Die Unterstützung der polnischen Bevölkerung für Geflüchtete aus der Ukraine

Von Małgorzata Fuszara (Universität Warschau)

Zusammenfassung
Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 begann, kam es zu einer massenhaften Fluchtbewegung, u. a. nach Polen. Über die spontane Hilfsbereitschaft der polnischen Bevölkerung, die weniger von staatlichen Stellen als selbstorganisiert von Privatpersonen ausging, wurde bereits viel in den Medien berichtet. Eine derart allumfassende Unterstützung hatte die polnische Gesellschaft seit der Entstehung der Solidarność-Bewegung vor rund 40 Jahren nicht mehr erlebt. Die massenhafte Hilfsbereitschaft war Gegenstand eines Forschungsprojektes der Universität Warschau (Uniwersytet Warszawski), dessen Ergebnisse hier präsentiert werden. Die Untersuchungen zielten auf die Formen der Unterstützung, die Motivation der Helfenden, die Durchführung der Hilfsleistungen in Städten und Ortschaften unterschiedlichster Größe sowie die sich ergebenden Schwierigkeiten. Außerdem wurde gefragt, ob die Tatsache, dass es sich bei den Geflüchteten vor allem um Frauen, Kinder und alte Menschen handelte, Einfluss auf das Ausmaß und die Art und Weise der Unterstützung hatte.

Die polnische Sympathie für die Ukraine

Der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zog weitreichende Veränderungen nicht nur im Leben der Geflüchteten nach sich, sondern auch derjenigen, die ihnen halfen. Aus der Perspektive des Einzelnen war der Ausbruch des Krieges eine Überraschung. Einer unserer Gesprächspartner (siehe Informationen zum Forschungsprojekt am Ende des Textes) sagte: »Ich habe nicht geglaubt, dass im Europa des 21. Jahrhunderts ein Krieg stattfinden kann.« Als dies jedoch eingetreten war, haben die Polinnen und Polen massenhaft ihre bisherigen Pläne über den Haufen geworfen, häufig auch ihr Studium, ihre Ausbildung und ihre Berufstätigkeit unterbrochen, um den ukrainischen Flüchtlingen zu helfen. Eine unserer Interviewpartnerinnen beschrieb es so: »Einen Tag vorher war ich von einer Woche in Frankreich zurückgekehrt […] und am Mittwoch sponnen Bekannte und ich zusammen neue Urlaubspläne […]. Und plötzlich wachen wir am Donnerstag auf und es stellt sich heraus, dass Krieg ist, und sofort hatten wir das Gefühl, dass wir nie mehr in die Ferien fahren werden, dass eine bestimmte Welt zu Ende war, dass etwas wirklich Schlimmes geschah […], etwas, das uns betrifft, und wir hatten wirklich so das Gefühl: Wie hatten wir nur daran denken können, dass wir im Juni nach Griechenland in den Urlaub fliegen… Das heißt, plötzlich wirfst du deine Pläne über den Haufen, alles hört auf, wichtig zu sein.«

Der polnische Grenzschutz schätzte, dass zwischen dem 24. Februar und September 2022 ca. 6.366.000 Menschen aus der Ukraine nach Polen gekommen sind (siehe auch die veröffentlichten Zahlen in der Rubrik »Statistik«). Daten zeigen übereinstimmend, dass in Polen im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern die meisten ukrainischen Flüchtlinge sind. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass hier viele Faktoren zusammenwirken; die wichtigsten wären: die räumliche Nähe (die Geflüchteten kommen in der Hoffnung auf eine rasche Rückkehr), die kulturelle Nähe (was sogar die Möglichkeit, sich sprachlich verständigen zu können, umfasst) und das Netzwerk von Ukrainerinnen und Ukrainern, die bereits vor Kriegsbeginn als Wirtschaftsmigranten in Polen lebten. Ihre Zahl wird auf mehr als 1,3 Millionen geschätzt. Sie waren häufig Anlaufpunkte für die Geflüchteten und unterstützten sie.

