Die "Migrationskrise" an der polnischen EU-Außengrenze mit Belarus

Von Gert Röhrborn (Warschau)

Zusammenfassung
Besonders in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 kam es entlang der östlichen EU-Außengrenze in den baltischen Staaten und in Polen zu einer politisch höchst problematischen und humanitär prekären Situation, in der das belarussische Regime unter Alexander Lukaschenko vor allem Personen aus arabischen und afrikanischen Ländern nach Belarus einfliegen ließ, um so einen künstlichen »Migrationsdruck« auf die EU aufzubauen. Da diesen Menschen insbesondere von der polnischen Seite der Grenzübertritt entschieden und unter Anwendung von Zwangsmitteln, die zumindest in Teilen nicht mit internationalem und polnischem Recht konform waren, verweigert wurde, sie aber von belarussischen Sicherheitskräften ebenfalls mit Gewalt zurück in Richtung Polen getrieben wurden, kampierten viele von ihnen an der Grenze und versuchten verzweifelt und teils auf gewaltsame Weise, doch noch auf EU-Territorium zu gelangen. Der vorliegende Artikel beschreibt den Verlauf dieses Ereignisses und analysiert es mit Blick auf die Situation in Polen. Dabei werden Argumente für die These angeführt, dass die offiziell vertretene geopolitische Perspektive das Geschehen nicht ausreichend erfasst und die gefährlichen gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der Reaktion der polnischen Regierung und ihrer europäischen Partner in den Hintergrund drängt.

Gegen Ende des Sommers und dann vor allem im Herbst 2021 war die im Laufschritt eskalierende sogenannte »hybride« Auseinandersetzung zwischen dem belarussischen Regime unter Alexander Lukaschenko und der Warschauer Regierung das alles dominierende Thema in Polen. In ihrem Verlauf wurden Menschen aus u. a. Ländern des Nahen Ostens und Afrikas nicht mehr nur etwa als Schutzschilde, sondern als Waffen eingesetzt. Seit Russland mit seinem Truppenaufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze Nachrichten mit viel weitreichenderer Bedeutung für die westliche Welt produziert, ist es mit einem Schlag still um sie geworden. Was mitnichten heißt, dass das Quälen und Sterben von unschuldigen Menschen plötzlich aufgehört hätte.

Die Lage im polnisch-belarussischen Grenzgebiet ist ein Lehrstück über Leben, das (nicht) zählt. In einem Europa, dass sich aufgrund überlagernder regionaler und globaler Trends – wachsender Migrationsdruck, Klimawandel, geopolitische Herausforderungen, Corona-Pandemie und Wirtschaftskrise, langsames Ausbrennen des Integrationsgedankens der EU – seit Jahren im Krisenmodus befindet. Ein malerisches, dünn besiedeltes und ökologisch bedeutsames Waldgebiet, wo sich sonst Bisons und Wölfe Gute Nacht sagen und Touristen aus der Großstadt am Kaminfeuer ihrer Hotels und Hütten sitzen, wird für die einen – begnadete Selbstdarsteller und zynische Erpresser in den Hauptstädten dies- und jenseits der Grenze – zum PR-Schlachtfeld, für andere hingegen zur potenziellen Todesfalle.

Dieser Artikel soll verdeutlichen, warum vom PR-Charakter des Geschehens und einem »Event« gesprochen werden muss. Der erste Grund ist augenfällig: Es war die polnische Regierung selbst, die sich mit ihrer Reaktion auf die zunächst vom belarussischen Machthaber Lukaschenko vermutlich mit Billigung oder gar Unterstützung des Kremls forcierte Situation an der EU-Außengrenze zum Co-Produzenten dieses menschenverachtenden Kesseltreibens ernannt hat. Nicht an einer Lösung des Konflikts war ihr gelegen, sondern daran, über einen möglichst langen Zeitraum ihre Popularitätswerte zu steigern, um von anderen innenpolitischen Kontroversen abzulenken und bei der Gelegenheit Mittel zur Einschränkung der Rechte auf freie Berichterstattung und zur Lenkung der öffentlichen Meinung zu testen. Für das Publikum rivalisierten die Zahlen der sich an der Grenze befindlichen oder »zurückgeworfenen« Migranten mit den hohen Infektions- und Todeszahlen der Corona-Statistiken. Zweitens ist die Frage berechtigt, wie effektiv die »Verteidigung« dieser etwa 400 km langen grünen Grenze zwischen Polen und Belarus überhaupt ausfallen konnte und tatsächlich ausgefallen ist – angesichts der martialischen Rhetorik der polnischen Regierung sollte man eigentlich davon ausgehen können, dass die Grenze tatsächlich dicht gehalten hat. Drittens wurde geopolitisch kaum etwas erreicht, dafür sind die wichtigsten längerfristigen Auswirkungen innenpolitischer und europäischer Natur. Es scheint mir daher angebracht, jenen Beobachtern der Lage zuzustimmen, die davon gesprochen haben, dass es sich hierbei weniger um eine Migrations- als vielmehr um eine Humanitätskrise handelt.

