
Polen-Analysen
Ausgabe 345 (15.04.2025) — DOI: 10.31205/PA.345.01, S. 2–6
Zusammenfassung
Trotz wesentlicher Veränderungen in der polnischen Politik nach der Berufung der neuen Regierung im Dezember 2023, weist die Migrationspolitik eher Kontinuitäten als revolutionäre Änderungen auf. Das Migrationsmanagement folgt in vielen EU-Mitgliedsstaaten zurzeit der Logik der »Festung Europa«, und Polen ist hier keine Ausnahme. Die lang erwartete Migrationsstrategie der neuen Regierung, die im Oktober 2024, ein Jahr nach den Sejmwahlen, veröffentlicht wurde, unternimmt Schritte in Richtung eines stärkeren Zusammenspiels von Migrations- und Integrationspolitik. Gleichzeitig nimmt sie aber eine sicherheitsorientierte Haltung in der Flüchtlingsfrage ein und schlägt eine deutliche Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für Ausländer vor.
»Kontrolle wiedergewinnen, Sicherheit garantieren«
Ministerpräsident Donald Tusk unterstrich im April 2024 auf einer Pressekonferenz, dass er den Schutz des Territoriums und seiner Grenzen immer als »Hauptaufgabe der europäischen Institutionen und der Nationalstaaten« betrachtet hat. Ein halbes Jahr später, im Oktober 2024, verkündete er eine Migrationsstrategie unter dem Titel »Kontrolle wiedergewinnen, Sicherheit garantieren« (siehe Rubrik »Dokumentation«). Das Dokument konzentriert sich v. a. auf Fragen der Sicherheit und Kontrolle, was bereits im Pressestatement im April deutlich geworden war. Die Migrationsstrategie legt einen Schwerpunkt auf die Überprüfung der Einreise von Ausländern nach Polen, die Verschärfung der Visapolitik, die Beschränkung der Erwerbsmigration sowie die Einführung einer aktiven Integrationspolitik. Der kontroverseste Teil der Strategie betrifft die Möglichkeit der vorläufigen und territorial begrenzten Aussetzung des Rechtes auf Asyl, wenn große Gefahren für die Sicherheit bestehen. Am 27. März 2025 trat die Verordnung zur Aussetzung des Asylrechtes für die Dauer von 60 Tagen an der Grenze zu Belarus in Kraft.
Die vom Sicherheitsgedanken geleitete Wende in der Migrationspolitik war ein zentraler Punkt in den kritischen Reaktionen von Experten und Nichtregierungsorganisationen. Die Forschungsstelle Migration der Universität Warschau (Ośrodek Badań nad Migracjami Uniwersytetu Warszawskiego), an der die Verfasser dieser Analyse tätig sind, veröffentlichte eine offizielle Stellungnahme in dieser Angelegenheit. Die Forschenden, die die Erklärung unterzeichnet haben, weisen darauf hin, dass die potentiellen Vorteile von Migration nicht berücksichtigt, empirische Daten nicht einbezogen und die polnische Gesellschaft als homogen dargestellt wurde. Weiter kritisieren sie, dass vor Verabschiedung der Migrationsstrategie keine gesellschaftlichen Konsultationen stattgefunden haben.
Ministerpräsident Tusk bemühte sich die Kritiker zu überzeugen, dass er im Vergleich zur national-konservativen Vorgängerregierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) eine wesentliche Veränderung in der Migrationspolitik anbietet. In einem Interview für die Tageszeitung Gazeta Wyborcza gleich nach Verkündung der Strategie wandte er sich gegen die – wie er sagte – Heuchelei der PiS, die trotz ihres Anti-Migrationsnarrativs eine große Zahl außereuropäischer Migranten, darunter Muslime, aufgenommen hatte. Während der Veröffentlichung der Strategie sagte Tusk, dass »den Menschen, die in Polen arbeiten, Steuern zahlen, sich in die Gesellschaft integrieren und wirklich studieren wollen, Respekt gebührt«. Es scheint allerdings, als widersprächen sich diese Logiken, insbesondere in der Situation des Vorwahlkampfes der Präsidentschaftswahlen (Mai/Juni 2025). Offenbar will Tusks Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) im Vergleich zu den anderen politischen Gruppierungen nicht als zu immigrationsfreundlich erscheinen. So gewinnt die Logik, den Zugang zum polnischen Staatsgebiet und Arbeitsmarkt zu beschränken und zu erschweren, was in Verbindung mit dem unzureichenden und unterfinanzierten Migrationsmanagement auch bedeutet, dass sich für Ausländer die Wartezeiten für Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen verlängern.