Ein weiterer Grund, nach Polen zu kommen und dort zu bleiben, kann die enorme und in Untersuchungen gut dokumentierte Sympathie der Polinnen und Polen für die Geflüchteten aus der Ukraine sowie auch für die Ukraine und ihre europäischen Bestrebungen sein. Auf diese – vor dem Hintergrund anderer europäischer Länder – überdurchschnittliche Sympathie wiesen u. a. Untersuchungen von Eurobarometer bald nach dem Angriff Russlands hin (April 2022), in denen die Polinnen und Polen eine deutlich größere Zustimmung zur Hilfe für die Ukraine und zu ihren Ambitionen kundtaten als der Durchschnitt der Europäischen Union und insbesondere der Bevölkerung einiger EU-Länder. Diese Untersuchungen zeigen auch, dass in Polen die Zustimmung zu Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland höher ist als im EU-Durchschnitt (Polen – 73 Prozent, EU – 55 Prozent, Ungarn – 29 Prozent), desgleichen zu finanzieller und militärischer Hilfe für die Ukraine (die entschiedene Unterstützung für die Finanzierung des Kaufes von Waffen für die Ukraine betrug im EU-Durchschnitt 33 Prozent, in Polen 55 Prozent und in Ungarn 18 Prozent) sowie zur Aufnahme von Flüchtlingen (EU-Durchschnitt – 55 Prozent, Polen – 61 Prozent, Ungarn – 48 Prozent). Große Unterschiede lassen sich auch in Bezug auf Ängste vor russischer Propaganda feststellen. Auf die Frage, ob den staatlichen russischen Medien die Ausstrahlung in der Europäischen Union verboten werden solle, äußerten deutliche Zustimmung im EU-Durchschnitt 41 Prozent, in Polen 64 Prozent und in Ungarn 27 Prozent. Ähnlich hohe Umfragewerte wie in Polen erzielten die Einwohner Finnlands, was sich mit der geografischen Nähe und der Angst vor Bedrohung durch Russland erklären ließe. Gewissermaßen am anderen Ende platzieren sich die Bürger Ungarns und Zyperns, wo deutlich weniger Menschen als im EU-Durchschnitt die Unterstützung pro-ukrainischer Aktivitäten befürworten. Diese Unterschiede lassen sich nicht nur mit Blick auf den Krieg und seine direkten Folgen ausmachen. Die Polinnen und Polen stimmen auch deutlich häufiger als der EU-Durchschnitt dem Satz zu »Die Ukraine ist Teil der europäischen Familie« (EU-Durchschnitt der Antwort »ich stimme vollkommen zu« – 31 Prozent, in Polen – 44 Prozent) und sind dafür, dass die Ukraine der Europäischen Union beitreten solle, wenn sie entsprechend vorbereitet ist (EU-Durchschnitt – 30 Prozent, Polen – 43 Prozent). Am anderen Ende befindet sich hier ebenfalls Ungarn, wo nur 16 Prozent die Ukraine als Teil der europäischen Familie betrachten und sich nur 15 Prozent eindeutig für einen zukünftigen Beitritt der Ukraine zur EU aussprechen. Die Meinungen in Deutschland deckten sich fast genau mit dem EU-Durchschnitt in diesen Fragen.

Formen der Unterstützung

Mit der großen Flüchtlingswelle wurde in Polen eine Reihe von Erleichterungen und Vergünstigungen für die Geflüchteten eingeführt, so beispielsweise gleich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs in allen Städten und kostenfreie Zugfahrten sowie die Nutzung medizinischer Dienste und Bildungseinrichtungen. Gebührenfrei waren für die Kriegsflüchtlinge auch die polnischen Telefonnummern und SIM-Karten, die die Verbindung zu den Familien in der Ukraine ermöglichten, und es wurden gesonderte PESEL-Nummern [individuelle Personenidentifikationsnummer, d. Übers.] eingeführt. Die Grundlage aller Unterstützungsleistungen war der per Stempel dokumentierte Übertritt der polnisch-ukrainischen Grenze am 24. Februar 2022 oder später. Anfangs bedeutete das Schwierigkeiten für diejenigen, die keinen Stempel bekommen hatten oder – was deutlich häufiger der Fall war – die ukrainische Grenze zu einem anderen Land übertreten hatten und von dort aus nach Polen gekommen waren. Das System wurde dann jedoch schnell angepasst.

