Frauen in Polen zwischen Rechtskonservatismus und Feminismus

Von Ewa Wanat (Berlin)

Zusammenfassung
Die Frauenpolitik oszillierte in der Volksrepublik Polen zwischen formeller Gleichberechtigung und realer Geringschätzung der Rolle von Frauen in Staat und Gesellschaft. Allerdings gab es ein liberales Abtreibungsgesetz, das 1992 infolge der politischen Einflussnahme der katholischen Kirche stark eingeschränkt und unter der Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) 2020 nochmals verschärft wurde. Doch ist dies nicht der einzige Bereich, in dem Frauen in Polen für ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpfen. Die Beachtung ihrer Belange fordern sie auch beim Zugang zu Verhütungsmitteln und Sexualkundeunterricht, bei der Verbesserung der Zustände rund um die Geburtskliniken, frauenfeindlichen Entgleisungen im öffentlichen Diskurs sowie der Thematisierung häuslicher Gewalt.

Frauenpolitik in der Volksrepublik

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Volksrepublik Polen die Geschlechtergleichheit von oben eingeführt. Sie fügte sich in das allgemeine Modell der neuen, kommunistischen Ordnung ein. Feminismus wurde als westliche Erfindung angesehen, in Polen unnötig. Der neue Staat gab den Frauen gleiche Rechte, sie erhielten Zugang zu kostenloser Ausbildung wie die Männer sowie zum Arbeitsmarkt, gleiche Sorgerechte für die Kinder und das gleiche Recht auf Scheidung.

Allerdings blieb neben all diesen zweifellos positiven Veränderungen die traditionelle Rollenverteilung in der Familie fest bestehen. Die Frauen waren nicht nur berufstätig (in den 1970er Jahren waren es 70 Prozent der verheirateten Frauen), sondern führten auch noch vollständig den Haushalt, was einer zweiten Stelle gleichkam. Das partnerschaftliche Modell war damals selten. Zudem verdienten die Frauen, trotz der theoretisch garantierten Gleichberechtigung, bis zu 60 Prozent weniger als die Männer.

Im Jahr 1956 wurde das Recht auf Schwangerschaftsabbruch eingeführt, was in der Praxis Abtreibung auf Verlangen bedeutete.

Polen hatte damals ein so liberales Gesetz, dass es sogar Anlass für »Abtreibungstourismus« aus Schweden wurde. Ein Schwangerschaftsabbruch wurde zu dieser Zeit nicht unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern allenfalls unter gesundheitlichen. Ärzte meinten, er sei gefährlich, insbesondere was die Möglichkeit angeht, später schwanger zu werden (damals wurde der Eingriff durch Ausschabung der Gebärmutter durchgeführt).

Die Kirche und die Diskussion über Abtreibung

In den 1980er Jahren wurde das Thema Abtreibung Gegenstand ethischer Diskussionen, was mit der sogenannten »moralischen Revolution« der Solidarność verbunden war. Die in der Volksrepublik illegale demokratische Opposition wurde stark von der katholischen Kirche unterstützt und war häufig mit der Kirche verflochten; die Solidarność berief sich direkt auf die traditionellen Beziehungen zwischen der polnischen Nation und dem Katholizismus. 1978, zwei Jahre vor den Massenstreiks und der Gründung der Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarność, wurde Karol Wojtyła zum Papst gewählt. Ihm wurde in großem Maße das »Wunder« der Solidarność zugeschrieben. Damals entstand der bis heute starke Mythos, dass er die polnische Gesellschaft aufgeweckt und zum wachsenden Widerstand gegen die kommunistischen Machthaber ermutigt hat. Die Zugehörigkeit zur Kirche, häufig demonstrativ gezeigt, wurde als eine der Arten von Widerstand gegen die kommunistische Regierung verstanden. Sie ging außerdem mit der Neigung zur traditionellen Rolle der Familie und traditionellen Rollenverteilung einher. In den Kirchen tauchten in den 1980er Jahren die Ideen der Bewegung zum »Schutz des Lebens« auf, einer starken Strömung, die sich gegen Abtreibung richtete. In kirchlichen Räumen wurden Anti-Abtreibungsausstellungen organisiert, die zum Beispiel zerrissene Föten zeigten. Im kirchlichen Religionsunterricht und in Ehevorbereitungskursen wurde der Film der Pro-Life-Bewegung »Der stumme Schrei« (1984) gezeigt, der den Schwangerschaftsabbruch als Mord darstellt. Dieses Narrativ hält sich in Polen seit über 30 Jahren.

