungsstand des Antrags für den Antragssteller bis hin zu den Rechnungshöfen aus beiden Ländern. Darüber hinaus bieten das Onlineportal »Sowa« und die Webseite Informationen über Förderprogramme und Fortbildungen und stellen die Zentralstellen, Förderreferate und Geschäftsführungen vor.
Gemeinsamkeiten trotz Disparitäten
Die Ausgangs- und Rahmenbedingungen für den Jugendaustausch lassen sich unter dem Leitgedanken »Gemeinsamkeiten trotz Disparitäten« zusammenfassen. Gemeint sind hier beispielsweise Unterschiede bei den Bevölkerungszahlen und der Wirtschaftsentwicklung, den Formen der staatlichen Förderung, der Rolle der Zivilgesellschaft und der außerschulischen Bildung, dem gegenseitigen Interesse, den Kenntnissen und Vorurteilen über die Geschichte und Lebenssituation des anderen Landes sowie bei der Prägung durch die eigene Lebensgeschichte und Traditionen.
Die unterschiedliche Größe unserer Länder und ihrer Bevölkerungszahlen, die Probleme, bestimmte Regionen zu erreichen (ungünstige Verkehrsverbindungen) und vor allem die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation nicht nur in Polen machte immer wieder besondere Regelungen erforderlich. Das begann bei der Bestimmung der Parität der Regierungsbeiträge, der Einführung (und späteren Abschaffung) des Taschengeldes (nur) für die polnischen Teilnehmenden, der unterschiedlichen Behandlung bei den Fördersätzen für die Unterbringung in Familien, Hotels und Bildungsstätten, den Regelungen für den Austausch in den grenznahen Gebieten und endete bei der Identifizierung von Zielgruppen mit besonderem Unterstützungsbedarf.
Organisationen und Einrichtungen der Zivilgesellschaft, gesellschaftliches Engagement und Ehrenamt im Allgemeinen und für den Austausch im Besonderen haben in beiden Ländern ganz unterschiedliche Traditionen. Während in Deutschland viele nicht-staatliche Gruppen aktiv sind und die außerschulische Jugendarbeit einen selbstverständlichen und großen Anteil daran hat, stellte das deutsche Jugendministerium im November 1989 fest: »Im Jugendbereich [in Polen] ist es seit 1988 zu fast lawinenartig zunehmenden Gründungen von neuen Gruppen gekommen.« Als Beispiel werden vier Organisationen mit größerer Resonanz aus der Friedensbewegung, der Ökologiebewegung, der Alternativbewegung und der Studentenbewegung genannt, die in dieser Form heute nicht mehr existieren. Das Verschwinden dieser Gruppen ist – wie auch in Deutschland – dem Wandel gesellschaftlicher Trends und der Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft geschuldet. Entsprechend treten neue Gruppen und Initiativen auf den Plan.
Große Unterschiede in beiden Ländern finden wir bei den Formen der staatlichen Förderung. Der internationale Jugendaustausch mit Westdeutschland wurde in Polen Anfang der 1990er Jahre in geringem Ausmaß über eine Regierungsstelle gefördert. Die Träger konnten ihren Antrag stellen, erfuhren aber erst nach Durchführung des Austausches, ob sie gefördert werden oder nicht. Das Verfahren war also mit einem hohen wirtschaftlichen Risiko verbunden (und die Förderung wurde eher als Belohnung verstanden). Vielfach kam es deshalb dazu, dass in der Partnerschaft die Idee der Gegenseitigkeit, wonach der jeweilige Gastgeber die Kosten für den Aufenthalt trägt, nicht umgesetzt werden konnte. Die deutschen Gruppen hatten es leichter, weil es in ihrem Land auf allen Ebenen ein ausdifferenziertes staatliches Fördersystem gab, das Planungssicherheit für die Förderung in der Regel vor Beginn der Begegnung schuf. Das DPJW hat daraus Konsequenzen gezogen und alle Seiten in besonderer Weise berücksichtigt. Ein wesentliches Merkmal der Förderung durch das DPJW sind Planbarkeit und Transparenz. Da großer Wert darauf gelegt wurde, die Entscheidung über die konkrete Förderhöhe in die Verantwortung der Zentralstellen zu legen, konnte in Polen mit Hilfe der DPJW-Förderung über die Jahre eine Infrastruktur der Austauscharbeit über Zentralstellen aufgebaut werden. Bedauerlicherweise hat sich die Erwartung nicht erfüllt, dass in Polen auch in anderen Bereichen der Jugendarbeit und der außerschulischen Bildung die staatliche Förderung eingeführt würde. Außerhalb des Jugendaustausches fehlen hier Perspektiven.
