Der Beginn der zweiten Sommerferien in der Corona-Pandemie ist ein guter Zeitpunkt, um Revue passieren zu lassen, was in den letzten anderthalb Jahren in der polnischen Politik geschehen ist. Die Ereignisse von Ende Juni/Anfang Juli 2021 hätten Anfang 2020 als revolutionär gegolten – die Fraktion von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) hat die parlamentarische Mehrheit im Sejm verloren, die Ankündigung, dass der Europaabgeordnete Donald Tusk aus den Reihen der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) als Oppositionsführer in die polnische Politik zurückkehrt, wurde Realität. Doch heute machen diese Ereignisse keinen besonderen Eindruck mehr. In den vergangenen 16 Monaten haben wir so viele außergewöhnliche Situationen und ein solches Stimmungskarussell erlebt, dass nun alle Veränderungen mit Vorsicht behandelt werden. In ihnen unwiderrufliche Entwicklungen zu suchen, wäre verfrüht. Man kann die Ereignisse allerdings als Beweis für eine spezifische paradoxe Eigenschaft des polnischen politischen Systems betrachten – das vorhersehbare Hin- und Herschwanken. Die ganze Konstruktion dieses Systems erinnert an moderne Gebäude in Erdbeben gefährdeten Gebieten: Sie wanken bei Erschütterungen, sind aber in ihren Grundfesten nicht betroffen. Doch obgleich sich die Basiskonstruktion stabil hält, kommt es nach vielen Stößen zu ungeplanten Ummöblierungen in allen Bereichen.
Die Hauptkomponenten der Situation haben sich nicht verändert. Die politischen Organe sind stabil geblieben, an der Spitze stehen immer noch Andrzej Duda als Präsident und Mateusz Morawiecki als Ministerpräsident. Versuche der Opposition, Minister mit Schlüsselfunktionen abzuberufen, waren erfolglos. In detaillierten gesellschaftlichen Analysen wird die Festigkeit der Trennungslinien sichtbar. Es ließe sich annehmen, dass die polnische Politik ähnlich wie die polnische Wirtschaft aus der Pandemie hervorgeht, das heißt in einer deutlich besseren Verfassung als noch zu Anfang der Corona-Krise vorhergesagt wurde.
Allerdings lässt sich bei genauerer Betrachtung der Situation eine Reihe von Veränderungen feststellen, die vielleicht nicht revolutionär, aber bedeutsam sind. Die Akteure des Dramas sind genau dieselben wie am Anfang der Pandemie, aber das Zusammenspiel der gegenseitigen Emotionen, Sympathien, Strategien und Pläne hat sich bereits verändert.
Der Stand der Dinge
Der Verlust der parlamentarischen Mehrheit aufseiten der PiS-Fraktion (nun 229 Mandate gegenüber 231 Sitzen aller anderen Abgeordneten) hängt stark mit der allgemeinen Schwäche des Regierungslagers zusammen. Die Unterstützung für die PiS in den Umfragen sank gegenüber dem Jahr 2019 deutlich, sowohl im Vergleich zu den Ergebnissen vor als auch nach den Parlamentswahlen im Herbst 2019, die den Machterhalt der PiS ermöglichten. Im für die Regierung schlimmsten Fall fiel die Zustimmung um ein Drittel im Vergleich zum Höhepunkt vor den Sejmwahlen 2019, die der PiS und ihren Bündnispartnern die absolute Mehrheit einbrachten. Heute oszilliert die Zustimmung auf einem Niveau von zehn Prozentpunkten weniger als vor zwei Jahren. Das ist eine Rückkehr zu der Situation im Jahr 2017, als die Hälfte der damaligen Wahlperiode vorbei war. Die Veränderung ist also sehr deutlich. Frühere Erfahrungen haben gezeigt, dass die Parteien in Polen die Möglichkeit haben, Umfrageverluste im Laufe ihrer Regierungszeit auch wieder aufzuholen. Allerdings ist das sicherlich mit jedem Mal schwieriger. Auch wenn es gelingt, das frühere Niveau wiederzuerlangen, hält das gewöhnlich nicht allzu lange an, wie bei der PO zu sehen war.