Im Jahr 1989 wurde der Runde Tisch einberufen, an dem Vertreter des damaligen Machtapparats und der demokratischen Opposition zusammensaßen, um über die Systemtransformation zu verhandeln. Anwesend waren vor allem Männer: Zwischen den 58 Teilnehmern der Plenarberatungen saßen nur zwei Frauen. Ein Ergebnis der Beratungen des Runden Tisches war, dass ein Kompromiss zu den ersten teilweise freien Wahlen geschlossen wurde: In der unteren Parlamentskammer, dem Sejm, wurden 65 Prozent der Sitze für die damals regierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia RobotniczaPZPR) reserviert und 35 Prozent für die Opposition. Die höhere Parlamentskammer, der Senat mit seinen 100 Sitzen, wurde von dieser Vereinbarung ausgeschlossen.

Im Laufe des Wahlkampfes bemühte sich die Opposition um die Unterstützung der Kirche. Der Anführer der Solidarność, Lech Wałęsa, traf sich damals mit dem Primas von Polen. Die Gazeta Wyborcza, die damals einzige unabhängige Tageszeitung, berichtete über das Treffen: »Der Primas wies auch auf die Bedeutung des Schutzes ungeborenen Lebens hin. […] Die Kirche misst diesem Thema besonderes Gewicht bei. Der Primas unterstrich, dass die Frage des Schutzes ungeborenen Lebens weder Gegenstand eines politischen Spiels noch des Ermessens der zur Wahl stehenden Kandidaten werden dürfe.«

Es war ein klares Signal – Unterstützung der Kirche für die Opposition bei den bevorstehenden Wahlen im Gegenzug für ein Abtreibungsverbot. Als die Opposition die nächsten, nun schon vollständig freien Wahlen gewann, opferte sie als Dank an die Kirche die reproduktiven Rechte der Frauen. 1993 wurde ein restriktives Abtreibungsrecht verabschiedet, das den Schwangerschaftsabbruch nur in drei Fällen erlaubte – bei Vergewaltigung, Bedrohung des Lebens und der Gesundheit der Mutter und unheilbaren Schäden des Fötus. Die Debatte über das Abtreibungsrecht begleiteten massive Proteste. Es wurden knapp zwei Millionen Unterschriften für den Antrag auf ein Referendum gesammelt. Das Parlament ignorierte sie und ein Referendum fand nicht statt; das Gesetz wurde angenommen. 2020 verschärfte das durch die PiS umgestaltete Verfassungstribunal das – abgesehen von Malta – restriktivste Abtreibungsrecht in Europa und verbot die Abtreibung von Föten mit unheilbaren Schäden. Seitdem sind die Frauen in Polen gezwungen, todkranke Kinder zur Welt zu bringen.