Der bisherige Verlauf der Krise

Der Verlauf der Krise kann vorläufig in drei Phasen eingeteilt werden. Während der ersten, die von Frühjahr bis Sommer 2021 andauerte, kam es zu einem stetigen Anwachsen der Zahl von Personen (von einigen Hundert auf mehrere Tausend pro Monat), die über die baltischen Staaten und Polen in die EU zu gelangen versuchten. Im Juli verhängte Litauen den Ausnahmezustand auf seinem Territorium und begann mit dem Aufbau von Anlagen zur Grenzsicherung, überdies bat es die europäische Grenzschutzagentur Frontex um Unterstützung – in deren Rahmen übrigens auch polnische Grenzschützer in das Nachbarland entsandt wurden. Die Situation an der polnischen Grenze verschärfte sich zeitgleich mit dem endgültigen Zusammenbruch Afghanistans durch den Vormarsch der Taliban und der dort einsetzenden Flüchtlingsbewegung.

Die zweite Phase beginnt mit dem 20. August 2021, an dem der polnische Innenminister offenbar auch mit Blick auf in der Nähe des Grenzübergangs Usnarz Górny ausharrende afghanische Flüchtlinge eine später per Gesetz abgesicherte Verordnung erließ, mit der Personen, die an einem geschlossenen oder begrenzt funktionierenden Grenzübergang oder außerhalb desselben aufgegriffen werden, »an die Linie der Staatsgrenze zurückzubringen sind«. Da dabei jeglicher Bezug auf Anträge zur Gewährung internationalen Schutzes fehlte, wurden die mutmaßlich bereits lange zuvor von polnischen Organen ausgeführten »Pushbacks« de facto legalisiert. Appelle des UNHCR und eine einstweilige Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur humanitären Versorgung der Flüchtlinge ignorierte die polnische Regierung ebenso wie die Kritik des polnischen Ombudsmanns für Bürgerrechte und von Menschenrechtsorganisationen wie etwa der Helsinki-Stiftung, die seit Jahren erfolglos die gesetzwidrigen Praktiken der polnischen Grenzpolizei hinsichtlich des Stellens von Asylanträgen, tatsächlich deren Verhinderung, anprangerten. Fast zeitgleich wurde mit dem Auslegen von Stacheldraht an der Grenze zu Belarus begonnen. Der eigentliche Wendepunkt war aber am 2. September 2021 die Einführung des Ausnahmezustands in fast 200 Gemeinden entlang der polnisch-belarussischen Grenze, zunächst befristet auf 30 Tage. Er sollte schließlich für die verfassungsrechtlich zulässige Maximaldauer von drei Monaten gelten und wurde weitestgehend mithilfe der Stimmen der Regierungskoalition und anderer Abgeordneter konservativer und rechter Gruppierungen mehrfach im Parlament durchgesetzt. Kritiker hielten der Regierung vor, dass zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise von einer so gefährlichen Situation gesprochen werden konnte, die einen derart einschneidenden Schritt rechtfertigen würde, ohne dass zuvor alle anderen Mittel ausgeschöpft worden wären. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) hatte hingegen argumentiert, von der illegalen Migration gehe im Zusammenhang mit den für Herbst geplanten russischen Militärübungen ZAPAD-21 eine reale Gefahr aus, überdies folge man der Praxis in den baltischen Staaten.