Dem Strategiepapier zufolge soll in Polen ein sog. selektives Migrationsmodell eingeführt werden. Die Regierung will den Zufluss von Migranten nach Polen unter Berücksichtigung sowohl des Bedarfs der Arbeitgeber als auch des Schutzes der heimischen Arbeitnehmer lenken. Dafür soll es ein Punktesystem für die Immigration geben, das sich an Ländern wie Australien orientiert. Das Papier ruft auch dazu auf, das Visaprozedere zu verschärfen, als Antwort auf den sog. Visaskandal in der Zeit der PiS-Regierung, als es Fälle von Visabetrug in verschiedenen polnischen Konsulaten gegeben hat. Die Sprache des Strategiepapiers spiegelt die Sicherheitsdiskurse wider, die Migration als potentielle Bedrohung darstellen und eine genaue Kontrolle sowie häufig eine Beschränkung fordern. Beispielsweise behauptet das Strategiepapier, dass Migration keine Lösung der demografischen Probleme und des Arbeitskräftemangels sein werde. Allerdings sind in dem Dokument auch bestimmte humanitäre Aspekte zu finden, etwa die nicht weiter präzisierte Nennung der Kategorie der humanitären Aufenthalte. Jedoch scheint sich die allgemeine Idee durchzusetzen, jegliche Zweifel darüber auszuräumen, dass die Anwesenheit von Migranten im Interesse Polens liegt und keine Gefahr für die Sicherheit darstellt.
Fehlende grundsätzliche Veränderungen an der Grenze zu Belarus
Die größte Kritik von Experten und zivilgesellschaftlichen Organisationen an der Migrationsstrategie richtete sich gegen die Idee, vorläufig und territorial begrenzt das Asylrecht auszusetzen, was bei den polnischen Verteidigern der Menschenrechte Besorgnis hervorrief. Tatsächlich wurde das Recht, Asyl zu beantragen, seit Beginn der Krise im Sommer 2021 an der Grenze zu Belarus eingeschränkt, als das belarusische Regime von Aleksander Lukaschenko begann, Migration zu instrumentalisieren. Entgegen den Hoffnungen der Verteidiger der Menschenrechte stellte die neue Regierung die Politik des Pushback gegenüber Migranten nicht ein, die als Gegenmaßnahme gegen die hybriden Angriffe des belarusischen Regimes eingesetzt wurde. Darüber hinaus baut die Regierung die physische und technologische Abschreckung an der polnisch-belarusischen Grenze weiter aus: Aktuell handelt es sich um einen 5,5 Meter hohen Zaun, der mit Stacheldraht verstärkt und mit Bewegungsmeldern und Wärmekameras ausgestattet ist. Neu war es, im Rahmen des Grenzschutzes Such- und Rettungsgruppen zu bilden, als Ausdruck der erklärten Politik der »Null Todesfälle an der Grenze«. Nach wie vor aber kommt es dazu, dass Migranten unabhängige humanitäre Organisationen um medizinische Hilfe oder Rechtsbeistand bitten, um beispielsweise beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine einstweilige Verfügung zur Verhinderung von Pushbacks zu erwirken.