Anpassungsbedarf und Spannungen bei der praktischen Umsetzung gab es auch beim Verständnis der außerschulischen Bildung. Die in Deutschland gepflegten Traditionen der freiwilligen Teilnahme, der Beteiligung der Teilnehmenden bei der Gestaltung der Programme und der Selbstverantwortung der jungen Menschen sowie die Forderung nach fachlich qualifizierter Begleitung ließen sich nicht auf die Situation in Polen mit anderen Bildungs- und Erziehungskonzepten übertragen und führten zu Spannungen im Miteinander. Die Angleichung der Lebensverhältnisse hat hier die Problemlagen verändert und heute geht es oft mehr darum, wie die Beteiligung an der Gestaltung der Begegnung ermöglicht und organisiert wird.
Wichtige Unterschiede sind auch beim gegenseitigen Interesse der breiten Bevölkerung festzustellen. Auf deutscher Seite sind die Kenntnisse über die Geschichte und die Lebenssituationen der Polen leider sehr gering. Da viele Menschen nie in Polen waren, dominieren eher Vorurteile über das andere Land. Während diese früher beispielsweise in »Polenwitzen« zum Ausdruck kamen, werden sie heute durch die Haltung Polens zur Flüchtlingsfrage oder zur LGBTQ-Bewegung geprägt. Umgekehrt halten eine Reihe von Polen Deutsche für geschichtsvergessen und sehen in Deutschland nicht – wie früher – einen verlässlichen Partner für den Schutz vor Bedrohungen aus dem Osten. Wie sich diese Entwicklung über die Jahre darstellt, lässt sich anhand der regelmäßigen Umfragen wie im »Deutsch-Polnischen Barometer« (s. »Lesetipp«) nachvollziehen. Die Ansichten über das andere Land waren und sind zudem durch die individuelle Lebensgeschichte und ihre Traditionen geprägt. Ich nenne für Deutschland die Vertriebenen und die Aussiedler, für Polen die Menschen, die nach dem Krieg in den westlichen und östlichen Grenzgebieten Polens »angesiedelt« wurden, außerdem die deutsche Minderheit, die in Polen lebt, und die Menschen, die durch Deutschland während des Zweiten Weltkriegs Unrecht erlitten haben (Zwangsarbeit, Inhaftierung im Konzentrationslager, Verluste durch Kriegseinwirkungen usw.) bzw. deren Familienangehörige. Aktuell kommen auch Erfahrungen als Pflegekraft, Erntehelfer oder im Handwerk hinzu.