Im Rahmen dieser Maßnahme war der Zugang zur »Grenzzone« nur noch dort lebenden oder arbeitenden Menschen gestattet. In ihr wurde das Versammlungsrecht ausgesetzt und das in der Verfassung der Republik Polen verbriefte Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen (Art. 61 Abs. 1 – »Der Bürger hat das Recht, Informationen über die Tätigkeit der Organe der öffentlichen Gewalt und von Personen, die öffentliche Funktionen ausüben, zu erhalten«) aufgehoben sowie ein weitreichendes Film- und Fotoverbot erlassen, was de facto zu einer Monopolisierung der Medienberichterstattung durch den Staat führte. Überdies führten staatliche Behörden angesichts der wachsenden Hilfsbereitschaft in Teilen der Bevölkerung (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Zone), die auf die sich mehrenden Todesfälle entlang der Grenze reagierten, in ihrer Kommunikation bewusst den (juristisch nicht haltbaren) Eindruck herbei, jedwede Hilfe für die die Grenze überschreitenden Personen sei eine mit Schleusertätigkeit vergleichbare schwere Straftat. In den Oktober und November 2021 fallen dann angesichts der verstärkten Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes jene Bilder, die um die Welt gingen: von belarussischen Sicherheitskräften teils mit Gewalt an bestimmte Punkte der Grenzlinie gedrängte größere Personengruppen, die mit allerlei Werkzeug und Material ausgerüstet versuchen, die von polnischen Sicherheitskräften bewachten provisorischen Sicherungsanlagen zu durchbrechen.

Die dritte Phase steht im Zusammenhang mit der Ausweitung des Sanktionspakets der Europäischen Union gegenüber Belarus. Seit 2020 hatte die EU in Reaktion auf die brutale Niederschlagung der Proteste nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen sowie wegen der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs mit dem oppositionellen belarussischen Blogger Roman Protassewitsch an Bord in Minsk im Mai 2021, der anschließend zusammen mit seiner russischen Partnerin festgenommen wurde, bereits mehrere Sanktionsrunden verhängt (Einreiseverbote, Einfrieren von Aktiva), die besonders gegen für die Repressalien verantwortliche Vertreter des Regimes (einschließlich Machthaber Lukaschenko) gerichtet sind. Nun wurden Anfang Dezember 2021 nicht nur weitere hochrangige Funktionäre auf die existierende Sanktionsliste gesetzt, sondern zudem Unternehmen, die sich am systematischen Einfliegen von Migranten beteiligt haben (wie etwa die Fluglinie Belavia Airlines, Touristikagenturen und Hotels). Diese Linie wurde bereits Mitte November in Telefongesprächen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Alexander Lukaschenko und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit Russlands Präsident Wladimir Putin kommuniziert. Auch die Maßnahmen, um Flüge aus der arabischen Welt nach Minsk zu verhindern bzw. Staaten (z. B. Irak) zu überzeugen, ihre Bürger zurückzuholen, zeigten zunehmend Erfolg. In der Folge sank der Druck auf die Grenze merklich. Im Dezember sprach der polnische Grenzschutz von 1.700 versuchten illegalen Grenzübertritten, während es im November noch 8.900 und im Oktober 17.500 gewesen waren. Allerdings werden polnische Grenzbeamte weiterhin teils physisch (z. B. mit geworfenen Gegenständen, Knallkörpern) angegriffen und verletzt. Gleichzeitig lief Anfang Dezember der maximal auf drei Monate befristete Ausnahmezustand aus. Er wurde auf Grundlage einer Gesetzesänderung zum Schutz der Grenze in ein zunächst bis zum 1. März 2022 geltendes Aufenthaltsverbot für alle nicht in diesem Gebiet ansässigen oder eine Geschäftstätigkeit betreibenden Personen im zuvor vom Ausnahmezustand erfassten Gebiet umgewandelt – sozusagen ein »Ausnahmezustand light«, mit dem sich die Regierung den verfassungsrechtlichen Begrenzungen auf längere Zeit zu entziehen sucht. Damit ist jetzt mit einer Genehmigung der Grenzpolizei »in begründeten Fällen« und »zu bestimmten Regeln« auch wieder ein begrenzter Zugang für die Medien vorgesehen, die nach einem Vorschlag von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von einem staatlichen Medienzentrum Gebrauch machen sollen. Im Gegensatz dazu hatte der von der Opposition kontrollierte Senat gefordert, Journalisten sowie Vertreter von humanitäre, medizinische und juristische Hilfe anbietenden zivilgesellschaftlichen Organisationen vom Aufenthaltsverbot auszunehmen, war damit aber erfolglos geblieben.