Auch im Regierungslager kam es zu wesentlichen Veränderungen. PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński wurde in die Regierung als stellvertretender Ministerpräsident aufgenommen, um den Zusammenhalt der Regierungskoalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) zu retten. Zwar scheint diese Lösung weder von Dauer zu sein noch etwas in der Konstellation der Regierung selbst zu verändern, doch ist sie Ausdruck der außergewöhnlichen Situation. Eine sehr wichtige Veränderung im Vergleich zur Lage vor zwei Jahren ist das Ausmaß der Spannungen im Regierungslager, das von der PiS, der Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska) von Justizminister Zbigniew Ziobro und der Partei Verständigung (Porozumienie) von Entwicklungsminister Jarosław Gowin gebildet wird. Allgemein verbreitet sind Kommentare, dass das Regierungsbündnis schon vollkommen rissig ist, und die Wahrscheinlichkeit eines gemeinsamen Starts in den nächsten Wahlen wird in Zweifel gezogen. Diese Diagnosen scheinen ein Symptom der bestehenden heftigen Unruhe sein, und tatsächlich fehlt in den Äußerungen der jeweiligen Akteure gegenüber den anderen bereits vollständig die diplomatische Zurückhaltung, was auf einen umfassenden Mangel an Loyalität und Misstrauen gegenüber den Koalitionspartnern hinweist. Das Bündnis wirkt unbeständig und so, als würde es sich allein aufgrund mangelnder Alternativen aufrecht erhalten sowie des fernen Termins der nächsten Wahlen (2023), die seine unvermeidliche Überprüfung bedeuten.
Auch Versuche, Vizeministerpräsident Jarosław Gowin, Parteivorsitzender von Verständigung, zu verdrängen, werden die ganze Zeit aufmerksam verfolgt. Jarosław Kaczyński unterstützt offen die Abtrünnigen beim ungeliebten Koalitionspartner. Die Initiative von Adam Bielan, einem der Politiker von Verständigung, und einem Teil der Gründungsmitglieder dieser Partei ist eindeutig darauf ausgerichtet, Gowin aus der Regierung zu schieben. Das ist ein Signal, das die wachsenden Probleme des Regierungslagers anzukündigen scheint. Ähnlich gestaltete sich die Situation Gowins in der Regierung von Donald Tusk (PO). Gowins Herausdrängen aus der PO-Regierung in den Jahren 2013/14 ging den späteren Wahlniederlagen der PO voraus.
Theoretisch hat die PiS die Möglichkeit, eine alternative Mehrheit zu bilden. So haben sich bereits bei einigen Abstimmungen Mehrheitsverhältnisse anders zusammengesetzt. Jarosław Kaczyński sucht die Verständigung mit Abgeordneten, die zum sogenannten »Plankton« gehören. Gemeint sind kurzlebige Konstellationen von Personen, die infolge von parteiinternen Konflikten aus den größeren Parteien ausgeschieden sind, zum Beispiel mit den Überlebenden der einst starken Antiestablishment-Bewegung Kukiz ‘15 (nach ihrem Parteigründer Paweł Kukiz). Auch die kleinste Partei, die Konföderation (Konfederacja) mit einer starken Antisystem-Färbung, gehört zu den Teilnehmern dieses Spiels. Insgesamt lässt sich die Erschütterung der parlamentarischen Basis der Regierung nicht mehr abstreiten. Sie ist eine Folge der sinkenden Autorität von Jarosław Kaczyński in seiner eigenen Partei sowie der Konflikte und Krisen, die seit Beginn der Corona-Pandemie aufgetreten sind.
Diese Ereignisse beeinflussten auch die interne Lage der Opposition, wenn dies auch zunächst nur in Umfragewerten sichtbar wird. Wenn die PiS die Situation von 2017 wiedererlebte, als sie ein Umfragetief gehabt hatte, kehrte die PO zum Zustand von 2016 zurück, als sie auf den dritten Platz zurückgefallen und von der neuen Oppositionspartei Die Moderne (Nowoczesna) überholt worden war. Diese Situation war nicht von Dauer und ein Jahr später gelang es der PO, die Rolle des Oppositionsführers wiederzuerlangen. Heute wird die PO von der neuen Gruppierung von Szymon Hołownia, Polen 2050 (Polska 2050), überholt. Sie stellt aber wie vor fünf Jahren immer noch die größte Fraktion in der Opposition und hat im Vergleich zu den anderen landesweit vertretenen Parteien die stärkste Repräsentanz in der lokalen Selbstverwaltung, insbesondere in den größten Städten. Zudem übernimmt sie in der Hälfte der Woiwodschaftslandtage die Regierungsverantwortung, zusammen mit ihrem Koalitionspartner Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), die auch ihr Partner in der Europäischen Volkspartei (EVP) ist, sowie mit geringer Unterstützung der Linken (Lewica).