Der Hilfe für die Ukrainerinnen und Ukrainer schlossen sich alle an – die Kommunen, Unternehmen und vor allem Privatpersonen. Sie organisierten Transporte, sammelten Gegenstände und Geld, kochten und gaben Mahlzeiten aus, erteilten rechtliche und medizinische Hilfe und gaben unbekannten Flüchtlingen eine Unterkunft. Wie uns die Bürgermeisterin einer Stadt von 11.000 Einwohnern sagte, war auch die Hilfe der Partnerstädte von Bedeutung, so auch der deutschen Partner. Da sich alle engagierten, war es relativ leicht, alles zu bekommen, was gebraucht wurde. Beispielsweise stellten Möbel- und Elektrogerätehersteller die Ausstattung der Notunterkünfte. Spendenaufrufe für Kleidung, Lebensmittel, Hygieneartikel, Spielzeug, Kinderwagen, Einrichtungsgegenstände und andere Dinge sowie auch Geld zeitigten sofort Reaktionen. Dabei kam der prompte Widerhall nicht nur aus dem bestehenden Kontaktnetzwerk der jeweiligen Person oder Institution, sondern auch von Menschen außerhalb desselben, die sich dem Unterstützungssystem anschließen wollten. Die Untersuchungen liefern faszinierende Beispiele, auf welche Art und Weise Privatpersonen ihre Möglichkeiten, anderen zu helfen, nutzten. Ein Beispiel wäre hier die ad hoc gegründete Frauengruppe »Weib am Steuer« (Baba za kółkiem), zu der Frauen gehörten, die zur polnisch-ukrainischen Grenze fuhren, um dort ihnen unbekannten weiblichen Geflüchteten eine Mitfahrgelegenheit anzubieten. Ihre Initiative ergab sich aus dem Gedanken, dass manche geflüchteten Frauen sich bei einer ihnen unbekannten Frau, die sie nach Polen bringt, sicherer fühlen könnten als bei einem ihnen unbekannten Mann. Viele Menschen brachten ihre beruflichen Kompetenzen ein, um kostenlose Hilfe anzubieten. Dazu gehörten nicht nur Juristen und Ärzte oder Psychologen, sondern auch Köche oder Fotografen, die kostenlos die notwendigen Fotos für die Dokumente machten.

Gegenstand unserer Forschung war vor allem die Hilfe von Privatpersonen für ukrainische Geflüchtete. Unter den Befragten waren Personen, die auf verschiedene Art und Weise geholfen haben – sie haben Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen, als Freiwillige an Infoständen und in Hilfseinrichtungen (auch Hospizen) gearbeitet, sie haben den Transfer von Geld und Sachgegenständen übernommen oder Geflüchtete von der Grenze oder sogar aus der Ukraine abgeholt. Häufig haben sich diese Personen in mehreren Bereichen eingebracht, zum Beispiel Frauen und Kinder von der Grenze abgeholt und sie bei sich zu Hause beherbergt oder an Infoständen gearbeitet und mit Sach- und Geldspenden geholfen. Eine unserer Gesprächspartnerinnen erzählte: »Ich habe einige Wochen auf dem Bahnhof gearbeitet und bin anschließend an die Grenze gefahren, um dann dort zu helfen. Ich habe Mahlzeiten ausgegeben, erklärt, wo der gesuchte Bahnsteig ist, Listen geführt, welche Autos für den Transport bereit stehen. Ich habe ganz einfache, aber auch schwierige Sachen gemacht, mit Kindern geredet, Hunde für eine Weile abseits vom Tumult spazieren geführt, mit Katzen gespielt oder Kleinkinder auf den Arm genommen, deren Mütter psychisch am Ende waren. Es fällt mir schwer, aufzuzählen, was ich alles gemacht habe, aber getan habe ich immer etwas.«

Warum wird geholfen?