Menschenrechtsaktivisten, die im Grenzgebiet tätig sind, stellen fest, dass es bis zur Aussetzung des Asylrechtes keine einheitliche Vorgehensweise gegenüber Personen gab, die dort um Asyl ersuchten. Trotz der allgemeinen Tendenz, Migranten von der Grenze abzuschrecken, wurden und werden manche Asylanträge angenommen, da die Aussetzung nicht für sensible Gruppen gilt. Aus den vom Grenzschutz veröffentlichten Daten geht hervor, dass 2023 8.843 Asylanträge in Polen gestellt wurden; im Jahr 2024 waren es 15.197. Am stärksten vertreten waren 2024 die ukrainische, die belarusische und die russische Nationalität (insgesamt 71 Prozent aller Antragsteller). Hier wird es sich eher nicht um irreguläre Übertritte der polnisch-belarusischen Grenze gehandelt haben. Allerdings finden sich unter den Antragstellern auch Staatsbürger von Ländern wie Äthiopien (515), Eritrea (505), Somalia (486), Syrien (418), Afghanistan (226), dem Sudan (226) und dem Jemen (199). Es steht zu vermuten, dass die Migranten aus den außereuropäischen Ländern ihre Asylanträge an der polnisch-belarusischen Grenze nach einem illegalen Übertritt nach Polen gestellt haben. Gleichzeitig werden die, denen eine Antragstellung nicht gelang, nach Belarus zurückgeschickt. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen, die Migranten in dieser Situation humanitäre Hilfe leisten, wird den betreffenden Personen häufig nicht nur der Zugang zum Asylprozedere verwehrt, sondern es wird ihnen auch keine grundlegende humanitäre und medizinische Hilfe gewährt. Anfang Februar 2025 informierte der Verein We Are Monitoring über mehr als 11.000 Pushbacks an der Grenze zu Belarus sowie über 89 Todesfälle von Migranten in diesem Gebiet seit dem Sommer 2021. So kann man vermuten, dass die Politik der »Null Todesfälle an der Grenze« der neuen Regierung nicht erfüllt wird, allerdings ging die Anzahl der Todesfälle im Vergleich zur Regierungszeit der PiS deutlich zurück.
Die meisten Kontroversen weckt bis heute die vorläufige und territorial begrenzte Aussetzung des Rechtes, einen Asylantrag zu stellen, die seit dem 27. März 2025 an der Grenze zu Belarus gilt. Trotz des Einspruchs des Bürgerrechtsbeauftragten, juristischer Experten, von Nichtregierungsorganisationen, internationalen Organisationen und auch der Rechtsstelle der Senatskanzlei haben beide Parlamentskammern, Sejm und Senat, die Änderungen des Gesetzes über die Gewährung von Schutz für Ausländer auf dem Gebiet der Republik Polen verabschiedet. Am 26. März 2025 wurde die Gesetzesnovelle vom Präsidenten unterzeichnet. Die neuen Vorschriften führen den Begriff »Instrumentalisierung der Migration« in die Rechtsordnung ein und ändern Artikel 33 des Gesetzes, indem sie erlauben, das Recht, um internationalen Schutz zu ersuchen, zeitlich und territorial begrenzt auszusetzen. Nach Auffassung der genannten Institutionen und Organisationen ist das Gesetz nicht konform mit der Verfassung Polens, der Genfer Konvention, der Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und den Verträgen der Europäischen Union. Dessen ungeachtet hat die Regierung am 27. März 2025, einen Tag nach der Unterzeichnung, eine Verordnung verabschiedet, dass an der Staatsgrenze zu Belarus eine zunächst auf 60 Tage befristete Beschränkung des Asylrechtes gilt. Da die Vorschriften gerade erst angenommen wurden, ist noch nicht ganz klar, was die Aussetzung des Rechtes in der Praxis bedeutet, ob nicht doch Asylanträge an den Grenzübergängen entgegengenommen werden oder ob dieses Vorgehen der polnischen Regierung nicht eine internationale Diskussion, auch vonseiten der Europäischen Kommission, nach sich zieht. Bisher haben Menschenrechtsorganisationen eine Klage vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angekündigt.
Hoffnungen auf eine bessere Integrationspolitik
Außer der stark sicherheitsorientierten Einstellung zu Asyl und Grenzregime beinhaltet die Migrationsstrategie auch die Stärkung integrativer Maßnahmen. Es wurde eine Abteilung für Gesellschaftliche Integration im Ministerium für Familie, Arbeit und Sozialpolitik eingerichtet und es wird zurzeit geplant, in 49 Städten Integrationszentren zu eröffnen. Die Strategie schlägt vor, die Arbeitgeber in die Integrationsmaßnahmen einzubinden und sie zu verpflichten, einen Teil der damit einhergehenden finanziellen Belastungen zu tragen, beispielsweise Kosten für Ponischkurse für ausländische Arbeitnehmer.
Die Strategie nimmt auch die Frage der Sicherheit im Zusammenhang mit Integration in den Blick, allerdings scheint es, dass hier eine stärker inklusive Perspektive eingenommen wird. Die Verfasser des Dokuments erklären, dass es das Ziel der Integration sei, Sicherheit für alle zu gewährleisten, sowohl für Migranten als auch die Aufnahmegesellschaft. Die gesellschaftliche Inklusion ausländischer Gruppen soll ein Mittel sein, um Radikalisierung vorzubeugen und entgegenzutreten. Auch der Schutz der Migranten vor fremdenfeindlichen Angriffen wird als wichtiges Ziel genannt. Von Bedeutung ist, dass im Strategiepapier Begriffe wie »Sicherheit der Einwohner« Polens statt der »Bürger« Polens vorkommen, was die Ausländer in den Sicherheitsaspekt einbezieht.