Auf dem linken politischen Flügel fand eine teilweise Vereinigung statt: Die alte linke Partei Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) hat sich mit Frühling (Wiosna) von Robert Biedroń, einer Initiative aus dem Jahr 2019, zur Neuen Linken (Nowa Lewica) zusammengeschlossen. Die Vereinigung umfasst nicht die Partei Gemeinsam (Razem), die selbständig bleibt, aber relativ einvernehmlich mit den anderen linken Parteien tätig ist. Ein Bestandteil dieser Zusammenarbeit sind die wachsenden Spannungen in Bezug auf die größte Oppositionspartei im Parlament, die PO. Sie traten insbesondere bei der Abstimmung im Sejm über den Europäischen Wiederaufbaufonds (der eine Reaktion auf die Folgen der Corona-Krise ist) zutage, als die Linke mit dem Regierungslager stimmte und die PO sich enthielt. Doch trotz wachsender Spannungen ist es keineswegs die Linke, welche die PO am meisten bedroht. Eine Gefahr ist für die PO vielmehr die Initiative Polen 2050. Sie war die Idee des unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Szymon Hołownia und trat kurz vor der Corona-Pandemie auf den Plan. Der Start bei den Präsidentschaftswahlen brachte Hołownia keinen Erfolg, zumindest nicht der Art, dass er in den zweiten Wahlgang kam, denn er wurde vom Kandidaten der PO, Rafał Trzaskowski, deutlich überholt. Heute allerdings ist Hołownia der Hauptgewinner der Veränderungen, die nach den Präsidentschaftswahlen eintraten. Noch vor den Wahlen hat er seinen gesellschaftlichen Rückhalt dank effektiver Kommunikation mit Hilfe des Internets aufgebaut. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Kommunikation mit den Wählern, die nicht in den größten Städten leben. Zurzeit verkörpert Hołownia für viele Wähler die Hoffnung auf Veränderungen. Wenngleich er – ähnlich wie viele vergleichbare Initiativen zuvor – Absichtserklärungen abgibt, das »Duopol« aus PO und PiS zu brechen, verfolgt er in der Praxis den Plan, die PO, die als stärkste politische Kraft über eine Verdrängungskompetenz gegenüber der PiS verfügt, zu ersetzen. Das realistische Szenario scheint allerdings zu sein, dass es um die Initiative von Szymon Hołownia nur zu einer Übereinkunft kommen wird, wobei die anderen Parteien, insbesondere die PO, höchstens eine solche Rolle spielen werden, wie einst die PSL und die SLD im Verhältnis zur PO gespielt haben, als sie 2019 vor den Europawahlen die Europäische Koalition (Koalicja Europejska) bildeten. Die Stärke von Polen 2050 wurde von einigen Abgeordneten der Opposition vergrößert, die vor allem aus der PO, aber auch aus der Linken zu dieser Gruppierung wechselten.
Konkurrenz könnte für Hołownia von Rafał Trzaskowskis Initiative »Campus Polen der Zukunft« (Campus Polska Przyszłości) kommen. Trzaskowski versucht, aus dem geschlossenen Kreis des PO-Milieus herauszutreten. Seine Initiative wird – ähnlich wie die Rückkehr von Donald Tusk in die heimische Politik und seine Übernahme der Führung in der PO – von gegensätzlichen Kommentaren begleitet. Die Lage ist hier unklar, vielleicht sogar noch mehr als die Situation, in der sich das Regierungslager befindet. Zwar ist die höhere Spannung innerhalb der Opposition insofern verständlich, als sie eine ausdifferenziertere gesellschaftliche Basis hat als das Regierungslager. Die Aufgabe der Opposition ist es, sich umzugruppieren und die Kräfte ihrer Einzelparteien zu prüfen. Das braucht die künftige Zusammenarbeit aber nicht so sehr zu erschweren wie die ähnlich gelagerten Spannungen im Regierungslager.