Das Narrativ der Regierung

Die geschilderte Situation ist eine tragische Farce. Sie zeigt in erster Linie, wer die polnischen Nationalkonservativen sind bzw. sein wollen: Unbeugsame, zu Unrecht (so in der Frage der Rechtsstaatlichkeit) von der demokratischen Welt des Falschspiels bezichtigte, heldenhafte Verteidiger Europas gegen muslimische Horden, anno 1683 (Schlacht am Kahlenberg) ebenso wie im Jahre 2021. Mit Worten, Werten und notfalls auch mit Waffen, wie Regierungschef Morawiecki in einem an die Bewohner Europas gerichteten Video unterstrich: “I turn to you, because Europe, our common home is threatened. At this very moment, a hybrid war is taking place at the Polish-Belarusian border […]. Today the target is Poland, but tomorrow it will be Germany, Belgium, France or Spain […]. This is just the beginning. The dictators will not stop. I want to assure you, Poland will not yield to blackmail and will do everything to stop the evil threatening Europe. For centuries Poland has been guarding our common home, when invaders, tyrants and later totalitarian dictatorships had to be confronted, we always stood in the front line.” (siehe Dokumentation, S. 8).

Es überrascht nicht, dass die polnische Regierung nichts von einer koordinierten Zusammenarbeit mit Frontex, deren Sitz in Warschau (sic!) ist, hielt. Von der demokratischen Opposition und von Medienvertretern wiederholt vorgebrachte Forderungen, europäische Strukturen einzubeziehen, wurden brüsk abgelehnt, wie eine Äußerung des Europaabgeordneten und früheren Innenministers Joachim Brudziński (PiS) verdeutlicht: »Solche infantilen und einfach unklugen Urteile stärken nur die Handlungen von Lukaschenko und seinen Diensten. Sowohl Frontex als auch unsere Nachbarn, angeführt von Deutschland, betonen die Professionalität und Effektivität der polnischen Dienste. Die Aktionen der totalen Opposition und die Hysterie dummer Prominenter sind eine Tragödie«. Die Initiative der deutschen Bundeskanzlerin zur Lösung der Krise »über die Köpfe Polens hinweg« (Mateusz Morawiecki) nahm die PiS nicht mit Begeisterung auf. Das Einzige, woran die polnische Führung mit Bezug auf Europa gesteigertes Interesse zeigte, waren ergebene Solidaritätsadressen und eine Bestätigung der martialischen Rhetorik der polnischen Regierung durch Brüssel, Berlin oder Paris.

Das Narrativ des Kampfes des Guten gegen das Böse war allerdings aus einem symbolischen Grund durchaus heikel für die polnische Regierung, denn 2021 jährte sich die Einführung des Kriegsrechts unter General Wojciech Jaruzelski zum 40. Mal. Zur Untermauerung ihrer These konzentrierte sich die polnische Regierung daher zum einen darauf, wochenlang die belarussische Steuerung der Operation zu belegen. Mit Blick auf ein straff autoritär geführtes Land wie Belarus mit einem enormen Überwachungsapparat musste jedoch schlichtweg von vornherein davon ausgegangen werden. Sich den Praktiken der polnischen Regierung widersetzende Menschenrechtsinitiativen wie etwa die »Gruppe Grenze« (Grupa Granica) stellten klar, dass die belarussischen Behörden die Rolle einer »gut organisierten Schleuserorganisation« übernommen haben. Auch EU-Ratspräsident Charles Michel hatte bereits Anfang Juli 2021 entsprechende Vorwürfe geäußert. Dennoch sprach die PiS gebetsmühlenartig davon, bei der Aktion handele es sich um einen Racheakt für das standhafte Eintreten Polens für die demokratische Opposition in Belarus, insbesondere nach den letzten, mutmaßlich gefälschten Präsidentschaftswahlen dort im Jahre 2020. Mit Blick auf die seit Anfang 2021 in Polen laufende E-Mail-Affäre um den Chef der Kanzlei des Ministerpräsidenten, Michał Dworczyk, hinter der belarussische Sicherheitsdienste vermutet werden, schien diese Argumentation bis zu einem gewissen Punkt überzeugend. In der Realität nutzte die PiS ihre PR-Show aber dafür, um von einer Vielzahl von Problemen (hohe Todesraten in der Corona-Pandemie, massive Inflation, Umsetzung einer kontroversen Steuerreform, Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit) und deutlich sinkenden Umfragewerten abzulenken.