Veränderungen bei der Geburtsbegleitung

Mit der Debatte um die Einführung des Gesetzes im Jahr 1993 begann der Kampf polnischer feministischer Kreise für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen; mit der Zeit wurden auch andere Fragen der Frauenvorsorge einbezogen. Als eines der wichtigsten Probleme wurde damals das Thema Geburtsbegleitung erkannt. Viele Frauen, die zur Zeit der Volksrepublik Kinder in Geburtskliniken zur Welt gebracht haben, erinnern sich an die Geburt als an eine traumatische Erfahrung. Sie sprechen von fehlender Intimität in Kreissälen für mehrere Gebärende, Anonymität, Einsamkeit und mangelnder Unterstützung, routinierten Abläufen, der Trennung der Neugeborenen von den Müttern und anderen Angehörigen, fehlendem Respekt und sogar Gewalt. Die Frau wurde wie ein Objekt behandelt. Die Situation veränderte sich infolge der Aktion »Kinder menschlich zur Welt bringen« (Rodzić po ludzku), welche die Gazeta Wyborcza 1994 initiierte. Auf der Grundlage von 15.000 Briefen von Leserinnen an die Zeitung erarbeiteten die Organisatoren einen Leitfaden für die polnischen Kreissäle. Es wurden Zehn Gebote dafür aufgestellt, dass »Kinder menschlich zur Welt gebracht werden« können, wozu auch Forderungen gehörten, Veränderungen bei der Geburtshilfe einzuleiten. Das war eine große Bewegung der in Polen noch im Aufbau begriffenen Zivilgesellschaft, die die Grundsätze für Geburtsbegleitung umgestaltete. Sie veränderte die Beziehungen in den Krankenhäusern, die Krankenhäuser selbst, das Bewusstsein des medizinischen Personals und das Bewusstsein der Frauen.

Frauenfeindlichkeit in der öffentlichen Debatte

1997 wurde die seit 1992 geltende »Kleine Verfassung« von der Verfassung der Republik Polen abgelöst. In ihr ist die Gleichheit der Geschlechter festgeschrieben. In Polen – wie auch leider in immer noch zu vielen Ländern – existiert sie allerdings häufig nur auf dem Papier.

Im Jahr 2015 gewann eine Koalition konservativer, nationalistischer Parteien mit Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) an der Spitze die Parlamentswahlen. Sie bemüht sich, die progressiven Veränderungen zu behindern und rückgängig zu machen und die Frauen in der traditionellen Rolle der Ehefrau, Mutter und Pflegerin bedürftiger Angehöriger einzuschließen. Einer der ersten Impulse der neuen Regierung war es, die Stelle des Regierungsbeauftragten für die Gleichstellung von Frauen und Männern zu streichen – sie war im Jahr 2001 als eine der Bedingungen für die Aufnahme Polens in die Europäische Union geschaffen worden – und ihre Kompetenzen später um das Vorgehen gegen Diskriminierung aus anderen Gründen als dem des Geschlechts (Rasse, ethnische und nationale Herkunft, Religion und Überzeugungen, Alter sowie sexuelle Orientierung) zu erweitern.

Eindrückliche Beispiele für die heutige Situation der Frauen und die Atmosphäre in Polen sind die frauenfeindlichen Äußerungen vieler Politiker und Prominenter. Über eine Frau, die im Alter von 13 Jahren von einem Priester gefangen gehalten und viele Male vergewaltigt worden war und der das Gericht eine Entschädigung in Höhe von einer Million Zloty zugesprochen hat, sagte der Feuilletonist des katholischen Radio Maryja, Stanisław Michalkiewicz: »Eine Million Zloty dafür zu bekommen, dass jemand irgendwann die Hand unter den Rock gesteckt hat, – wer würde das nicht wollen. Keine Nutte wird so hoch bezahlt.« Der prominente rechtskonservative Publizist Rafał Ziemkiewicz sagte zu Vergewaltigungen: »Wer nie eine Betrunkene ausgenutzt hat, werfe den Stein. Und ein Kerl, der morgens neben einer Schreckschraube aufwacht, hat der auch das Recht, sie wegen Vergewaltigung anzuklagen?« Der Sejmabgeordnete Paweł Kukiz griff Joanna Mucha, Abgeordnete der Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO), für ihre Teilnahme am Frauenstreik an [Aktion der gleichnamigen feministischen Bewegung Ogólnopolski Strajk Kobiet, einer ihrer Schwerpunkte waren Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts, Anm. d. Übers.] und schrieb über sie: »Eine Mutter, die ihre eigenen Kinder allein lässt und auf eine Demo geht, um die problemlose Möglichkeit zu fordern, ein dreimonatiges lebendiges Wesen abzuschlachten.« Der Europaabgeordnete Janusz Korwin-Mikke: »Eine Frau ist mit den Ansichten desjenigen Menschen durchtränkt, mit dem sie schläft. Letztlich hat die Natur oder Gott – wir werden uns hier nicht streiten – den Mann nicht dafür so konstruiert, dass Hunderttausende Spermien vergeudet werden; sie dringen in den Körper der Frau ein und gestalten sie nach dem Bilde des Mannes um, zu dem sie gehört.«