Wir fragten unsere Gesprächspartner, warum sie geholfen und ihre Zeit, Ruhe, Kräfte und Geld geopfert haben. Meistens wurde auf starke Emotionen hingewiesen, die als »Reflex (Imperativ) zu helfen« beschrieben wurden. Die Frage nach den Gründen wurde als merkwürdig aufgefasst, da zu helfen in einer solchen Situation keine Begründung erfordere: »Das war für mich selbstverständlich, dass man helfen muss. […] Das war wirklich ein Impuls, nennen wir es einen Impuls des Herzen, eine Pflicht. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, es war nicht so, dass ich Zeit hatte und überlegt habe, ob ich helfen könnte, warum, wem, was und wie, nein, da war der Impuls – es muss geholfen werden, wenn ich die Möglichkeiten dazu habe, und fertig. […] Eine humanitäre Pflicht, das heißt, wenn wir in Sicherheit sind und die Möglichkeiten haben, dann haben wir die Pflicht, denen zu helfen, die in Gefahr sind.« »In meinem Umfeld war es selbstverständlich in der Flüchtlingshilfe aktiv zu werden. Lebensmittel zum Bahnhof bringen, Kleidung, Matratzen, Schlafsäcke sammeln – es gelang, sehr effektiv zu handeln.« »Ich kann mir nicht vorstellen, hilfsbedürftige Menschen in der Not allein zu lassen. Das sind genau solche Menschen wie wir. Ich wollte irgendetwas machen, um ihnen zu helfen, und sei es auch wenig. Empathie, der Wunsch, irgendetwas für sie zu tun.«

Werte wie Humanität und Empathie werden fast immer als diejenigen genannt, die das Gefühl der Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit zu helfen nach sich zogen. An solchen Werten orientierten sich sicherlich auch Menschen, die Personen geholfen haben, die für sie vollkommen anonym waren. Der Polizeipräsident der Stadtpolizei einer 11.000-Einwohner-Stadt, die auch ein Tourismusort ist, erzählte uns: »Die Leute kamen [zur Stadtpolizei, MF], legten Schlüssel für Ferienwohnungen mit Adresse auf den Tisch, und wenn wir fragten, für wen, war die Antwort: Für jeden, der es braucht.«

Ein zweiter Grund, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren, war, dass es leicht war, sich mit den Geflüchteten zu vergleichen: »Ich fühlte, dass ich helfen muss, denn das sind Menschen wie wir. […] Es hat sie getroffen und nicht uns, das ist Zufall und nicht ihre Schuld. Ich möchte auch, dass jemand uns so helfen würde. […] Als Menschen sollten wir uns ganz einfach helfen, soviel dazu.«

Ein weiterer Grund ist die nahe Nachbarschaft, die einerseits die Angst vor einem ähnlichen Schicksal vergrößert und andererseits umso mehr zu Hilfe verpflichtet. »Weil das unsere Nachbarn sind und sie es nicht verdient haben, was sie getroffen hat. Wir sind tagtäglich von Menschen aus der Ukraine umgeben, und ich kann mir nicht vorstellen, in so einer Situation nicht zu helfen.«

Ein anderer wichtiger Grund ist das Bedürfnis nach Wirksamkeit in einer Gefahrensituation. Die erste Reaktion auf die Nachricht von einem Angriff ist Entsetzen, Angst, das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dem Bösen und der Ungerechtigkeit, die gleich hinter unserer Grenze geschehen. Das wiederum weckt das Gefühl der Notwendigkeit zu handeln, sich dem Schlechten entgegen zu stellen. »Außer dem Mitgefühl mit diesen Menschen, von dem ich bereits gesprochen habe, wollte ich Einfluss haben. Wissen Sie, ich halte Putin nicht auf, aber ich kann seinen Opfern helfen. Ich wollte etwas bewirken.«

Für den Impuls zu helfen hatte die Figur Aggressor und Opfer keine unwesentliche Bedeutung. Ängste vor der Gefahr vonseiten Russlands sind im Bewusstsein sogar der jungen Polen präsent. »Das ganze Leben habe ich verschiedene mögliche Gefahren von russischer Seite im Hinterkopf und ich weiß, dass […] in Polen vielleicht etwas Ähnliches passieren könnte.« Die Angst vor einer Expansion, Erinnerungen an historische Ereignisse, die mit der Aggression Russlands gegen Polen verbunden sind, wachten wieder auf und hatten sehr großen Einfluss auf das Verhalten der Polen.