Zum anderen bediente sich die Regierung erneut jener Techniken zur Entmenschlichung bzw. medialen Kriminalisierung von Migranten, die bereits aus den Vorjahren bekannt waren (als PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński im Herbst 2015 arabische Migranten pauschal als Überträger gefährlicher Krankheiten diffamierte oder in einem Wahlspot 2018 vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen durch Masseneinwanderung gewarnt wurde), von denen die PiS aber angesichts nachlassender Wirkung zunehmend Abstand genommen hatte. Auf einer vom regierungsnahen Fernsehsender TVP Info u. a. mit dem Titel »Er vergewaltigte eine Kuh, jetzt will er nach Polen eindringen? Details zu den Migranten an der Grenze« beworbenen Pressekonferenz zeigten Innenminister Mariusz Kamiński und sein für die Geheimdienste zuständiger Staatssekretär Maciej Wąsik im September 2021 u. a. angeblich auf Telefonen von gefassten Migranten sichergestellte Bilder, die deren pädo- und zoophile Neigungen belegen sollten. Es wurde der Versuch unternommen, Abscheu und eine Wagenburg-Mentalität zu erzeugen, in der jedes Mitgefühl für die »Angreifer« zu unterdrücken und die Kriminalisierung jeglicher Hilfe gerechtfertigt sei. Die polnische Regierung hat sich ganz bewusst auf das perfide Spiel jenes skrupellosen Diktators eingelassen, den sie angeblich so standhaft bekämpft.

Weder wirksam die Grenze gesichert noch das Menschenrecht gewahrt

Ein Blick auf die Effektivität der Maßnahmen hinterlässt den Eindruck eines Pyrrhussieges. Die Zahl derjenigen Personen, denen die Weiterreise nach Deutschland gelungen ist, wurde von der deutschen Polizei für den Zeitraum von August bis November 2021 mit circa 10.000 Personen angegeben. Angesichts der Tatsache, dass der polnische Geheimdienstkoordinator Stanisław Żaryn im November öffentlich von bis zu 15.000 sich in Belarus aufhaltenden Migranten sprach und die Grenzpolizei für das gesamte Jahr 2021 40.000 Versuche eines illegalen Grenzübertritts verzeichnete (unter ihnen garantiert mehrere Versuche pro Kopf), ist größte Skepsis angebracht, dass die polnischen Sicherheitskräfte tatsächlich das Gros der Migranten auf der anderen Seite der Grenze halten konnten – ein ganz erheblicher Teil von ihnen muss sich trotz ihres unerbittlichen Vorgehens nach Westen durchgeschlagen haben, wie auch die »Konferenz der Botschafter der Republik Polen« (Konferencja Ambasadorów RP) in einer Stellungnahme festhielt (siehe Dokumentation S. 8f.). Für die effektive Sicherung einer 400 km langen Grenze wäre mit Sicherheit ein Mehrfaches der zwischenzeitlich dort stationierten 15.000 Angehörigen von Grenzpolizei und Militär vonnöten gewesen. Ob der inzwischen geplante Bau einer festen Grenzanlage mit bis zu sechs Meter hohen Zäunen eine entsprechende Wirkung entfalten kann, wird sich erst in geraumer Zeit zeigen. Allerdings erfolgt er ohne jegliche Rücksicht auf die verheerenden ökologischen Auswirkungen auf ein Gebiet, das zu Teilen unter dem Schutz des Programms NATURA 2000 steht und ein Touristenmagnet ist – hier wird sowohl erneut europäisches Recht gebrochen als auch eine ohnehin schwach entwickelte Region ökonomisch ins Mark getroffen. Auch sollte nicht übersehen werden, dass es bei 10.000 nach Deutschland gelangten Personen (im Gegensatz zur diffamierten humanitären Hilfe) zu einem Anheizen »echter« Schleuserkriminalität gekommen sein muss.

Zudem wird von einem Traumatisierungseffekt unter den beteiligten Grenzpolizisten und Soldaten gesprochen, die in keiner Weise auf eine psychisch so belastende Situation und ethische Zwangslage durch Pushbacks vorbereitet waren und u. a. mit enormem Alkoholmissbrauch und Krankschreibungen reagierten, worauf beispielsweise die Wissenschaftler Przemysław Sadura und Sylwia Urbańska im Rahmen einer Untersuchung hingewiesen haben: »Er hört es immer noch. Das Heulen einer Frau, die von Grenzpolizisten mit Handschellen gefesselt wurde. Die verängstigten Kinder flohen in den dunklen Wald. Die Mutter wollte ihnen hinterherlaufen, wollte sie zurückhalten. Aber sie wurde festgehalten. Sie schrie vor Verzweiflung. Wissen wir, wie so ein Schrei klingt? […] Er hingegen muss sich nichts mehr vorstellen. Er kann es nicht vergessen. Nein, er war nicht derjenige, der sie festgehalten hat. Er ist Soldat. Er hatte nur die Grenzpolizei zu alarmieren. Diese Aufgabe hat er ausgeführt« (siehe Lesetipp am Ende des Textes).