Mangelnde Gleichberechtigung

Trotz der Bereitschaft, solche Ansichten in der öffentlichen Debatte hinzunehmen, oder vielleicht gerade deswegen, wächst in Polen die Sensibilität für Diskriminierung von Frauen. Im Jahr 2021 bestellte der Bürgerrechtsbeauftragte beim Meinungsforschungsinstitut Kantar eine Umfrage mit dem Ziel, das Rechtsbewusstsein im Zusammenhang mit der Gleichstellung zu untersuchen.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Einwohner Polens im Alter von 15 Jahren und älter häufiger als ein Jahr zuvor Fälle von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wahrnehmen. 2020 haben sie zwölf Prozent der Befragten bemerkt, 2021 bereits 20 Prozent. Als geschlechtsspezifische Diskriminierung beurteilen sie u. a., dass Kandidatinnen in Bewerbungsgesprächen für eine Arbeitsstelle nach ihrer Familienplanung gefragt werden. In solchen Gesprächen ist das sehr häufig der Fall. Als diskriminierend wird auch das unterschiedliche Renteneintrittsalter von Frauen und Männern angesehen: Frauen gehen mit 60 Jahren, Männer mit 65 Jahren in Rente, weshalb Frauen eine niedrigere Rente haben als Männer.

Die Position Polens im Ranking des EU-Gleichstellungsindex fiel zwischen 2010 und 2018 von Platz 15 auf Platz 24.

Fehlende Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Polen lässt sich schon auf der Ebene der Sprache deutlich erkennen. Feminine Formen in der polnischen Sprache stoßen auf großen Widerstand und Unverständnis. Die weiblichen Ableitungen von Berufsbezeichnungen und Funktionen werden als feministische Zumutung angesehen – zum besseren Verständnis: Der Begriff Feminismus wird in Polen häufig als Schimpfwort verwendet. Indessen wurden die weiblichen Berufsbezeichnungen dank der polnischen Emanzen bereits in den 1890er Jahren eingeführt. Aufgehoben hatte sie der kommunistische Präsident Bolesław Bierut, der meinte, dass die Bezeichnungen das Ansehen der Berufen schmähen(!). Doch dank der Medien und der in ihnen auftretenden Frauen und Expertinnen dringen sie allmählich in das Bewusstsein der Polinnen und Polen ein und werden zunehmend benutzt.

Häusliche Gewalt gegen Frauen

Die Regierungskoalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) droht weiterhin damit, das »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, die sogenannte Istanbul-Konvention, aufzukündigen und sie unter dem Slogan »Nein zu Gender, ja zur Familie« durch die Charta der Familienrechte zu ersetzen. Die Charta entstand auf Wunsch der Bischofssynode im Jahr 1980, die den »Aufgaben der christlichen Familie in der gegenwärtigen Welt« gewidmet war. Gegen die Istanbul-Konvention und für die Charta der Familienrechte betreibt die sehr einflussreiche Organisation konservativer Juristen Ordo Iuris eine starke Lobbyarbeit. (Sie steht auch hinter der Verschärfung des Abtreibungsrechts.) Ordo Iuris will, dass Vorschriften eingeführt werden, die Ehescheidungen erschweren oder am besten ganz verbieten. Letztens machte sich die Vereinigung mit der Forderung einen Namen, dass Hoteliers keine Doppelbettzimmer an unverheiratete Paare vermieten. Das wäre alles lustig, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass Vertreter von Ordo Iuris immer zahlreicher hohe staatliche Positionen besetzen, u. a. im Justizministerium.

Politiker des rechten Lagers, die sich für die Aufkündigung der Istanbul-Konvention vonseiten Polens aussprechen, sagen, Frauen seien in Polen ausreichend geschützt und brauchen dafür keine neuen Rechtsbestimmungen.