Viele Befragte wiesen darauf hin, dass die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ebenfalls Einfluss auf den »Impuls zu helfen« hatten. Es zeigt sich, dass in Polen ein »ererbtes intergenerationelles Trauma« präsent ist, das im Falle eines Angriffs von einem anderen Staat gebietet zu helfen. So sagte eine unserer Gesprächspartnerinnen: »Ich denke, das Thema Krieg haben wir irgendwie in den Genen. Wir sind bis heute nicht aus dem Zweiten Weltkrieg herausgekommen.« Solche Sätze fielen nicht nur in den Interviews mit den älteren Befragten, sondern auch mit jungen Menschen: »Wir assoziieren die Lage unseres Landes während des Zweiten Weltkrieges […], wir wollen diesen Menschen helfen aufgrund unserer eigenen Geschichte.« Solche Emotionen in Bezug auf den Angriff eines anderen Staates und Ängste gegenüber Russland können ebenfalls eine Erklärung für die Tatsache sein, dass die Polinnen und Polen vor Jahrzehnten ohne jeden Widerspruch die große (kulturell und religiös anders geprägte) Gruppe tschetschenischer Flüchtlinge akzeptierten, die insbesondere während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999–2009) infolge der russischen Angriffe nach Polen floh – Ministerpräsidentin Ewa Kopacz sprach damals von 80.000 Tschetschenen, die in dieser Zeit nach Polen gekommen waren.

Auf den Impuls zu helfen hatte zweifellos auch Einfluss, wer geflohen ist. »Wir standen der Hilfsbedürftigkeit dieser Menschen gegenüber. Wie soll man wehrlosen Kindern und ihren Müttern nicht helfen.« Die weiblichen Flüchtlinge sind die »ideale Figur« des unschuldigen Opfers (Mütter mit Kindern), das von einem starken und brutalen Aggressor angegriffen wird. Sie erfüllen die stereotype weibliche Rolle im Krieg – unschuldig, angegriffen, wehrlos, ein Opfer, das sich um die noch Schwächeren kümmert. Diese Schwächeren sind vor allem Kinder, aber auch Eltern sowie die vielfach in Fernsehreportagen gezeigten Haustiere. Eine der Freiwilligen wurde gebeten, eine besonders berührende Begebenheit zu erzählen, und schilderte diese Geschichte: »Hier am Zentralbahnhof kam eine ältere Dame mit einer kleinen Tasche an, so einer Schultertasche, wo maximal ein Telefon, Dokumente, ein Portemonnaie und zwei Hunde Platz hatten. Sie hatte die Wahl – Hunde oder Sachen. Sie hat die Hunde gewählt.«

Hilfsangebote im ganzen Land

Als ein hervorragendes Beispiel spontaner Aktionen an der Basis kann die »Zentrumsgruppe« (Grupa Centrum) genannt werden, die das ganze Hilfssystem am Zentralbahnhof in Warschau organisierte. Die Entstehung der Gruppe ging auf die Initiative zweier junger Frauen zurück, die zum Zentralbahnhof gekommen waren, um den Ankömmlingen zu helfen, und die dort Menschenmassen, Chaos und die Verlorenheit vieler dieser Ankömmlinge sahen. Sie beschlossen, Hilfe zu organisieren, indem sie ihre eigenen Fähigkeiten, die Reichweite der sozialen Medien sowie private und berufliche Kontakte nutzten. Die außerordentliche Offenheit und der Wunsch zu helfen bewirkten, dass es einfach war, weitere Freiwillige zu finden, und bereits am 28. Februar begann die Gruppe, organisiert aktiv zu werden. Einer der Freiwilligen schildert es so: »Wir haben Abteilungen gebildet. Wir haben ein ganzes System aufgebaut und im Laufe von zwei bis drei Wochen hatten wir alles so optimiert, dass alles wie in einem super Start-up oder in einem Konzern ablief, jeder hatte seine Aufgabe, jeder koordinierte einen anderen Bereich, es war super.« Die Freiwilligen teilten sich nach Themen ein (Information, Übernachtung, Transport, Mütter mit Kindern, Haustiere, Ärzte und Psychologen, Gastronomie). Den ersten Freiwilligen wurden konkrete Aufgaben zugewiesen. Indem sie ihr Wissen an die nächsten Freiwilligen weitergaben, wurden sie die Anführer des jeweiligen entstehenden Bereichs. So wurde derjenige, der sich als Erster z. B. mit Transport befasst hatte, Anführer der Transportabteilung. Die Gewinnung neuer Freiwilliger ergab sich zunächst über Bekanntschaften sowie die sozialen Medien. Aufgrund der Eigenschaft der Zentrumsgruppe, sich an der Basis gebildet zu haben und dort zu wirken, spielten Influencer in ihren Reihen eine außerordentlich große Rolle. Mit ihrer Hilfe erhielt die Gruppe die Dinge, die für die Geflüchtetenhilfe gebraucht wurden. Die Freiwilligen setzten nicht nur ihre Zeit und Energie, sondern auch ihr soziales Kapital ein, um Hilfe zu organisieren. Beispielsweise war eine Freiwillige-Influencerin dank ihrer Kontakte in der Lage, die Lieferung von Lebensmitteln zum Bahnhof in die Wege zu leiten; Aktivisten von Tierschutzorganisationen kümmerten sich um Hilfe für Haustiere. Mit der Zeit schlossen sich Institutionen (Pfadfinder, Feuerwehr) den Aktivitäten am Bahnhof an. Sie übernahmen Ordnungsdienste und halfen, Versuche nicht berechtigter Personen zu beschränken, die die kostenlosen Hilfsangebote für sich nutzen wollten. Es entstanden ein Registrierungssystem für die Freiwilligen und Computerprogramme, die das Finden von angemessenen Unterkünften (z. B. für Personen mit Haustieren) erleichterten.