Aus verschiedenen Artikeln und Stimmen vor Ort, die trotz der verfügten Informationssperre die öffentliche Meinung erreichten, spricht zudem das der polnischen Bevölkerung nur allzu gut bekannte Bild eines organisatorischen Chaos, sowohl hinsichtlich der Versorgung »ihrer Jungs« als auch in der Abstimmung zwischen den einzelnen staatlichen Organen (Grenzpolizei, Militär, Ministerien und der lokalen Selbstverwaltung). Private Sammelaktionen für die Armee, in denen unter dem Hashtag »Alle stehen hinter der polnischen Armee« (#MuremZaPolskimMundurem) zum Spenden von Schokoriegeln, Energydrinks, aber auch Brennholz und den Wetterbedingungen angepasster Kleidung aufgerufen wurde, verstärkten diesen Eindruck. Lukaschenko und Putin konnten sich also in aller Ruhe ein Bild davon machen, mit wem sie es im Falle einer echten hybriden Auseinandersetzung (nicht) zu tun bekommen würden.

Aus humanitärer und rechtsstaatlicher Sicht ist das Geschehen an der Grenze ohne jeden Zweifel ein Desaster. Es führte zu einer weiteren Brutalisierung der polnischen Politik und könnte pro-europäische Akteure langfristig schwächen. Zwar ist die Anzahl der direkten Todesopfer im Vergleich zum Geschehen im Mittelmeer deutlich geringer – ausgegangen wird von mehreren Dutzend Menschen, die bisher erfroren, sich durch gesammelte Pilzen Vergiftungen zuzogen oder aus Erschöpfung bzw. einem Mangel an medizinischer Versorgung starben, wobei Zahlen zum belarussischen Grenzgebiet nicht überprüft werden können. Jedoch ist das Ausmaß der Gewalt, das von beiden Seiten gegen die eingeschlossenen Migranten ausgeübt wurde, in keiner Weise zu rechtfertigen. Familien mit kleinen Kindern wurden getrennt, Menschen geschlagen oder zu ungewollten Handlungen genötigt, ihrer Habseligkeiten beraubt, enormen gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt oder aufs schwerste traumatisiert. Diese schrecklichen Tatsachen wollte die polnische Regierung mit ihren einen heroischen Kampf simulierenden Propagandaaufnahmen vom öffentlichen Bewusstsein fernhalten.

Allerdings ist ihr das nur bis zu einem gewissen Grad gelungen. Ein breites Spektrum von Medien forderte Zugang zur Grenzzone, zudem wurden Medienvertreter von Personen vor Ort »unter der Hand« mit Material versorgt. Dank seit Jahren in Protesten vielfältigen Charakters erprobter Netzwerke sowie einer trotz der fehlenden offiziellen polnischen Integrationspolitik bestehenden beachtlichen Infrastruktur an Organisationen, die Flüchtlingen und Migranten professionelle Hilfe bieten oder zur Selbstorganisation anregen, entstanden bereits im Sommer neue Initiativen zur humanitären Soforthilfe (z. B. die bereits erwähnte »Gruppe Grenze« oder »Mediziner an der Grenze« (Medycy na Granicy)). Auch erfahrene NGOs wie der »Verein für juristische Intervention« (Stowarzyszenie Interwencji Prawnej) nutzten ihre Strukturen zu diesem Ziel. Von privater Hand wurden Sammlungen über das Internet organisiert und durch im Land bekannte Personen und Politiker des linken und liberalen Spektrums prominent unterstützt. Die gesammelten Sachspenden (Essen, Decken, Powerbanks, medizinische Ausrüstung usw.) wurden dann von Einzelpersonen in die Wälder an der Grenze transportiert. Im Rahmen der Aktion »Grünes Licht« (Zielone Światło) brachten Einwohner der Grenzzone grüne Lichter an ihren Häusern an, um Migranten ihre Bereitschaft zu humanitärer Hilfe zu signalisieren.