Eine Krise jagt die andere
All diese Risse ergeben sich aus einer ganzen Reihe gewichtiger Krisen, die das politische Leben in Polen in den letzten anderthalb Jahren durchmachte – Angelegenheiten, die sich aus dem Blickwinkel des rationalen Regierens in einer so schwierigen Lage wie der Corona-Pandemie gar nicht hätten ereignen sollen. Sie zeigen, dass das einmal in Gang gesetzte Hin- und Herschwanken die Tendenz hat, sich zu verstetigen, und schwer zu dämpfen ist. Eine Krise bewirkt die nächste, und sogar wenn sie an Bedeutung verloren haben, wirken sie in anderen Ereignissen weiter nach.
Angeführt wird die Liste der Krisen von den Präsidentenwahlen, die für Mai 2020 anberaumt waren, aber nicht durchgeführt wurden. Die Pandemie breitete sich immer weiter aus, während der erste Wahlgang bereits auf den 10. Mai terminiert war. Es herrschte eine große Unsicherheit, befördert durch die Medienberichterstattung über den tragischen Pandemieverlauf in Norditalien, sichtbar aber auch in den pandemiebedingten Beschränkungen, die in Polen sehr schnell aufgrund von Regierungsverordnungen eingeführt wurden, sowie im spontanen Verhalten der Gesellschaft (was sich zum Beispiel anhand der öffentlich zugänglichen Datenbank des »Apple Mobility Trend« nachvollziehen lässt). Aus Angst, dass die Zustimmungswerte in künftigen Umfragen aufgrund der pandemiebedingten Wirtschaftskrise sinken würden, entschied Jarosław Kaczyński, dass nichts unternommen werden sollte, um die Wahlen auf einen späteren Termin zu verschieben. Damit zwang er dem Regierungslager sogar gegen die Meinung seines engsten Kreises seinen Willen auf. Seine Sturheit hatte angesichts der kommenden Hindernisse besondere Bedeutung.
Diese ergaben sich vor allem daraus, dass die Organisation der Wahlen in Polen auf den Schultern der Kommunalpolitiker liegt, die in Kenntnis der lokalen Stimmung und unter Beachtung der Anweisungen des Ministerpräsidenten zur Corona-Pandemie öffentlich erklärten, dass sie keine Möglichkeiten sehen, die Wahlen am vorgesehenen Termin durchzuführen. Die Antwort der Regierungspartei war nicht die in einer solchen Situation angemessene Verhängung des Katastrophenfalls, was automatisch eine Verschiebung der Wahlen bedeutet hätte, sondern der Versuch, den Widerspruch der Selbstverwaltung zu umgehen, indem mit Hilfe der Ressourcen des Staatsunternehmens Polnische Post flächendeckend Briefwahlen organisiert werden sollten. Die Versuche, diese Lösung voranzutreiben, gingen damit einher, dass jegliche Standards des Wahlprozedere und der Änderungen des Wahlrechts verletzt wurden. Trotz Kaczyńskis Entschlossenheit wurden die Änderungen auf der einen Seite von Jarosław Gowin sowie ihm treuen Abgeordneten aus seiner Partei Verständigung und auf der anderen Seite durch den Widerstand des Senats (maximale legale Verlängerung des Entscheidungsprozesses) blockiert (die Mehrheit im Senat wird nicht von der PiS gestellt).
Im Ergebnis bewirkte Jarosław Kaczyński, der eifrig bemüht war, seine Absicht aus Angst um seine Autorität durchzusetzen, dass diese in seinem eigenen Lager ernsthaft in Frage gestellt wurde. Erst im letzten Augenblick wurde sie durch eine Verkettung rechtlicher Lösungen gerettet, wobei die Staatliche Wahlkommission und das Oberste Gericht eine wesentliche Rolle spielten: Es gelang, einen Ausweg zu finden, der es erlaubte, den ersten Wahlgang auf Ende Juni zu verschieben, in der Hoffnung, dass die Pandemie-Lage dann nicht mehr ein so großes Hindernis darstellen würde. Trotz zahlreicher rechtlicher Bedenken wurden die beiden Wahlgänge unter allgemeiner Zustimmung und in einer allgemein akzeptierten Art und Weise im Juni und Juli durchgeführt. Als Belastung wirkten jedoch zwei Faktoren: Der eine war offensichtlich und bestand darin, dass das öffentliche Fernsehen jegliche Standards verletzte, indem es sich für den amtierenden und wieder kandidierenden Präsidenten, der offen mit dem Regierungslager sympathisiert, engagierte und sich deutlich aggressiv gegenüber allen oppositionellen Kandidaten zeigte. Der andere war der außergewöhnliche Einsatz des Staatsapparates für die Mobilisierung der Wähler in den Landesteilen, in denen die Regierungspartei dominiert.