In der Flüchtlingshilfe engagierten sich nicht nur die Großstädte und ihre Einwohner, die von den Geflüchteten naturgemäß bevorzugt wurden, oder die in Grenznähe gelegenen Städte, die als erste mit den unglaublich großen Flüchtlingswellen in Berührung kamen, sondern auch kleinere Ortschaften im Landesinneren. In solchen Orten beteiligte sich die gesamte Gesellschaft – vor allem die Einwohner, aber auch die lokalen Behörden und ortsansässigen Unternehmen. Ein Beispiel ist ein in unserem Forschungsprojekt untersuchtes 450 Einwohner zählendes Dorf in Masowien (Mazowsze). Die Initiative, Unterkünfte für Flüchtlinge bereit zu stellen, entstand bereits am ersten Tag des Krieges. »Wir sahen und hörten, was da vor sich geht, wie der Krieg aussieht und wie die Mütter mit ihren Kindern fliehen. Es war klar, dass man diese Menschen irgendwo wird aufnehmen müssen.« Um zu vereinbaren, was zu tun ist, und die Aufgaben aufzuteilen, traf man sich regelmäßig und es wurde eine eigene Gruppe in den sozialen Medien gebildet. Es wurde verabredet, dass die Flüchtlinge in Privathäusern in eigenen Wohnungen aufgenommen werden. Das erforderte Renovierungen und die Beschaffung von allem, was im Alltag notwendig war, also nicht nur Räumlichkeiten und Möbel, sondern auch Kleidung, Hygieneartikel, Kinderspielzeug usw. »Es wurde sofort ein Plan aufgestellt, was wir brauchen, Möbel, Baumaterial, Teppichboden, Öfen, jeder wusste, was er zu tun hat.« Niemand wartete auf staatliche Hilfe: »Wir haben alles privat finanziert. Niemand hat hier erwartet, dass es irgendwelche Gelder für unsere Unterstützung geben wird.« Informationen wurden ausgetauscht: »Einer brachte den anderen auf Ideen, wie die Hilfe noch besser organisiert werden könnte.« Es wurden für die Geflüchteten rechtliche Unterstützung und Übersetzer organisiert, Arbeit, Schulen und Ärzte gefunden. Die ersten kamen bereits am 27. Februar 2022, einige Tage später trafen weitere ein, insgesamt ca. 100 Personen. Manche blieben kurz, andere für länger. Die Ankömmlinge werden in Polen konsequent »Gäste« genannt und in dem Falle, dass sie länger bleiben, »neue Einwohner«. In der hier dargestellten kleinen Community werden sie als die »Unsrigen« betrachtet, denen gegenüber man zu Hilfe verpflichtet ist: »Wir sagen so: Allen können wir nicht helfen, aber die, die in unserem Dorf sind, die gehören zu uns und ihnen werden wir helfen und das erleichtern, was wir nur können.« Aus den Antworten der Gesprächspartner geht hervor, dass die ankommenden Frauen positiv überrascht, häufig sogar verlegen waren aufgrund des breiten Hilfsangebots. »Immer wieder haben sie wiederholt, dass sie keine Ahnung hatten, dass sie hier so aufgenommen werden würden. Am Anfang haben wir denen, die ohne Gepäck angekommen waren, auch Koffer gekauft, damit sie was hatten, um ihre Sachen reinzulegen, wenn sie den Ort wechseln und von hier weiter wollten. Sie konnten nicht glauben, dass die Hilfe kostenlos ist. Ständig haben sie sich für alles bedankt.«