Institutionen wie das Polnische Rote Kreuz beteiligten sich ebenfalls an materiellen Hilfsaktionen, auch wenn sich viele mehr Engagement und ein entschiedeneres Zeichen für Menschlichkeit gewünscht hätten, wie die zeitweise Besetzung des Sitzes der Organisation in Warschau durch Aktivisten zeigte. Die katholische Kirche, deren Führung seit Jahren in der Migrationsfrage eher dem in anderen Bereichen stark kritisierten Papst Franziskus statt der Linie des Staates folgt, richtete über eine öffentliche Erklärung des Rats der Konferenz des polnischen Episkopats zu Migration, Tourismus und Pilgern folgende Mahnung an Regierende und Bevölkerung: »Unsere Vorfahren waren in der Zeit der polnischen Teilungen, im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren des Kommunismus Emigranten und Flüchtlinge. Sie erfuhren Hilfe von Menschen anderer Kulturen und Religionen. Neuankömmlingen Grundrechte abzusprechen, bedeutet, sich von der eigenen Geschichte abzukehren und im Widerspruch zu unserem christlichen Erbe zu stehen« (siehe Dokumentation Seite 11). Der Primas von Polen, Erzbischof Wojciech Polak, setzte sich im Oktober gegenüber Innenminister Mariusz Kamiński dafür ein, zumindest die Gruppe »Mediziner an der Grenze« für humanitäre Aktionen ins Grenzgebiet zu lassen. Diese Bitte wurde erwartungsgemäß zurückgewiesen. Darüber hinausgehende Aktionen wären in der von der Regierung geschaffenen Lage auf zivilen Ungehorsam hinausgelaufen, was dem Charakter dieser Institutionen zuwiderläuft. In der Summe ist somit Hunderten, vermutlich aber Tausenden von Menschen in einer extremen Notsituation zumindest kurzfristig lebenswichtige Unterstützung zuteil geworden.

Allerdings waren nicht nur Migranten von Gewalt betroffen, sondern es wurden auch diejenigen behindert und Schikanen ausgesetzt, die über sie berichten oder ihnen unmittelbar helfen wollten. Teilweise aus eigenem Erleben schilderte mir dies in einem Telefongespräch Piotr Bystrianin, Chef der ebenfalls an Hilfsaktionen beteiligten »Stiftung Rettung« (Fundacja Ocalenie): »Noch im August durften sich Mediziner in Usnarz Górny nicht der dort festgehaltenen Gruppe von Flüchtlingen nähern, Grenzschutzbeamte erschwerten uns durch Tonsignale den Kontakt mit ihnen und schränkten unsere Sicht auf sie durch ihre Fahrzeuge ein. Während der Zeit des Ausnahmezustands waren solche und andere rechtswidrige Maßnahmen bereits an der Tagesordnung. Uniformierte bewegen sich ohne Kennzeichnung, tragen Sturmhauben und Langwaffen, die Nummernschilder ihrer Fahrzeuge sind verdeckt, was uns daran hindert, sie zu identifizieren und illegale Aktivitäten nachzuweisen. Es gibt regelmäßige Festnahmen von Aktivisten, auch außerhalb der verbotenen Zone (bis vor kurzem Zone des Ausnahmezustands), die ohne Angabe von Gründen und rechtlichen Grundlagen (die ohnehin als geheim eingestuft sind) erfolgen, wobei sie unter demonstrativ entsicherten Waffen festgehalten und ihre Telefone und medizinische Ausrüstung beschlagnahmt werden. Letzteres konnte zwar später wiedererlangt werden, aber stellen Sie sich den Einschüchterungseffekt vor.« Aber noch etwas anderes beunruhigt ihn: »Die Spendenbereitschaft ist tatsächlich stärker als vor der Krise. Aber große Demonstrationen, die das offensichtliche Unrecht und das rechtlose Vorgehen der polnischen Sicherheitskräfte so anprangern würden, wie das bei anderen innenpolitischen Themen der Fall war, sind ausgeblieben. Empört es die Menschen etwa nicht, dass drei Stunden Autofahrt von Warschau entfernt Kinder in polnischen Wäldern erfrieren?« Vorsichtig positiv kann aufgenommen werden, dass sich die Stimmung im Lande – entgegen der zu Beginn des Herbstes 2021 in Umfragen feststellbaren Unterstützung für die staatlichen Maßnahmen zur Grenzsicherung (einschließlich der Pushbacks) und auch angesichts einer fortgesetzten negativen Einstellung zur Erteilung von internationalem Schutz in Polen (nur 33 % sind dafür) – zumindest hinsichtlich der Wiederherstellung humanitärer und rechtsstaatlicher Standards zu drehen scheint. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS sprachen sich große Mehrheiten dafür aus, humanitären Organisationen (74 %) und den Medien (71 %) Zugang zur Grenze zu gewähren (siehe auch die Umfragen auf S. 14ff.).