Allerdings äußerten Nichtregierungsorganisationen und Experten auch Kritik an der im Strategiepapier formulierten Vorstellung von Integration. Obgleich im Dokument behauptet wird, dass keine Assimilationsmaßnahmen vorgesehen sind, wird gleichzeitig erklärt, dass sich die Migranten an die Normen der polnischen Gesellschaft anpassen sollen und nicht umgekehrt – Integration sollte jedoch ein Prozess der gegenseitigen Anpassung sein. Zweifel weckt auch, wie etwas zur »Norm« einer Gesellschaft werden soll (und die Strategie präzisiert nicht, ob es um andere als rechtliche Vorschriften geht), – problematisch ist das gerade im Falle einer so stark polarisierten Gesellschaft wie der polnischen. Die Strategie beinhaltet auch keine Ideen, wie die tief in der polnischen Gesellschaft verwurzelte negative Einstellung gegenüber dem Islam und Flüchtlingen aus dem Nahen Osten verändert werden kann. In der Frage der Integration folgt sie der Logik der Absicherung gegenüber Migration, und obwohl sie ein deutliches Augenmerk auf die Inklusion der Ausländer legt, scheint sie nicht weiterreichend anzustreben, die Ausbreitung islamophober Einstellungen zu verhindern. Darüber hinaus wird zwar der Schutz von Migranten auf dem Arbeitsmarkt erklärt, es wird aber nicht der Wohnungsmarkt thematisiert. Die Verfasser der Migrationsstrategie bieten nichts an, was verhindern könnte, dass sich nach Ethnien zusammengesetzte marginalisierte Gesellschaften bilden.
Die Regierung testet die Akzeptanz der EU für ihre Migrationspolitik
Die Regierung von Ministerpräident Tusk setzte viel daran, den Konflikt mit den EU-Institutionen, den die Vorgängerregierung beispielsweise im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Justizreformen entfacht hatte, zu beenden. Im Bereich der Migration allerdings setzt die aktuelle Regierung den Widerstand gegen die Agenda der Europäischen Union fort. Kurz nach den gewonnenen Parlamentswahlen im Oktober 2023 verkündete Tusk während eines Besuches in Brüssel am 25. Oktober 2023, dass sich Polen nicht am Relokationsmechanismus, wie er im neuen EU-Migrations- und Asylpaket vorgesehen ist, beteiligen wird. Zuvor hatten sich die Europaabgeordneten der größten Partei des neuen polnischen Regierungsbündnisses, der Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO), die zur Europäischen Volkspartei gehört, deutlich überwiegend bei der Abstimmung über das neue Paket enthalten.
Die polnische Regierung sucht das Verständnis der europäischen Institutionen sowie anderer Staaten für ihre Politik vor allem wegen der Lage an der polnisch-belarusischen Grenze. Als Donald Tusk die Idee verkündete, das Asylrecht auszusetzen, reagierte die Europäische Kommission zurückhaltend – weder akzeptierte sie diesen Vorschlag noch erhob sie Einspruch. Auf dem EU-Gipfel am 17. Oktober 2024 in Brüssel besprach Tusk die vorgeschlagene Lösung mit anderen Regierungschefs, um anschließend auf einer Pressekonferenz festzustellen, dass »niemand ein Problem hat, das polnische Recht anzuerkennen, dass das Stellen von Asylanträgen vorübergehend ausgesetzt werden kann«. Er fügte hinzu, dass es »leichter war als erwartet«, Akzeptanz für seinen Vorschlag zu erlangen. Am 11. Dezember 2024 stellte die EU-Kommissarin für Technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie, Henna Virkkunen, abschließend fest, dass »die EU-Mitgliedsstaaten außerordentliche Mittel zum Schutz der Außengrenzen einsetzen können, zum Beispiel die Beschränkung der Nutzung des Asylrechts«. Die offizielle Erklärung der Europäischen Kommission, die am selben Tag herausgegeben wurde, ist allerdings nicht so eindeutig. In dem Dokument wird erklärt, »die Mitgliedstaaten müssen unter Umständen […] Maßnahmen ergreifen, die schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte wie das Recht auf Asyl und damit zusammenhängende Garantien nach sich ziehen könnten«. Am 4. Februar 2025 sagte Kevin James Allen, Vertreter des UN-Flüchtlingskommissars in Polen, im Sejm, dass die Erklärung der Europäischen Kommission das Recht auf Asyl »nicht in Frage stellt«. Es scheint, dass die praktische Anwendung einer Aussetzung des Asylrechts zumindest mit der schweigenden Akzeptanz vonseiten der Europäischen Union vonstatten gehen kann, ähnlich wie im Falle Finnlands.