Das regierungsnahe Meinungsforschungsinstitut CBOS hat im Jahr 2019 eine Untersuchung zu häuslicher Gewalt durchgeführt. In der Umfrage gaben zwölf Prozent der Frauen an, dass sie von ihren Ehemännern oder Partnern geschlagen werden. Die Daten zeigen auch, dass jede fünfte Befragte persönlich Frauen kennt, die physische Gewalt in der Beziehung erleben. Das genaue Ausmaß der Gewalt gegenüber Frauen ist nicht bekannt. Frauenorganisationen stellen fest, dass die Polizeistatistiken nicht repräsentativ sind. Die Chefin der Nichtregierungsorganisation Feminoteka, Joanna Piotrowska, sagte unlängst in einem Interview für das Frauenmagazin Wysokie Obcasy, dass die betroffenen Frauen manchmal schlicht und einfach überredet würden, die Angelegenheit nicht zur Anzeige zu bringen oder sie zurückzuziehen: »Sie hören: Sie werden mit einer Menge Unannehmlichkeiten konfrontiert. Wenn Sie das Verfahren eröffnen, kommt eh nichts dabei heraus. Was bringt Ihnen das? Wenn Sie es nicht machen, haben Sie Ihre Ruhe.« Die Mehrheit der Verfahren wegen häuslicher Gewalt wird eingestellt und da, wo Urteile gesprochen werden, handelt es sich häufig um Strafen auf Bewährung. Die Zahl der Weiterbildungen für die Polizei, Staatsanwälte und Richter reicht nicht aus. Es kommt zu Urteilen, die den Vergewaltiger freisprechen, weil das Gericht feststellt, das Opfer habe nicht geschrien – was für den Beklagten spricht.

Die Nichtregierungsorganisation Niebieska Linia, die sich mit häuslicher Gewalt befasst, hat 2021 das Schwarzbuch der Opfer häuslicher Gewalt in Polen (Teraz koniec z Tobą. Czarna Księga Ofiar Przemocy Domowej w Polsce) herausgegeben. Seine Autorinnen und Autoren stellen fest, dass auf der Basis der zurzeit gesammelten Daten in Polen keine Möglichkeit besteht zu bestimmen, wie viele Menschen infolge von Gewalt in der Familie ihr Leben verlieren. »Solche Daten besitzen weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft, noch die Gerichte, noch das System für medizinische Dokumentation und für Todesfälle, noch das System zur Bekämpfung von familiärer Gewalt, auch keines der Systeme für das Monitoring gesellschaftlicher Probleme, das in den vom Statistischen Hauptamt gesammelten Daten gespiegelt wird. Aus der einjährigen Recherche in verschiedenen statistischen Datensätzen ergibt sich, dass, obwohl sich bestimmte Institutionen mit Tötungsfällen infolge familiärer Gewalt beschäftigen, der polnische Staat in diesem Bereich blind und taub bleibt. Es gibt keine zuverlässige Datenbasis zu solchen Vorkommnissen, ihrem Ausmaß sowie ihrer Spezifik, und der Staat ergreift in diesem Kontext keine Maßnahmen, die zum Ziel haben, dieses Phänomen zu verhindern und es zu bekämpfen.«

Angehörige pflegen und Kinder kriegen

Ein gewichtiges und von allen polnischen Regierungen übergangenes Problem von Frauen ist die Pflegearbeit. Es gibt in Polen im Grunde keine institutionelle Unterstützung für Menschen, die sich um ihre alten Eltern oder behinderten Angehörigen kümmern. Das sind vor allem Frauen. Beispielsweise ist es Personen, die ein Pflegegeld erhalten, staatlicherseits nicht erlaubt, berufstätig zu sein. Das Pflegegeld beträgt aktuell 2.458 Zloty (ca. 500 Euro), der Mindestlohn aber beträgt 3.490 Zloty in Polen. Das Verbot dazuzuverdienen führt zu absurden Situationen. Anna aus Posen (Poznań), Mutter einer behinderten Tochter, verzichtete auf 4.000 Zloty Preisgeld, die sie aus dem lokalen Wettbewerb zur Freiwilligen des Jahres erhalten sollte. Hätte sie das Geld angenommen, hätte sie ihr Recht auf Pflegeleistungen verloren, das ausschließlich Personen zusteht, die keine Anstellung oder bezahlte Arbeit aufnehmen bzw. eine solche aufgeben. Die geltenden Regeln lassen Interpretationen zu und Annas Preisgeld wäre als Einkommen bewertet worden.