Ohne ihren Wertekompass hat sich die EU in einer Zwangslage überrumpeln lassen

Natürlich befanden sich die europäischen Partner und die EU als Ganzes in keiner einfachen Situation. Aber der Verantwortung für Fehleinschätzungen und deren Auswirkungen werden sie sich stellen müssen. Äußerungen wie die der für Werte und Transparenz zuständigen Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová, dass sie »den polnischen Behörden vertraut, dass sie alles tun, um die Ordnung wiederherzustellen«, kosten Glaubwürdigkeit, weil sie der auch von Jourová selbst geübten Kritik an der Politisierung der Justiz und der versuchten Beschneidung der Medienfreiheit in Polen die Spitze nehmen. Das Verhalten der EU-Kommission, vor allem aber ihre Vorschläge zu befristeten rechtlichen und praktischen Maßnahmen zur Bewältigung der Notlage an der EU-Außengrenze zu Belarus, hinterlässt bei etlichen in der Flüchtlingshilfe Engagierten hinsichtlich der polnischen Praktiken an der Grenze Konsternation: »Der Vorschlag der Europäischen Kommission wird uns nicht helfen, sondern unser Handeln torpedieren. Was an der Grenze am dringendsten benötigt wird, um die humanitäre Krise abzuwenden, ist die Beachtung der Gesetze. Unseres Erachtens führt dieses Projekt Lösungen ein, die den Zustand der Gesetzlosigkeit und die Verletzung der Menschenrechte noch verschlimmern werden. Es legalisiert die von der polnischen Regierung angewandten Ausweichmanöver. […] Die in diesen Bestimmungen enthaltenen Verfahrensgarantien sind unserer Meinung nach fiktiv und werden in der Praxis keine Anwendung finden«, heißt es in einem offenen Brief (siehe Dokumentation Seite 9ff.).

Die Sanktionen gegenüber Belarus kamen nicht etwa zu spät, sondern zum völlig falschen Zeitpunkt. Damit hätte die EU ins Geschehen einsteigen müssen, statt es auf verlorenem Posten vorläufig zu beenden. Das Fehlen einer klaren Linie im Bereich der Werte ist eine Einladung zu weiteren Destabilisierungsversuchen. Dabei hätte es durchaus Alternativen gegeben: Zu einem Stichtag im zeitigen Herbst 2021 – die Lage war spätestens seit Juli klar – hätte ein großes Kontingent an Migranten aus Belarus abgenommen werden können, denen in ihren Zielländern (also nicht den betroffenen Ländern der EU-Außengrenze) ein Asylverfahren ermöglicht wird. Höchstwahrscheinlich hätte ein nicht unbedeutender Teil von ihnen keinen Anspruch auf Asyl gehabt und wäre später zurückgeschickt worden. Gleichzeitig wäre die Grenze mit Verweis auf Lukaschenkos absolut inakzeptables Vorgehen und die geopolitische Herausforderung sofort komplett zu schließen und auch der Handelsverkehr massiv einzuschränken – mit einer Grenzöffnung erst dann, wenn das Regime in Minsk glaubhaft macht, dass es das Prozedere eingestellt hat und sich an den Kosten für die Rückführung beteiligt. So hätte die EU Lukaschenko gegenüber echte Härte zeigen (statt Migranten unhaltbaren Risiken auszusetzen) und gleichzeitig ein praktisches Beispiel für Rechtsstaatlichkeit in Polen setzen können, ohne es zuzulassen, dass auch EU-Bürger massiv in ihren Rechten beschnitten werden. Das Einzige, was die Europäische Union mit ihrem Schlingerkurs tatsächlich erreicht hat, ist, PiS-Chef Jarosław Kaczyński bei der weiteren Polarisierung innerhalb Polens zu unterstützen und einen wichtigen Teil jener gesellschaftlichen Schichten, der im Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit auf der Seite der EU steht, ohne Grund vor den Kopf zu stoßen. Zudem hat sie unmissverständlich deutlich gemacht, dass brutalste Unmenschlichkeit in Europa politisch zumutbar ist.

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