Gleichzeitig bleibt das Migrations- und Asylpaket ein Zankapfel zwischen Brüssel und Warschau. Am 4. Februar 2025 erklärte Ministerpräsident Tusk vor der Presse, dass »Polen kein Migrationspaket und auch keinerlei Beschlüsse solcher Art Projekte implementieren wird, die zu einer verpflichtenden Aufnahme von Migranten durch Polen führen würden«. Die Europäische Kommission entgegnete lakonisch, dass »das EU-Recht für die Mitgliedsstaaten bindend ist«. Die polnische Regierung argumentiert, dass die Hilfe, die Polen den infolge der russischen Vollinvasion zwangsläufig umgesiedelten Ukrainern leistet, die Solidaritätsverpflichtungen, die Polen auferlegt werden, abmildern sollte. Die Zukunft wird zeigen, was das Ergebnis der Reibereien zwischen Warschau und Brüssel sein wird.
Für weitere Spannungen sorgt das Thema, dass Deutschland auf der Grundlage des Dublin-Verfahrens Migranten nach Polen (als in diesem Fall zuständiges EU-Partnerland) zurückführt. Das Thema nutzt die Opposition in Polen, um die Regierung zu kritisieren, allerdings umfassen die angeführten hohen Zahlen (z. B. 500 Personen im Januar 2025) auch Personen, die von Deutschland bei Grenzkontrollen zurückgewiesen wurden (Oktober 2023), und nicht allein solche, die von deutschem Staatsgebiet überstellt wurden. Es besteht allerdings die Sorge, insbesondere in grenznahen Orten, dass eine fehlende Grenzkontrolle auf polnischer Seite und ausdifferenzierte Kooperationsvereinbarungen zwischen der deutschen Polizei und dem polnischen Grenzschutz zu einem deutlichen Anstieg von Personen führen, die aus Deutschland zur Umkehr veranlasst werden. So weisen Meinungsumfragen darauf hin, dass sich die Mehrheit der Polen für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an der Grenze zu Deutschland ausspricht. Gleichzeitig heißt es in der Presse, dass die polnischen Behörden »entschieden auf Hinweise über die Zurückführung von Migranten über unsere Grenze durch die zuständigen deutschen Behörden reagieren« sollen.
Welche Zukunft haben die ukrainischen Migranten?
Polen war das Land, das in der ersten Phase nach Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine die meisten Flüchtlinge aus dem angegriffenen Land aufgenommen hat. Schätzungen zufolge lebten im Frühjahr 2022 mehr als vier Millionen Menschen in Polen, die infolge des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine geflüchtet waren, deutlich überwiegend Frauen. Die Regierung regelte rasch ihren Status und führte nach Verabschiedung eines Sondergesetzes im März 2022 einen Sonderaufenthaltsstatus für die Kriegsflüchtlinge ein, der auch die Vergabe von Personenidentifikationsnummern (poln. PESEL) für Angelegenheiten der öffentlichen Verwaltung einschloss. Die Geflüchteten erhielten mit dem »UKR«-Zusatz an den Personenidentifikationsnummern Zugang zum Gesundheits- sowie Bildungssystem, zu staatlichen Sozialleistungen und zum Arbeitsmarkt. Personen, die nach dem 24. Februar 2022 nach Polen gekommen waren, erhielten auch das Recht auf die höchste Sozialleistung in Polen, das sogenannte »800+«-Kindergeld. Im Laufe der Zeit kehrte jedoch ein großer Teil der Personen in die Ukraine zurück oder ging in andere Länder. Nach aktuellen Schätzungen halten sich in Polen ca. eine Million Personen (mit deutlicher Mehrheit Frauen) auf, die vom polnischen Staat eine »ukrainische« Personenidentifikationsnummer erhalten haben. Hinzu kommen ca. 1,5 Millionen ukrainische Staatsbürger, die bereits vor der russischen Vollinvasion nach Polen gekommen waren oder ihren Status des vorübergehenden Schutzes (auf der Grundlage des o. g. Sondergesetzes bzw. von EU-Regeln) in den Status der vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis überführt haben.