Die Regierungsparteien wollen die Frauen zwingen, Kinder zu bekommen und zu Hause zu bleiben. Der Minister für Bildung und Wissenschaft, Przemysław Czarnek, sagt offen, dass die allererste Aufgabe der Frau die Fortpflanzung sei: »Wenn man das erste Kind im Alter von 30 Jahren zur Welt bringt, wie viele Kinder kann man dann bekommen? Das sind die Folgen, wenn der Frau erklärt wird, dass sie nicht das machen muss, wozu sie von Gott berufen wurde.«

Frauen, die keine Kinder haben, werden von der de facto wichtigsten Person im Staat, dem Parteivorsitzenden der PiS, Jarosław Kaczyński, angeprangert. Auf einem Treffen mit Parteianhängern 2022 sagte er: »Wenn es bei dem Zustand bleibt, dass junge Mädchen, junge Frauen bis zum 25. Lebensjahr so viel trinken wie ihre männlichen Altersgenossen, dann wird es keine Kinder geben. Vergesst nicht, dass ein Mann, um dem Alkoholismus zu verfallen, durchschnittlich 20 Jahre lang übermäßig trinken muss. Der eine kürzer, der andere länger, das hängt von der individuellen Veranlagung ab, aber Frauen nur zwei [Jahre].« Kaczyński betonte, dass er kein Befürworter einer »sehr frühen Mutterschaft« sei, da »eine Frau dazu heranreifen muss, Mutter zu sein. Aber wenn sie sich bis zum 25. Lebensjahr den Hals volllaufen lässt, dann – ich mache ein wenig Witze, aber das ist keine gute Prognose für diese Dinge«, urteilte der PiS-Vorsitzende. Diese Worte lösten eine Welle der Kritik aus. Die Linke (Lewica) stellte beim parlamentarischen Ausschuss für Abgeordnetenethik einen Strafantrag.

Trotz dieser zweifelhaften Anstrengungen der aktuell das Land regierenden Männer erleidet ihre Familienförderpolitik eine Niederlage. Im Jahr 2022 führte das Meinungsforschungsinstitut CBOS eine Untersuchung durch, die zeigt, dass die Polinnen keine Kinder haben wollen. 68 Prozent der Befragten im Alter von 18 bis 45 Jahren antworteten auf die Frage, ob sie planen, Nachwuchs zu bekommen, sie hätten weder in näherer noch in weiterer Zukunft solche Pläne. Im Vergleich zum Jahr 2017, als CBOS die vorige Befragung machte, ist der Anteil der Frauen zwischen 18 und 45 Jahren, die planen, Kinder zu haben, um neun Prozentpunkte gesunken. Das Hauptstatistikamt (Główny Urząd Statystyczny GUS) gab unlängst bekannt, dass 2022 die wenigsten Kinder seit dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden.

Auf diese Situation hat zweifellos das fast vollständige Abtreibungsverbot Einfluss – die Frauen haben Angst, schwanger zu werden. Aber das ist nicht alles, hinzu kommt die fatale Situation am Arbeitsmarkt. Untersuchungen der Stiftung Rodzic w mieście zeigen, dass 94,4 Prozent der nicht berufstätigen Mütter wieder arbeiten möchten. Die Zahlen sind erschreckend: Ihr Anteil am Arbeitsmarkt beträgt knapp 44 Prozent.