Dabei ging es vor allem um die Mobilisierung der ländlichen Gebiete, die den Gegenpart zu den großen städtischen Zentren darstellen. Die Tatsache, dass der Kandidat der Opposition der Stadtpräsident von Warschau war, unterstrich zusätzlich diese verfestigte Spaltung in der polnischen Politik. Sie wurde von der Regierungspartei kontinuierlich ausgenutzt, während die Opposition keine Ideen hatte, wie sie dagegen vorgehen könnte. Im Gegenteil, ein deutlicher Teil der oppositionellen Basis identifizierte sich mit dieser Einteilung und machte sich nicht bewusst, dass dies der Regierungspartei Auftrieb gibt. Das Bestehen auf die Spaltung, die im Extremfall auf Dorf gegen Metropole hinausläuft, hilft der Opposition in den Städten nicht so sehr, wie es ihr auf dem Land schadet.
Die Wahlergebnisse zeigen im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren eine fortschreitende Differenzierung. In Gemeinden unter 10.000 Einwohnern (in denen jeder vierte polnische Wähler lebt) besiegte Andrzej Duda im Jahr 2015 seinen Konkurrenten von der PO im zweiten Wahlgang mit einer Unterstützung von 61:29. In den Präsidentschaftswahlen 2020 stieg die Unterstützung auf 65:35. Auch wenn es sich nicht um ein vernichtendes Übergewicht handelt, ist es der Faktor, der über den Wahlausgang entschied. Die Folge der Regierungszeit der Vereinigten Rechten, die in allen Wahlen zwischen 2018 und 2020 (und insbesondere bei den Präsidentschaftswahlen) zutage trat, war die zunehmende Mobilisierung derjenigen Wähler, die an den Rand gedrängt und im Mainstream der Massenkultur schlechter dargestellt werden.
Auf der einen Seite mündete die Krise, ausgelöst durch die zunächst im Mai anberaumten Präsidentschaftswahlen, zwar nicht in eine logistisch-politische Katastrophe, wie es zeitweilig schien. Auf der anderen Seite aber erschwerte es der Wahlsieg des amtierenden Präsidenten dem Regierungslager, die Probleme zu verstehen, zu denen Jarosław Kaczyńskis persönliche Position in Kombination mit seiner irrationalen Sturheit führen können.
Eine weitere Initiative von Jarosław Kaczyński war das Tierschutzprogramm »Fünf für die Tiere«. Mit ihr sollte der Kontakt zur Wählerschaft der Mitte wieder aufgenommen werden. Aufgrund der internen Spannungen in der Regierungskoalition schlug sie allerdings vollkommen fehl. Das wichtigste Ereignis im Herbst 2020 war der Urteilsspruch zum Abtreibungsrecht. Er erfolgte durch das Verfassungstribunal, das von Anhängern der Regierungspartei dominiert wird. Nach Meinung vieler Kommentatoren handelte es sich um einen Versuch, die durch die Tierschutzinitiative hervorgerufenen Konflikte zu besänftigen. Das Urteil, das das Abtreibungsrecht verschärft, indem es legale Abtreibungen nur bei Schwangerschaften zulässt, die aus einer Straftat hervorgingen oder die Gesundheit und das Leben der Mutter gefährden, hatte jedoch Massenproteste zur Folge, wie es sie in Polen bisher noch nicht gegeben hatte. Sie fielen in die Zeit der zweiten Pandemie-Welle. Die Rückkehr der Pandemie in einem deutlich stärkeren Ausmaß als im Frühjahr und die offenkundigen Versäumnisse vonseiten der Regierung führten zu einem Rückgang bei den Zustimmungswerten.