Die Zukunft der Bürger der Ukraine in Polen, d. h. ob und wie lange sie in Polen bleiben wollen, ist unklar. In Übereinstimmung mit den von Polen angewandten EU-Bestimmungen wurde der vorübergehende Schutz bis März 2026 verlängert. Gleichzeitig änderte die Regierung im Sommer 2024 das Sondergesetz über die Hilfe für Staatsbürger der Ukraine und eröffnete den ukrainischen Bürgern in Polen, die die spezielle Personenidentifikationsnummer erhalten haben, einen einfacheren Weg, den Status der vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Auf der anderen Seite erfolgten Beschränkungen für ukrainische Bürger, die den Aufenthalt in Sammelunterkünften oder den Zugang zum Kindergeld betreffen. Auch die Stimmung in Polen hat sich verändert. Immer mehr Polen äußern sich beunruhigt darüber, dass eine so große Anzahl ukrainischer Bürger in Polen bleibt, insbesondere die, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen (auch wenn diese Hilfe sehr beschränkt bleibt). Das ergibt sich auch daraus, dass die Zukunft der ukrainischen Bürger von Politikern im zurzeit laufenden Präsidentschaftswahlkampf thematisiert wird. Die Migrationsstrategie geht darauf im Grunde nicht ein; sie bezieht sich nur auf die Weiterentwicklung der Integrationspolitik im Hinblick auf die ukrainischen Bürger.
Wie geht es weiter?
Bis zu den Präsidentschaftswahlen im Mai/Juni 2025 sind außer den bereits verschärften Migrationsregeln keine weiteren Aktivitäten zu erwarten. Möglicherweise wird sich die Regierung anschließend für eine aktivere, aber auch selektive Umsetzung des EU-Migrationspaketes entscheiden, wenngleich aktuell angekündigt wird, dies nicht zu tun. Zu vermuten steht auch, dass die Aussetzung des Asylrechtes an der Grenze nach Belarus verlängert wird. Was die Zukunft der ukrainischen Geflüchteten in Polen betrifft, ist es am wahrscheinlichsten, dass Instrumente eingeführt werden, die ihren weiteren Verbleib in Polen gestatten, v. a. auf der Grundlage einer vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit. Manche Experten führen sogar an, dass im Falle einer Beendigung des Krieges in der Ukraine die Ehemänner der geflüchteten Frauen nachkommen könnten. Die Entwicklung weiterreichender Instrumente der Migrationspolitik wie das in der Migrationsstrategie angekündigte Programm selektiver Migration, die Anwerbung von Migranten, die unter wirtschaftlichen Aspekten besonders gefragt sind, hängt sowohl von der Situation in Polen ab, wo das Thema Migration zunehmend politisch instrumentalisiert wird, als auch von der Lage in Europa, insbesondere an der Grenze zu Deutschland. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze durch Deutschland im Oktober 2023 und auch die entschiedene, politisch motivierte Ankündigung, Migranten in die Nachbarländer abzuschieben, schüren Ängste in der polnischen Gesellschaft und können die Einführung einer zunehmend restriktiven Migrationspolitik befördern. Auf der anderen Seite bleibt das Lobbying der Arbeitgeber in Polen sehr ausgeprägt – u. a. dank ihrer Aktivitäten hat das polnische Parlament die zuvor vorgeschlagenen Barrieren gegen die Zulassung von Ausländern zum polnischen Arbeitsmarkt gelockert. Die endgültige Ausgestaltung der Migrationspolitik wird sich folglich aus den aufeinander treffenden (Arbeitgeber-)Interessen und gesellschaftlichen Stimmungen ergeben.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Lesetipps / Bibliographie
Positionspapier der Forschungsstelle Migration der Universität Warschau zur Migrationstrategie der polnischen Regierung Kontrolle wiedergewinnen. Sicherheit garantieren (2024). Eine vergleichende und verantwortliche Migrationstrategie für Polen 2025–2030. (in englischer Sprache) https://www.migracje.uw.edu.pl/wp-content/uploads/2024/10/EN_Position-of-CMR-UW-on-Migration-Strategy.pdf (abgerufen am 11.04.2025).
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