Exposé des Ministerpräsidenten Donald Tusk, 12. Dezember 2023

Vorgetragen am 12. Dezember 2023 vor dem Sejm, einen Tag vor der Vereidigung der Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk, die sich aus der Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO), dem Bündnis Dritter Weg (Trzecia Droga) und Die Neue Linke (Nowa Lewica) zusammensetzt.

Stenogramm

[…]

Ich möchte nicht, dass dieser Tag im Zeichen dramatischer, tragischer und trauriger Erinnerungen steht, aber ich kann nicht vermeiden, an meinen Freund, den Stadtpräsidenten meiner Stadt, Paweł Adamowicz, zu erinnern. Ich kann nicht und ich will nicht diesen symbolischen Augenblick aus meinem Gedächtnis löschen, als er zur Solidarität aufrief, den Augenblick, als er über Danzig (Gdańsk) als freigebige, großzügige Stadt sprach. Das war an dem Tag, an dem sich die Polen seit vielen Jahren in echter Solidarität mit den Schwächeren und Kranken verbinden [Während der regionalen Abschlussveranstaltung der landesweiten Spendensammelaktion des Großen Orchesters der Weihnachtshilfe wurde Adamowicz von einem psychisch kranken Mann erstochen und erlag seinen Verletzungen; Anm. d. Übers.]. Ich will, dass wir uns an alle erinnern, ausnahmslos, an die Opfer von Gewalt, Verachtung, Hass und Konflikt, damit der Tag des 15. Oktober [am 15. Oktober 2023 fanden die Parlamentswahlen in Polen statt; Anm. d. Übers.] – oder vielleicht der Tag, an dem ihr dem neuen Kabinett das Vertrauen aussprechen werdet, der Anfang einer Wiedergeburt werde. Der Wiedergeburt auch des wahren Geistes der Solidarität und der Wahrung der Rechte einer Gemeinschaft, in der sich die Menschen voneinander unterscheiden. Denn wir werden ja auch in Zukunft – wir hatten, wir haben und wir werden auch in Zukunft in vielen Angelegenheiten unterschiedliche Ansichten haben. Aber wir wollen eine Gemeinschaft sein. Und diesem Ziel wird die Arbeit der neuen Regierung vor allem dienen. Worauf soll diese Gemeinschaft beruhen? Warum haben wir heute ein solches Problem damit, über uns zu sagen, dass wir eine Gemeinschaft sind? Warum waren die letzten Jahre von einem immer schärferen politischen Konflikt, Emotionen gekennzeichnet – nicht nur hier im Parlament, denn dass das hier ganz natürlich ist, ist klar. Dafür versammeln wir uns ja im polnischen Sejm, im polnischen Senat – um zu streiten. Es ist ja das Wesen der Demokratie, das Wesen des Staates, in dem freie Bürger leben, dass man sich streitet, dass man den Krieg ganz oben austrägt, hier im Sejm, im Parlament. Und zwar, um die eigene Nation zu schützen, die eigenen Familien, die Polinnen und Polen vor einem unaufhörlichen politischen Krieg an der Basis, zwischen gewöhnlichen Menschen, bei uns zu Hause. Das sind keine leeren Worte. Wir leiden alle daran, ohne Ausnahme.

Ich werde euch alle bitten, dass ihr an das republikanische Fundament und den Rahmen denkt, die es erlauben, eine politische Gemeinschaft und eine nationale Gemeinschaft aufzubauen. Zumal wir so verschieden sind, zumal wir so unterschiedliche Ansichten, unterschiedliche Wurzeln haben. Wir halten uns manchmal an unterschiedliche Traditionen. Wir glauben an Gott – wir suchen woanders Inspirationen, gut zu sein. Das ist doch Reichtum, das ist unsere Nation. Jeder ist es wert, dass ihm Achtung und Respekt entgegengebracht wird, jeder ist seiner Rechte wert. Das, was wirklich eine Gemeinschaft aufbaut, das ist der Rechtsstaat, das ist die Verfassung, das sind die Prinzipien der Demokratie, das sind die sicheren Grenzen und das sichere Staatsgebiet. Das sind die Angelegenheiten, über die wir uns auf keinen Fall streiten sollten. Das ist das, was wir ohne Ausnahme respektieren müssen. Damit wir uns in anderen Angelegenheiten unterscheiden können. Damit wir uns in Sicherheit und Respekt unterscheiden können.