Parallel dazu kam es zu einem Streit im Regierungslager, der mit der Regierungsumbildung nach den Präsidentschaftswahlen und dem Konflikt um den europäischen Wiederaufbaufonds zur Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie verknüpft war. Die Regierungsumbildung im Herbst bedeutete den Eintritt von Jarosław Kaczyński in die Regierung in der Funktion des stellvertretenden Ministerpräsidenten sowie die Rückkehr von Jarosław Gowin, der im Zuge des Streits um den Termin der Präsidentschaftswahlen die Regierung verlassen hatte. Beide Schritte brachten aber nicht die erwartete Beruhigung der Lage. Die internen Spannungen wurden zu einem chronischen Zustand.
Die Idee der Regierungspartei, wie man aus den anderthalb Jahren Krisenmodus herauskommen könnte, war schließlich das Wirtschafts- und Sozialprogramm »Polnische Ordnung« (Polski Ład). Vorgeschlagen wird, u. a. die finanziellen Belastungen der Bürger und Unternehmen neu zu regeln und die EU-Finanzhilfen zur Überwindung der Corona-Pandemie für innovative Entwicklungen einzusetzen. Wie bisher, kam es auch hier zu keinen spektakulären Folgen in puncto politisches Marketing. Es lässt sich heute noch nicht sagen, ob das Programm irgendwelche realen gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen mit sich bringen wird. Die Instabilität des Regierungslagers ist hier sicherlich nicht hilfreich.
Darüber hinaus kam es die ganze Zeit zu weiteren kleineren Erschütterungen, die die Aufmerksamkeit der Medien und der Politik fesselten. Zu nennen wäre der Konflikt zwischen dem Regierungslager und dem Leiter der Obersten Kontrollkammer, Marian Banaś, der Unregelmäßigkeiten und Machtmissbrauch in zahlreichen Fällen aufzeigte. Außerdem wurde das Problem der Wahl des Bürgerrechtsbeauftragten bisher nicht gelöst: Die PiS bemühte sich, den von ihr abhängigen Kandidaten durchzubringen, was trotz mehrmaliger Versuche und verschiedener Kandidaten aber an der notwendigen Zustimmung des Senats scheiterte. Spannungen gab es außerdem zwischen der Zentralregierung und der Selbstverwaltung wegen des Regierungsfonds für Lokale Investitionen, da das Regierungslager die finanziellen Mittel zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie außergewöhnlich parteiisch verteilte und die Kommunalpolitiker der eigenen Partei bevorzugte, während sie die Gelder für die von der Opposition geführten Selbstverwaltungen maximal beschränkte. Auch die vorgezogenen Stadtpräsidentenwahlen in Rzeszów, der Hauptstadt der Woiwodschaft Vorkarpaten (województwo podkarpackie) und einer PiS-Bastion, waren von Emotionen begleitet. Nach dem Amtsverzicht des letzten Stadtpräsidenten kam es sowohl zwischen der Zentralregierung und der Opposition als auch in der Regierungskoalition selbst zu Konflikten. Sie endeten mit dem eindeutigen und überraschend hohen Sieg des gemeinsamen Kandidaten der Mitte-Links Opposition. Schließlich wurde es noch laut um die (gehackte) Nutzung des privaten E-Mail-Postfachs für berufliche Zwecke, was den Ministerpräsidenten und seine engste Umgebung betraf.
Alle diese Probleme und Konflikte riefen eine Reihe interner Krisen hervor, die die Aufmerksamkeit sowohl der Regierung als auch der Opposition von der wichtigsten Angelegenheit, der Corona-Pandemie und der Bekämpfung ihrer Folgen, ablenkte. Doch trotz übermäßiger Konzentration auf die Konflikte, gewann keine der Seiten die Überhand.