Die Verringerung der Lohnlücke

Bei dieser erdrückenden Menge an schlechten Nachrichten gibt es aber auch gute zur Situation der Frauen in Polen. Letztens vollzog sich ein kleiner Fortschritt am Arbeitsmarkt, und zwar hat sich die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern verringert. Obwohl sich das hohe Bildungsniveau der Frauen in Polen (66 Prozent der Hochschulabsolventen sind Frauen) nicht entsprechend auf die Höhe ihres Gehalts in Relation zu dem der Männer niederschlägt, hat sich der Verdienstabstand (der Unterschied zwischen dem Durchschnittsgehalt von Frauen und Männern) in Polen in den letzten Jahren verringert. Eine Analyse der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2022 zeigt, dass die korrigierte Lohnlücke in den EU-Staaten 11,1 Prozent beträgt. In Polen, so Schätzungen der OECD, verringerte sie sich zwischen 2018 und 2021 von 11,5 auf 8,7 Prozent.

Positiv ist auch die Tatsache, dass von Jahr zu Jahr mehr Männer den Vaterschaftsurlaub in Anspruch nehmen. Im Jahr 2022 waren es 53 Prozent der Väter, im Jahr 2022 58 Prozent.

Zugang zu Verhütungsmitteln und illegaler Abtreibung

In Polen werden keine Kinder geboren – und das, obwohl nicht nur Abtreibung in Polen verboten ist, sondern auch der EU-weit schlechteste Zugang zu Verhütungsmitteln besteht. Im Bericht des European Parliamentary Forum for Sexual & Reproductive Rights (EPF) offenbarte sich Polen als das Land mit dem schlechtesten und erschwerten Zugang zu Verhütung. »Moderne Verhütung spielt eine Schlüsselrolle bei der Erlangung der Geschlechtergleichheit. Außerordentlich wichtig ist es, einen allgemeinen Zugang zu qualitativ hochwertigen Verhütungsmethoden sicherzustellen sowie die finanziellen, gesellschaftlichen und kulturellen Barrieren auszuräumen, die den Zugang erschweren. Das Recht auf Gesundheit und das Wahlrecht für alle Frauen müssen geschützt werden«, unterstrich die französische Europaabgeordnete Irène Tolleret während der Präsentation des »Contraception Atlas«. Die Kennziffer, die den Zugang zu Verhütungsmitteln anzeigt, beträgt in Polen 33,5 Prozent. Polen hat damit Russland (42,8 Prozent), Bosnien und Herzegowina (44,3 Prozent), Belarus (44,4 Prozent) und Ungarn (44,9 Prozent) hinter sich gelassen. Hinzu kommt, dass Mädchen im Alter von 15 Jahren das Einverständnis der Eltern für einen Besuch beim Gynäkologen bekommen müssen. Interessanterweise erlaubt das Recht ihnen ganz legal, mit jemandem Geschlechtsverkehr zu haben, verbietet aber, sich selbständig um andere Verhütungsmittel als Kondome zu kümmern. Keineswegs selten verweigern Gynäkologen, ein Rezept für Verhütungsmittel auszustellen, und berufen sich dabei auf die sogenannte Gewissensklausel. Auf einen vom Nationalen Gesundheitsfonds (Narodowy Fundusz ZdrowiaNFZ; zentrale Institution des polnischen Gesundheitssystems, das aus den Krankenkassenbeiträgen die versicherungsgedeckten Leistungen bezahlt – Anm. d. Übers.) finanzierten Besuch beim Gynäkologen wartet man manchmal mehrere Monate, so dass Frauen gezwungen sind, für Untersuchungen in privaten Arztpraxen zu zahlen. In der Schule gibt es keinen Sexualkundeunterricht, chirurgische Verhütungsmethoden sind für Frauen illegal. Da die Eileiterunterbindung zu Unfruchtbarkeit führt, droht Ärzten eine bis zu zehnjährige Haftstrafe. Die polnische Regierung unternimmt viel, um jungen Frauen die bewusste Familienplanung zu erschweren.