Ich erinnere mich an die Worte unseres Papstes, als er bat, man möge ihm keine Denkmäler bauen, sondern eher hören, was er sagt. Unterschiedliche Menschen bewerten das Erbe Johannes Paul II. auf unterschiedliche Weise. Ich habe allerbeste Erinnerungen, auch von meinen persönlichen Treffen. Ich erinnere mich an die Worte, die er in Zoppot (Sopot), meinem Zoppot sagte. Und die womöglich ein selbstverständliches Motto sind oder ein selbstverständliches Motto sein sollten, für uns alle, unabhängig davon, auf welcher Seite dieses Saales wir sitzen. Das waren Worte darüber, dass es keine Solidarität ohne Liebe gebe. Ich weiß, dass, wenn das Wort Liebe bei politischen Auftritten, bei Kundgebungen auftaucht, es manchmal Gelächter, Spott hervorruft. Wisst ihr was? Ich verstehe das nicht. Was ist denn daran komisch? Bei Liebe reden wir doch nicht nur über die Beziehungen zwischen Menschen. Wie oft sprechen wir doch auch von der Liebe zum Vaterland? Ich liebe mein Vaterland, Polen von ganzem Herzen. Ich kann mir Politik ohne Liebe nicht vorstellen.

Es war bereits nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit, aber zuvor auch schon in meinem Danzig, in Zaspa [Stadtteil von Danzig, Anm. d. Übers.], Johannes Paul II. sprach darüber, was Solidarität ist. Und ich widme diese Worte allen – und wir sind auch noch hier eine ansehnlich große Gruppe –, allen, die die Solidarność mitgegründet haben. Und ich erinnere mich an diese Worte – sie wurden wahrscheinlich nicht von allen vollständig verstanden. In mir hat sich auch etwas gesträubt, das war damals die Zeit des Kampfes. Aber der Papst sagte, dass Solidarität niemals einer gegen den anderen sei, dass Solidarität immer einer mit dem anderen sei. Und ich möchte, insbesondere weil hier das Datum einer der dramatischen polnischen Konflikte aufgerufen wurde [am Folgetag, dem 13. Dezember wird Tusks Regierung vereidigt, dem Tag, an dem 1981 die kommunistischen Machthaber der Volksrepublik Polen das Kriegsrecht als Reaktion auf die erstarkende demokratische Oppositionsbewegung im Land verhängten; Anm. d. Übers.], dass wir aus diesen Worten tiefgehende, richtige, wahrhaftige Schlussfolgerungen ziehen. Wenn wir die nationale Gemeinschaft wieder aufbauen wollen, wenn wir wirklich die Wiedergeburt unserer polnischen Gemeinschaft erleben wollen, müssen wir – da gibt es keinen anderen Ausweg, wir haben keine Alternative – die Regeln achten, die wir uns allen setzen, mit der Verfassung an der Spitze und dem Recht. Aber wir müssen auch verstehen, dass die Lektion der Solidarität eine Lektion der Fähigkeit ist, die Differenzen zwischen den Menschen zu überwinden. Und Tag für Tag eine Gemeinschaft aufzubauen, die es erlaubt, sich zu unterscheiden, aber die es auch erlaubt, gemeinsam zu handeln und gemeinsam die Verantwortung für das eigene Vaterland zu tragen.

Ich spreche hier von der besonderen Rolle des Rechtes und der Rechtsstaatlichkeit. Es gibt tatsächlich nichts Wichtigeres für eine moderne Nation als die Sammlung von Rechten und Pflichten, die als gemeinsame anerkannt sind, ohne Ausnahme. Manch einer könnte denken, dass die Worte, die ich gleich lesen werde, der eine Satz von jemandem aus der Initiative »Freie Gerichte« stammen könnte, von jemandem, der protestierte, als das Verfassungstribunal demontiert wurde. Die Worte klingen sehr aktuell, als hätte sie jemand gerade mal vor einem Jahr formuliert. »Wir erlangen die Freiheit nicht, indem wir das Recht beugen, sondern indem wir es befolgen.« Das sagte Romuald Traugutt während des Januaraufstandes [1863/64 gegen die russische Teilungsmacht, Anm. d. Übers.]. Sogar damals, in einer solchen Situation, hatte der Anführer des Aufstandes keinen Zweifel, dass die Wahrung des Rechtes, dass die Anerkennung von Regeln als gemeinsame Regeln – Regeln, die nicht überschritten werden dürfen – die Grundlage für die Freiheit ist und in der Folge die Grundlage für eine echte Gemeinschaft. Ich spreche deshalb darüber, weil ich als gestern vom Sejm gewählter, designierter Vorsitzender des Ministerrates heute die Ehre habe, an der Spitze der Regierung die Arbeit der Koalition des 15. Oktober zu koordinieren. Meine Lieben, ich will euch den Kern des Phänomens zeigen, das wir aktuell entstehen lassen – eines politischen, positiven Phänomens, das wirklich zeigt, dass Gemeinschaft möglich ist. Und dass die Achtung gemeinsamer Regeln möglich ist, sogar, wenn sich die Menschen voneinander unterscheiden.

[…]

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Quelle: https://www.gov.pl/web/premier/stenogram-expose-premiera-donalda-tuska (abgerufen am 10.02.2024).

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Analyse

Politischer Umbruch in Polen: Demokratischer Reset mit Hindernissen

Von Stefan Garsztecki
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