Das DPJW hat sich dieser Ausgangssituation angenommen und durch zahlreiche Projekte und in vielen Publikationen Problemlagen aufgearbeitet und Informationen zusammengestellt. Ich nenne hier aus dem Arbeitsbereich »Geschichte und Landeskunde« einige Veröffentlichungen: »#StolenMemory als deutsch-polnisches Bildungsprojekt« mit einem eigenen Förderprogramm, »Deutschland, Polen und der Zweite Weltkrieg«, »DPJW Handreichung – Hinweise zum Besuch von Gedenkstätten durch deutsch-polnische Gruppen« oder »Deutschland und Polen entdecken – Illustrierte deutsch-polnische Landkarte«. Einen guten Überblick gibt außerdem das DPJW-Magazin »INFO« mit Artikeln zu geschichtsbezogenen Themen (Themenheft »Geschichte und Erinnerung«). Dazu steht in der Ankündigung: »Im deutsch-polnischen Jugendaustausch spielt Geschichte so gut wie immer eine Rolle, selbst wenn sie nicht explizit Thema einer Begegnung ist. Entsprechend viel Raum nimmt sie in der Arbeit des DPJW ein. In das Gedenkjahr 2019 fielen Jahrestage so unterschiedlicher Ereignisse wie des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, des Warschauer Aufstands, aber auch des Mauerfalls und des polnischen EU-Beitritts. Und auch 2020 – 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und dem Ende des Zweiten Weltkriegs – wird es erneut Anlass geben zurückzuschauen. Aus diesem Grund möchte das DPJW im INFO aufzeigen, wie das Thema Geschichte bei deutsch-polnischen Jugendbegegnungen so thematisiert werden kann, dass es zum Nachdenken anregt und Anlass zu Diskussionen bietet.«
Was die Akteure im Austausch selbst betrifft, so spielen – ohne gegenüber den vielen anderen Akteuren ungerecht sein zu wollen – von Beginn an die katholische und die evangelische Kirche, die Partnerschaften auf Städte- und Gemeindeebene, die Gedenkstätten sowie der Schulaustausch eine große Rolle. Bis heute sind viele weitere Akteure hinzugekommen wie die Sportjugend, die kulturelle Jugendarbeit, die Jugendarbeit in Hilfsorganisationen verschiedenster Art (zum Beispiel die Feuerwehrjugend), außerdem Jugendherbergen und Bildungsstätten mit eigenem Bildungspersonal, die sich der deutsch-polnischen Zusammenarbeit verschrieben haben. Auf polnischer Seite haben grenzübergreifende Zusammenschlüsse wie die Euroregion Pomerania oder nationale wie der Verein Christlicher Bildungswerke (Stowarzyszenie Chrześcijańskich Dzieł Wychowania – SChDW) von Anfang an die Arbeit geprägt. Auf deutscher Seite werden die katholischen Gruppen über das Jugendhaus Düsseldorf e.V. und die Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) e.V. begleitet. Eine Würdigung dessen, was diese und viele andere Träger für die gute nachbarschaftliche Zusammenarbeit geleistet haben, müsste in einem eigenen Beitrag geschehen.
Für die Zukunft
Was sollten wir für die Zukunft des deutsch-polnischen Jugendaustausches beachten? Alle Engagierten möchte ich zu folgenden Aktivitäten anregen:
Wir müssen die Erfahrungen aus der Zeit der Corona-Pandemie konstruktiv aufgreifen und die unverzichtbaren direkten Begegnungsmöglichkeiten vor Ort um digitale Formen der Begegnung dauerhaft ergänzen. Die »technischen« Möglichkeiten, die bei der Begegnung und Zusammenarbeit eingesetzt werden, sollten für eine inhaltliche Offensive genutzt werden – die Bearbeitung von gemeinsam interessierenden Themen oder Kontroversen in unseren Gesellschaften, zum Beispiel Energiewende, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, Verständnis von Europa, Umgang mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.Trotz vieler Erfolge dürfen wir uns nicht auf ihnen ausruhen, denn Versöhnung und Verständigung in einer guten Nachbarschaft sind eine Daueraufgabe. Deshalb sollten wir immer wieder nach Anlässen für Zusammenarbeit suchen.Wir gewinnen Erwachsene als Unterstützer*innen für den Jugendaustausch und als Vermittler*innen zwischen den Kulturen, indem wir diejenigen Menschen zum Mitmachen animieren, die im Laufe der Jahrzehnte positive und oft lebensbeeinflussende Erfahrungen im Austausch gemacht haben.Wir gewinnen neue Generationen junger Menschen für die Beteiligung und Mitwirkung am grenzüberschreitenden Austausch, indem wir ihnen gelungene Beispiele des Miteinanders vorleben.Wir setzen uns politisch dafür ein, dass der Jugendaustausch zwischen Deutschland und Polen bei allen Erfolgen eine weitere Steigerung der Finanzbeiträge der Regierungen erfordert.