Bei all diesen Anstrengungen des Staates haben die Polinnen aufgehört, Kinder zu bekommen. Wie ist das möglich? Ganz einfach: Täglich vollziehen über einhundert Frauen trotz Verbots einen Schwangerschaftsabbruch, so die Daten der Organisation Aborcja bez Granic, die Frauen bei Abtreibungen hilft. Diese Tätigkeit ist selbstverständlich illegal, für die Hilfe bei Schwangerschaftsabbruch droht eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Zurzeit wird ein Präzedenzfall verhandelt. Eine der Aktivistinnen der Organisation, Justyna Wydrzyńska, stand wegen Beihilfe bei Abtreibung vor Gericht. Sie hatte einer Frau eine Abtreibungspille übermittelt, was den Partner der Schwangeren zur Denunziation veranlasste.

Aborcja bez Granic hat 2022 bekannt gemacht, dass sie während der zwei Jahre nach dem Urteil des PiS-gelenkten Verfassungstribunals insgesamt 78.000 Personen geholfen hat. Die Mehrheit von ihnen (99 Prozent) hat Abtreibungspillen genommen. Die übrigen fuhren zum Eingriff ins Ausland. Doch das ist nicht das ganze Bild. Viele Frauen nutzen die Vermittlung einer Organisation nicht und kaufen in Eigeninitiative Abtreibungstabletten im Internet oder nehmen Angebote tschechischer oder slowakischer Abtreibungskliniken wahr, die sogar die Fahrt aus Polen organisieren.

Frauenthemen im Wahlkampf der Opposition

Die Nationalkonservativen regieren Polen seit acht Jahren. Dieses Jahr im Herbst finden Parlamentswahlen statt. Die PiS führt die Umfragen weiter an und die zerstrittene Opposition kann nicht garantieren, dass jene eine Niederlage erfährt, obwohl die Mehrheit der Wähler einen Regierungswechsel möchte.

Die stärkste Oppositionspartei, die PO, hat ein »Paket für die Frauen« vorgestellt, das zwei Vorschläge beinhaltet, die miteinander verknüpft sind. Der erste ist das Gesetz »Sicherheit für Frauen«, das eine ganzheitliche Lösung für Fragen der Frauenvorsorge beinhaltet:

Gewährleistung kostenloser pränataler Un­ter­suchungen;Garantie eines leichten Zugangs zu kostenlosen Verhütungsmethoden;Zugang zur »Pille danach« ohne Rezept;Sexualkundeunterricht in der Schule;dauerhafte finanzielle Unterstützung und medizinische Versorgung im Falle der Geburt eines behinderten Kindes;kostenlose In-vitro-Fertilisation.

Der zweite Vorschlag ist ein »Neuer Gesellschaftsvertrag«. Dort heißt es: »Die Bürgerplattform spricht sich dafür aus, dass jeder Polin, die sich in einer außergewöhnlich schwierigen persönlichen Situation befindet, nach der Konsultierung eines Psychologen und eines Arztes das Recht auf individuelle Entscheidung über einen eventuellen Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche unter sicheren Bedingungen garantiert wird, ähnlich wie in der Mehrheit der europäischen Länder. Wir glauben an die Klugheit der Frauen.«

Die Partei Neue Linke (Nowa Lewica) schlägt vor:

Sichere Schwangerschaftsabbrüche. Wir führen das ausschließlich von der Entscheidung der Frau abhängige Recht auf Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche ein sowie über die zwölfte Woche hinaus im Falle der Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Mutter oder bei schweren Schäden des Fötus;moderne Verhütungsmethoden. Wir garantieren die Finanzierung moderner Verhütungsmethoden, u. a. der »Pille danach«;gleiche Repräsentation. Wir führen die Geschlechterparität im Ministerrat, in den Kreisverwaltungen, den Woiwodschaftsverwaltungen, den Bezirksverwaltungen der Hauptstadt Warschau sowie in den Verwaltungs- und Aufsichtsräten der kommunalen Gesellschaften und der Unternehmen, an denen der Staat Anteile hält, ein.

Der Wahlkampf hat bereits begonnen und zum ersten Mal in der polnischen Geschichte seit 1989 spielen Frauenfragen eine so große und bedeutende Rolle in den Parteiprogrammen. Man möchte sagen: Endlich. Wenn auch mindestens 30 Jahre zu spät.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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