Die Konfrontation mit Traumata und die Erfahrung von Solidarität

Die Folgen dieser »Hilfsausbrüche« in Polen waren vielfältig. Einerseits hatte die immense Anstrengung einen hohen Preis – nicht nur für die Vorgesetzten, die Verständnis für die Abwesenheit der freiwilligen Helfer am Arbeitsplatz oder in den Schulen und Universitäten hatten, sondern sie zog auch extreme physische und psychische Erschöpfung nach sich. Am schwierigsten war der Kontakt mit den Problemen, was viele junge Menschen überforderte, sie traumatisierte und deutliche Spuren in der Psyche der Helferinnen und Helfer hinterließ. Insbesondere diejenigen, die Flüchtlinge aufnahmen, standen vor der großen Herausforderung, selbst mit den dramatischen Erfahrungen der Geflüchteten zurechtkommen zu müssen. Es stellte sich hierbei die spezielle Situation ein, das Trauma »mit zu schultern«. Die vielen Stunden Gespräche, das gemeinsame Nacherleben der dramatischen Kriegserlebnisse, des Traumas, die nächsten Angehörigen verloren zu haben, und der Notwendigkeit, das eigene Zuhause verlassen zu müssen, sowie die Konfrontation mit einer ungewissen Zukunft dominierten die tägliche gemeinsame Gegenwart.

Andererseits hat die außerordentliche Hilfsbereitschaft alle Menschen miteinander verbunden – Menschen mit unterschiedlichen politischen und religiösen Auffassungen, aus unterschiedlichen Bildungsbereichen, Berufsfeldern, gesellschaftlichen und materiellen Kontexten kamen zusammen. Einander häufig fremde Personen, die sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterschieden, verbanden sich in der »Hilfskette« und ignorierten und entkräfteten so alle gesellschaftlichen Spaltungen. Das Engagement erzeugte das Gefühl von Gemeinschaft, Selbstwirksamkeit, der Bedeutsamkeit des eigenen Handelns (»ich fühlte, dass das, was ich mache, Bedeutung hat«), der gesellschaftlichen Nützlichkeit nicht nur individuell, sondern auch allgemein gefasst. Eine der von uns befragten Aktivistinnen drückte es so aus: »Ich glaube, das gab uns, uns Polen, das Bewusstsein, wirksam sein zu können, und ein kleines Körnchen Nationalstolz, dass unser Verhalten in solchen Situationen in Ordnung ist.«

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Das Forschungsprojekt wurde vom Lehrstuhl für Soziologie, Brauchtumsanthropologie und Recht des Instituts für Angewandte Sozialwissenschaften und dem Zentrum für Sozial-Rechtliche Forschungen über die Situation von Frauen (Katedra Socjologii i Antropologii Obyczajów i Prawa, Instytut Stosowanych Nauk Społecznych; Ośrodek Badań Społeczno-Prawnych nad Sytuacją Kobiet przy ISNS UW) der Universität Warschau (Uniwersytet Warszawski) durchgeführt. Es basiert auf mehr als 100 Interviews mit den Helfenden, 227 Befragungen unter den Geflüchteten sowie teilnehmenden Beobachtungen im Zeitraum von März bis September 2022. Die Untersuchungsergebnisse sind publiziert in: Fuszara, Małgorzata (Hg.): Masowa pomoc w masowej ucieczce. Społeczeństwo polskie wobec migracji wojennej z Ukrainy [Massenhafte Hilfe bei einer Massenflucht. Die polnische Gesellschaft angesichts der Kriegsmigration aus der Ukraine]. Warszawa 2022.

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