Nuancen des Gleichgewichtes
Es hat sich ein eigentümliches Gleichgewicht eingestellt. Trotz schwächerer Ergebnisse hält die PiS den ersten Platz in den Umfragen, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass in der Opposition immer noch die Karten gemischt werden. Das gemeinsame Umfrageergebnis für die PO und die Partei von Szymon Hołownia, Parteien mit einer sehr ähnlichen gesellschaftlichen Basis, ist größer als das der PiS. Die Umrechnung der Umfrageergebnisse auf Mandate zeigt, dass die PiS keine Chance auf eine absolute Mehrheit im Sejm hat. Ein solches Ergebnis steht nicht in weiter Ferne. Das ergibt sich daraus, dass die Opposition geteilt ist, das polnische Wahlsystem jedoch den größeren Parteien einen umso größeren Preis gibt, je mehr Parteien an der Verteilung der Mandate teilnehmen. Das erwartete Ergebnis der PiS kann sich also sehr schnell reduzieren, wenn es vor den Wahlen – wie im Jahr 2019 – doch noch zu einer Einigung der Opposition, und sei es nur teilweise, kommt. Sie könnte dann sehr leicht eine Mehrheit bilden und die PiS ablösen.
Eine besondere Bedeutung hat jedoch noch eine andere mögliche Alternative für Polen, die sich aus den Umfrageergebnissen ergibt. Außer den Szenarien, dass das Regierungslager die Mehrheit bekommt oder aber die Parteien, die im Senat die Mehrheit gegen die PiS stellen und im zweiten Präsidentschaftswahlgang den Gegenkandidaten Rafał Trzaskowski unterstützten, gibt es noch eine dritte Option. Das Zünglein an der Waage könnte die Partei Konföderation werden, ein relativ neuer Verbündeter der alten, jahrelang marginalisierten Kräfte der Nationalisten und konservativen Antiestablishment-Liberalen. Aufgrund ihrer sehr starken, gegen das linke politische Spektrum gerichteten Rhetorik kann man sie als potentiellen Partner der PiS betrachten. Hier ergeben sich allerdings grundsätzliche Fragen nach der Beständigkeit eines solchen Bündnisses. Die letzte Koalition der PiS mit Nationalisten und »Systemgegnern« im Jahr 2006, also den Parteien Liga der Polnischen Familien (Liga Polskich Rodzin – LPR) und Selbstverteidigung (Samoobrona), war nicht von Dauer und führte zu vorgezogenen Parlamentswahlen mit einer spektakulären Niederlage. Das Bündnis dieser drei Parteien im Rahmen einer Minderheitsregierung im Jahr 2005 mit einer Unterstützung von mehr als der Hälfte der Wähler verlor im Laufe von zwei Jahren jeden dritten Wähler. Die Zustimmung sank landesweit auf zirka ein Drittel. Betrachtet man die Ergebnisse der Wahl des Senats (2019) sowie die Wahlwanderungen beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl (2020), lässt sich feststellen, dass die Wähler der Konföderation – entgegen der Bezeichnung der Partei als radikale Rechte – keineswegs einen selbstverständlichen Rückhalt für die PiS darstellen. Als sie die Wahl zwischen einem Kandidaten der PiS und der PO hatten, teilten sie sich genau hälftig auf.
Dies weist abermals auf das Gleichgewicht auf der politischen Bühne in Polen hin. Die PiS hat ein deutlich strukturelles Übergewicht und wird nach wie vor als Hauptvertreterin des weniger begüterten, aber zahlenmäßig stärkeren Teils der Gesellschaft betrachtet. Dieser Teil nimmt zudem in letzter Zeit häufiger an den Wahlen teil. Das Übergewicht wird allerdings von den PiS-Politikern infolge ihrer zahlreichen Schwächen teilweise verspielt. Auf der Seite der Opposition besteht die wichtigste Einteilung darin, dass sich die vier größten Oppositionsparteien (ausgenommen die Konföderation) ihren ähnlichen Strategien entsprechend jeweils zu zweit zusammentun. Auf der einen Seite stehen die PO und Die Linke, die sich mit Lust und Liebe der urbanen Wählerschaft verschreiben und sich als Repräsentanten des aufgeklärtesten Teils der Gesellschaft (das heißt im allgemeinen Verständnis auch des reichsten Teils) positionieren. Auf der anderen Seite stehen Hołownia und die PSL, die den Versuch unternehmen, dieser Polarisierung entgegenzuwirken, und sich auf den Wähler der Mitte berufen (der für einen Erfolg unerlässlich ist). Sichtbar ist hier allerdings immer die Konkurrenz um dieselbe Wählerschaft.
Das, was für die Beständigkeit der skizzierten Verhältnisse spricht, ist die gesellschaftliche Verwurzelung der jeweiligen Parteien. Verstärkt wird sie außerdem durch die Tatsache, dass die Wähler stark auf die demokratischen Regeln orientiert sind. Weder die Wirtschaft (die beschleunigt wird) ist die Ursache der Probleme noch die pandemiebedingten Veränderungen, auf die sich weite Teil der Gesellschaft flexibel einstellen. Im Grunde ist das größte Problem die Art und Weise des Diskurses. Die Beschreibung der politischen Situation in Polen lässt einen erschrecken. Politik wurde zu einer Art Wrestling. In der stark theatralischen Debatte ist eine der Reaktionen, Unterstützung von außen heranzuziehen, zum Beispiel vom Europäischen Parlament. An der Tagesordnung sind schwerwiegende Argumente der Art, die Demokratie bzw. die Nation zu verteidigen. Zu all dem kommen die in der Debatte vorherrschende Hysterie und Arroganz hinzu.
Wischt man den Schaum, der die Debatten begleitet, weg, kann man die gesellschaftliche Wirklichkeit sehen, die die Grundlage für einen tatsächlichen Machtwechsel ist, und zwar für einen, der nach demokratischen Regeln verläuft. Die Opposition hätte ohne das geringste Problem alle vorangegangenen Wahlen gewinnen können, wenn da nicht ihre internen Spaltungen und die Schwächen und Engherzigkeit ihrer Anführer wären. Genauso könnte die Position der Regierungspartei deutlich besser sein, wären da nicht ihre Spaltung, Schwächen und Engherzigkeit. All das bewirkt, dass das Bild der polnischen Politik von außen betrachtet täuschen kann, insbesondere, wenn Informationen von den aktiv an den Konflikten Beteiligten hinzugezogen werden. Polen in eine Reihe mit Ungarn, ganz zu schweigen von der Türkei oder Russland, zu stellen, ist nicht angemessen. Die Stellung der unabhängigen Institutionen, der autonomen Organe der Gewaltenteilung, der Medien, die Kraft der realen gesellschaftlichen Parteibasen, der Pragmatismus der in allen letzten Krisen sichtbar wurde, ist nichts, was Grund für besondere Beunruhigung geben würde. Die toxischen Reaktionen und Träume müssen im Blick behalten werden, sie sind jedoch nichts Außergewöhnliches in Demokratien – Krisen der bisherigen Politik lassen sich auch in Frankreich, Spanien oder Italien feststellen.
Das aktuelle Regierungslager mit allen seinen Fehlschlägen, insbesondere sichtbar im Bereich der Justiz, hat weder Ressourcen noch Ideen, Polen auch nur einen Schritt weiter in Richtung solcher Veränderungen zu führen, wie sie in Ungarn stattfinden. Ebenso wenig geben die Wahlniederlage des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump und die Probleme des ungarischen Präsidenten Viktor Orbán den Regierenden in Polen Selbstsicherheit.
Es weist viel darauf hin, dass die Rhetorik der außerordentlichen Bedrohung für die Demokratie in Polen immer weniger angemessen ist. Sicher hat das Regierungslager in den letzten anderthalb Jahren viele Fehler und Gemeinheiten in seinem Übermut sowie seinen falschen Einschätzungen und Problemen, die Lage zu erkennen, begangen. Sichtbar wurde dabei aber auch, dass die überwältigende Mehrheit ihrer Absichten fehlschlug. Nicht, weil sie auf den besonders gut organisierten Widerstand der oppositionellen Kräfte trafen – das war nicht der Fall. Sie trafen aber auf den Widerstand der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Bestimmte Gruppen und Institutionen reagieren offenkundig in einer Weise, die eventuellen dauerhaften Veränderungen keine Chance gibt – Veränderungen, die durch Beugen der Regeln zugunsten des Regierungslagers zustande kommen. Daher kann man die vor drei Jahren aufgestellt Diagnose (vor dem vorherigen Wahlzyklus) wiederholen: Das Ergebnis des Wettstreits der kommenden Wahlen ist keinesfalls entschieden. Es wird von der Fähigkeit der einzelnen Kräfte abhängen, auf die sich verändernden Gegebenheiten zu reagieren.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate