Patriotismus – von der Liebe zum Vaterland zum Kitt der Gesellschaft
Patriotismus hatte in Deutschland im Gegensatz zur Einschätzung in Polen lange Zeit ein schlechtes Image. Nach dem Nationalsozialismus wurde der Patriotismus gleich mit in die nationalistische Ecke gestellt und in postnationalen Zeiten entsorgt. Solidarität unter den Menschen sollte aus Erfordernissen der Rationalität im Rahmen der Weltgesellschaft entstehen. Die von vielen Sozialwissenschaftlern aber seit den 1970er Jahren konstatierte Krise der (post)industriellen Gesellschaften ließ Überlegungen nach Neuformulierungen nationaler kollektiver Identität und die Notwendigkeit eines Nationalbewusstseins wieder in den Fokus der Öffentlichkeit dringen. Konsens war dabei, dass Rückgriffe auf historische Traditionen und die Fortschreibung kollektiver Identität in die Zukunft nur im Rahmen eines inklusiv verstandenen Patriotismus für eine Demokratie möglich sein kann. Kollektive Identität darf daher nicht statisch Elemente der Vergangenheit aufgreifen, sondern muss aktuelle Entwicklungen integrieren, wie z. B. die Veränderungen in Richtung einer Migrationsgesellschaft. Die in den letzten Jahren in Deutschland geführte Debatte über Leitkultur zeigte dabei die Schwierigkeiten auf, gemeinsame Werte diskursiv zu erarbeiten und eine angemessene, auch affektiv vermittelbare und moderne Auffassung der Nation zu verankern. Der von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas in Deutschland geprägte Begriff des Verfassungspatriotismus eröffnete dem Patriotismus wieder den Zugang zu liberalen Debatten und knüpfte an amerikanische philosophische Traditionen an, die aus republikanischer und kommunitaristischer Ecke dem Patriotismus die Rolle des Kitts der Gesellschaft zuschrieben. Insbesondere Habermas verband mit dem Verfassungspatriotismus die unterschiedlichen Praktiken der Bürger, ging also nicht von einem statischen, gleichsam gesetzten Patriotismusverständnis aus, sondern von einer Verfestigung des kollektiven Solidaritätsgefühls im demokratischen, bürgerlichen Alltag. Es scheint dies das berühmte Renansche »Plébiscite de tous les jours« zu sein, die tägliche Abstimmung, die die Existenz einer Nation begründet und auch ihren Patriotismus untermauert. Allerdings wird das Konzept des Verfassungspatriotismus häufig mit dem Vorwurf der mangelnden affektiven Bindung oder anders ausgedrückt seiner emotionalen Kälte und symbolischen Leere konfrontiert.
Demgegenüber gingen die amerikanischen Vertreter des Republikanismus und auch die Kommunitaristen einen etwas anderen Weg. Beide philosophischen Strömungen gehen von einer Kritik am Liberalismus aus, dem sie die Verantwortung für die konstatierte Entsolidarisierung, für die Atomisierung der Gesellschaft und für den Werteverfall zuschreiben. Der Republikanismus setzt angesichts dieser Entwicklungen auf Tugenden, die gemeinschaftlich gelebt und politisch in der Republik umgesetzt werden müssen, denen gegenüber die Bürger bestimmte Pflichten zu erfüllen haben, wie z. B. eine aktive Teilhabe an der Gemeinschaft. Gemeininteressen stehen über den Privatinteressen. Der Kommunitarismus möchte auch den gemeinschaftlichen Gedanken gefördert sehen und spricht sich gegen den neoliberalen »Nachtwächterstaat« aus. Allerdings nimmt er die Zwischenwelt zwischen Staat und Individuum in den Blick und möchte hier Gemeinschaft gelebt sehen. Auch hier gehen Gemeininteressen vor Individualinteressen, aber es wird die diskursive Aushandlung dieser Gemeininteressen auf einer mittleren Ebene akzentuiert und nicht so sehr der Staat und sakrosankt gesetzte Gemeinschaftswerte wie im Republikanismus. Der prominente kanadische Philosoph Charles Taylor, der den Kommunitaristen zugerechnet wird, bewertet auch Einheit und kollektiv empfundenes Solidaritätsgefühl als wichtige Bedingung für Demokratie. Allerdings sieht er jene Demokratien als erfolgreich an, die nationale Identität mit Verfahren der Selbstregierung verknüpfen, d. h. Bestandteil eines modernen zeitgenössischen Patriotismus ist es ihm zufolge, Loyalität gegenüber den Institutionen der Demokratie zu empfinden, womit wir cum grano salis wieder bei dem Verfassungspatriotismus nach Sternberger und Habermas angelangt sind. Wie lassen sich aber nun diese intellektuellen Traditionen des Westens mit der Entwicklung des Patriotismus in Polen verknüpfen und an welche eigenen Traditionen knüpft die aktuelle Debatte über den Patriotismus in Polen an?
Polnische Traditionen des Patriotismus
Der polnische Patriotismus ist wie auch andere Patriotismen stark von den Erfahrungen der Vergangenheit geprägt. Eine kurze Durchsicht einschlägiger Anthologien des polnischen politischen Denkens fördert anderen Patriotismen vergleichbare Merkmale des polnischen Patriotismus zu Tage, zeigt aber auch die Besonderheiten auf – beides Hintergrund des aktuellen Diskurses in Polen. Seine Hauptprägung hat der polnische Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, in den letzten gut zweihundert Jahren erhalten, d. h. in der Zeit der Teilungen, des »Volkstumskampfes« zwischen Polen und Deutschland, des Zweiten Weltkriegs und der Bedrohung durch den deutschen und den sowjetischen Totalitarismus ab 1939.
Liebe zum Vaterland ist im polnischen intellektuellen Diskurs daher stets mit dem Freiheitsgedanken und mit dem Streben nach unabhängiger staatlicher Existenz verbunden. Gleichwohl erlebte das patriotische Denken eine beträchtliche Evolution in dieser Zeit. Neben den Freiheitsgedanken trat von Beginn an sehr stark auch die institutionelle Verfasstheit des Staates, d. h. der republikanische Gedanke, der deutlich gegen die europäischen Absolutismen formuliert wurde. Beim polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz, beim Publizisten Karol Libelt und anderen wurden mit dem polnischen Patriotismus die politischen Freiheiten verknüpft, die man den anderen Völkern zu bringen gedachte. Dieser messianistisch-romantisch geprägte Patriotismus bietet durch seine enge Verbindung mit dem Freiheitsgedanken gleichwohl viele Anknüpfungen an den modernen Verfassungspatriotismus. Russifizierung und Germanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Zeitalter der Nationalbewegungen ließen den Patriotismus auch in Polen exklusiver werden – bis hin zum Nationalismus eines Roman Dmowski, der die Liebe zum Vaterland mit der Konkurrenz zu anderen Nationen verband und das eigene Nationalinteresse in den Vordergrund stellte. Auch die katholische Religion sollte in diesen Zeiten mehr und mehr ein zentrales Merkmal des polnischen Patriotismus werden, da sie als Unterscheidungsmerkmal von protestantischen Preußen und orthodoxen Russen in Zeiten der Staatenlosigkeit für die Einheit der Nation stand.
Die Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa warnte demgegenüber im Jahr 1889 vor Chauvinismus und Hass gegenüber anderen Nationen, ebenso wie Marschall Józef Piłsudski zwanzig Jahre später. Der Schriftsteller und Positivist Bolesław Prus rief in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Aussagen zur Nation zur organischen Arbeit auf, betonte also einen Patriotismus, der auf Entwicklung und Modernisierung setzte und nicht mehr auf die Aufstandstradition. Allerdings führten der Zweite Weltkrieg und der ihm folgende Sozialismus dazu, dass mit Patriotismus vor allem die Pflege der Widerstandstradition und das Heldengedenken verbunden wurden. Patriotismus als aktive Bürgerhaltung, die zur Entwicklung des Landes beiträgt, war wenig aussichtsreich in Zeiten rassisch begründeter nationalsozialistischer Ausbeutungspolitik bzw. während der totalitär-autoritären Herrschaft der polnischen Kommunisten nach Moskauer Modell.
Diese Verschiebung des Patriotismus in der zweiten Hälfte des 19. und anschließend im 20. Jahrhundert von einem offenen Patriotismus, der den Freiheitsgedanken und die Entwicklung des Landes betont, hin zu einer Verteidigungs- und Aufstandshaltung hat der polnische Philosoph Marcin Król vor einigen Jahren in einem Buch einmal als Patriotismus mit einem negativen Charakter bezeichnet, da er sich in Abhängigkeit vom Grad der Unterdrückung verstärkte und seine patriotische Symbolik und Mythologie danach ausrichtete. Es habe sich um einen symbolischen, reaktiven Patriotismus gehandelt, der im Gegensatz zur liberalen Bürgergesellschaft stehe, da Dialog, Kooperation und stete Arbeit im Vergleich mit Heldentum und Aufstandswillen gering geschätzt worden seien.
Über die martyrologischen Züge des polnischen Nationalbewusstseins ist in Polen in den letzten zwanzig Jahren viel diskutiert worden. Der Literaturwissenschaftler und Dissident Jan Józef Lipski warnte in einem Essay mit dem Titel »Zwei Vaterländer – zwei Patriotismen« 1981 vor der polnischen nationalen Megalomanie, die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion sprach in den 1990er Jahren gar vom Ende des romantischen Paradigmas, das stark mit den Aufstandstraditionen verknüpft war, und auch der Ideenhistoriker Andrzej Walicki beschrieb in einem Buch 1991 drei verschiedene Traditionen des Patriotismus: Erstens die republikanische Tradition, verstanden als Treue gegenüber dem Willen der Nation, zweitens die romantische Tradition, definiert durch Kampf und Heldentum und drittens die nationaldemokratische Tradition bezogen auf die Formulierung des eigenen Nationalinteresses, so wie es Dmowski für die Nationaldemokratie entwickelte.
Diskussionen über Geschichtspolitik, patriotische Erziehung in den Schulen und nicht zuletzt die Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010 dominieren derzeit die öffentliche Debatte über den polnischen Patriotismus, seine Aktualität und angemessenen Formen im 21. Jahrhundert.
Die Katastrophe von Smolensk und die aktuelle Debatte über den polnischen Patriotismus
In den innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden post-Solidarność-Parteien Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) wurde von PiS häufig der Vorwurf der Geschichtslosigkeit an die Eliten der III. Polnischen Republik – zu denen ja seit 1989 auch die heutigen Vertreter von PiS gehören (!) – formuliert und mit der zu bildenden IV. Republik eine aktive Geschichtspolitik, eine gründlichere Aufarbeitung der Volksrepublik Polen und eine angemessenere historische Darstellung Polens im Ausland gefordert. Es wurde postuliert, dass man den Stolz auf die eigene Geschichte und die Liebe zum Vaterland gegen Verunglimpfungen zu verteidigen habe. Auch wenn dieser Vorwurf sicherlich verzerrt ist, da mit dem Institut des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamięci Narodowej – IPN) seit 1998 ja sogar eine staatliche Institution Geschichtspolitik betreibt und sich der Aufarbeitung von deutscher Besatzung und sozialistischer Periode in Polen widmet, so ist mit der von PiS initiierten Debatte über Geschichtspolitik doch auch eine verstärkte Diskussion über die Bewertung der Vergangenheit angestoßen worden. Da sich Patriotismus nicht nur abstrakt auf das Land konzentriert, sondern in der Regel mit konkreten Ereignissen aus der selbst erlebten Vergangenheit bzw. aus der älteren Geschichte verknüpft ist, nach Jan und Aleida Assmann verstanden als kommunikatives bzw. kulturelles Gedächtnis, impliziert die Debatte über Geschichtspolitik auch die Diskussion über den polnischen Patriotismus, die ihn tragenden Ereignisse und deren historische Interpretation. Ohne dies hier en détail darstellen zu können, sind dies in den letzten Jahren vor allem Debatten über das Verhältnis zu den Nachbarn gewesen, also zu Deutschen, Russen, Ukrainern sowie Juden, über die Bewertung der Volksrepublik Polen und die Einordnung der Gewerkschaft Solidarność bzw. des Runden Tisches von 1989, der das Ende des Kommunismus bedeutete. Der Absturz des Flugzeugs mit Präsident Lech Kaczyński, seiner Frau Maria und zahlreichen Würdenträgern am 10. April 2010 bei Smolensk führte zu einer Neuauflage der Diskussion über Patriotismus und die Bestandteile des historischen Gedächtnisses. In der Zeit der nationalen Trauer gab es vielfältige Versuche, die Katastrophe in eine nationale Martyrologie einzuschreiben, so z. B. durch die Rede von einem zweiten Katyn, da sich die Delegation ja an diesen unweit von Smolensk gelegen Ort hatte begeben wollen, um der vom sowjetischen Geheimdienst 1940 dort ermordeten Offiziere zu gedenken. Auch die auf Wunsch der Familie Kaczyński gewählte letzte Ruhestätte des Präsidentenpaares auf dem Wawel in Krakau, der Ruhestätte der polnischen Könige und Helden, trug zu dieser Sichtweise bei. Natürlich sind viele große Gestalten der polnischen Geschichte, die auch auf dem Wawel bestattet sind, zu Lebzeiten stark kritisiert worden, wie nicht zuletzt Marschall Józef Piłsudski. Die Wahl des Wawel als letzte Ruhestätte für das Präsidentenpaar traf jedoch auf ein geteiltes Echo in Polen.
Der verstorbene Präsident Lech Kaczyński selbst hatte noch im November letzten Jahres anlässlich des Nationalfeiertages am 11. November zur Gestaltung eines in die Zukunft gewandten Patriotismus aufgerufen. Darunter verstand er den Kampf um einen angemessenen Platz Polens in Europa. Der damalige Sejm-Marschall und heutige Präsident Bronisław Komorowski betonte dem gegenüber einen Patriotismus, der sich durch redliche Arbeit und Bildung auszeichnet. In seiner ersten Rede als Präsident stellte Komorowski noch deutlicher einen Patriotismus des Alltags, der alltäglichen Arbeit, einem Patriotismus des Krieges, des Leidens, der Niederlage, d. h. einem martyrologischen Patriotismus gegenüber.
In einer von der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza initiierten Debatte zum Thema Patriotismus und auch in Artikeln der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita wurden viele weitere Überlegungen zum Patriotismus angestellt. Dabei ließen sich zwei Tendenzen ausmachen: Auf der einen Seite ein traditionell verstandener Patriotismus, wie er von Lech und Jarosław Kaczyński formuliert wurde, und auf der anderen Seite ein Modernisierungspatriotismus (Patriotyzm rozwoju), wie er von Bronisław Komorowski in seiner Antrittsrede skizziert wurde.
Der traditionelle Patriotismus stellt Polen selbst stark heraus (Polska najważniejsza – Polen ist das Wichtigste). Eine starke Position Polens in Europa und in der Welt, der Einsatz für nationale Interessen wird als beste Investition in die Zukunft verstanden. Der Publizist Robert Kuraszkiewicz spricht in diesem Kontext von einer Politik des zeitgenössischen Patriotismus, der nicht sentimental an die Vergangenheit anknüpfe, sondern Voraussetzung für den zivilisatorischen Erfolg Polens sei. »Nur eine starke und integrierte Gemeinschaft, die sich ihrer Identität bewusst« sei, könne Grundlage für derartige Hoffnungen sein. Stark verankert in diesem traditionell verstandenen Patriotismus sind aber auch nationale Symbole, wie der Warschauer Aufstand oder Katyn. Es wird die affektive Seite der kollektiven Identität und des Patriotismus angesprochen und nicht zu Unrecht die Instrumentalisierung des Patriotismus zu kommunistischen Zeiten angeprangert. Bestandteil des traditionell verstanden Patriotismus ist auch die katholische Religion, sind die Kreuze in den Schulen, deren Entfernung Lech Kaczyński als Präsident im Zusammenhang mit dem EU-Vertrag von Lissabon ablehnte und sie zum Bestandteil der polnischen Traditionen erklärte.
Eng verknüpft mit dem traditionellen Patriotismus sind demnach auch die katholische Religion und christliche Werte, wie es in Texten zur patriotischen Erziehung von Priestern formuliert wird. Eine gute Kenntnis der polnischen Geschichte, der nationalen Feiertage, der polnischen Traditionen sind danach Bestandteil des Patriotismus. Aber die Aufforderung zu einer aktiven Bürgerhaltung zeigt auch die republikanische Tradition.
Diesem traditionellen Patriotismus ist in den letzten Monaten gern ein Modernisierungspatriotismus gegenüber gestellt worden. Autoren wie der Historiker Jerzy Jedlicki oder der Juraprofessor Wojciech Sadurski betonen, dass das Gemeinwohl im Mittelpunkt stehen solle, nicht aber der Ausschluss des Anderen, der religiöse oder nationale Gefühle nicht teile. Jedlicki betont allerdings auch, dass sich der romantische Patriotismus nach dem Flugzeugunglück von Smolensk bewährt habe, da er die Nation in der Trauer zusammengeführt habe. Allerdings wendet er sich klar gegen die Instrumentalisierung des romantischen Paradigmas in den Präsidentschaftswahlen. Sadurski geht noch einen Schritt weiter und spricht vom moralischen Terror, der im Extrem durch das Überbetonen des Patriotismus ausgeübt werde. Daraus folgert er, dass Patriotismus erstens keineswegs verpflichtend sei, dass er zweitens wichtige emotionale Bedürfnisse abdecke und dass er sich drittens mit dem Kollektiv identifiziere, aber dazu gehört für ihn auch ein Gefühl von Scham für von Mitgliedern der Gemeinschaft ausgeübtes Unrecht. Er plädiert somit für eine reflexive Komponente des Patriotismus, so wie er im Ansatz des kosmopolitischen Erinnerns der israelischen Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider vorgeschlagen wird.
Andere Autoren sprechen im Rahmen des Modernisierungspatriotismus vom zeitgenössischen Patriotismus, vom Patriotismus der Zusammenarbeit statt des Streites und knüpfen wie Präsident Komorowski an die tägliche Arbeit und an Einstellungen der Bürger an. Für den Politologen Kazimierz Łastawski ist Aufopferung für das Land heute weniger gefragt als Redlichkeit und Rationalität des Handelns. Auch Ministerpräsident Donald Tusk (PO) appellierte anlässlich der Feierlichkeiten zum dreißigsten Jahrestag der Entstehung der Gewerkschaft Solidarność auf deren Jubiläumskongress im August dieses Jahres daran, niemanden aus der Gemeinschaft auszuschließen, während bei der gleichen Gelegenheit Jarosław Kaczyński daran erinnert, dass sich die Gewerkschaft Solidarność in der Verteidigung der Arbeiterrechte immer auf die Nation, den Patriotismus berief. Es sei eine republikanische Bewegung gewesen, die sich für die Gegenwart der Religion im öffentlichen Raum ausgesprochen habe. Der Regisseur Kazimierz Kutz, zurzeit Abgeordneter der PO im Sejm, drückt die Kritik am traditionellen Patriotismus wohl am drastischsten aus: »Wir verlieren viel Zeit mit dem Gequassel über das Polentum, hauptsächlich in national-katholischen Kategorien. Nützlicher ist das Rasenmähen oder das Kartoffelschälen für das Mittagessen.« Ob sich ein derart utilitaristisches Herangehen an die Nation und das Vaterland allerdings in Krisenzeiten bewährt und geeignet ist, z. B. kollektive Trauer auszudrücken, darf doch bezweifelt werden.
Gemeinsam ist beiden Varianten des Patriotismus sicherlich die Verbundenheit mit der polnischen republikanischen Tradition, so dass auch der traditionell verstandene Patriotismus in seiner normalen Ausprägung nicht mit Nationalismus gleichgesetzt werden darf. Der besondere Stellenwert der Religion für den Patriotismus und die kollektive Identität der Polen wurden nach Smolensk besonders im Gedenken an das verstorbene Präsidentenpaar deutlich.
Kirche und Nation
Nach dem Tod von Präsident Lech Kaczyński hatten Pfadfinderorganisationen vor dem Präsidentenpalast ein großes Kreuz aufgestellt, um der Trauer Ausdruck zu verleihen. Nach den Präsidentschaftswahlen und noch gut drei Wochen vor seiner Amtseinführung am 6. August hatten der neu gewählte Präsident Komorowski und auch andere Vertreter der PO angekündigt, dass dieses Kreuz entfernt werde, da es sich um ein religiöses Symbol handele, dessen Platz nicht vor einem staatlichen Gebäude, sondern an einem Ort des Kultes sein sollte. Daher wurde zwischen Präsidialadministration, der Warschauer Kurie, der akademischen Seelsorge und Pfadfinderorganisationen vereinbart, es in die nahe gelegene Kirche der Heiligen Anna zu bringen. Dieser für den 3. August geplante Transfer rief den Widerstand von PiS und eines Teils der Öffentlichkeit hervor. Ein Protestkomitee formierte sich und aufgrund des Widerstands wurde die Entfernung des Kreuzes abgesagt. Daraufhin wurde am 9. August eine Demonstration von einigen Tausend Menschen organisiert, die sich für die Entfernung des Kreuzes aussprachen. Die Auseinandersetzung um Symbole und die Deutung der Smolensker Katastrophe war damit auf der Straße angekommen. Für Jarosław Kaczyński und PiS besteht die einzige Möglichkeit, den Streit zu schlichten, darin, ein würdiges Denkmal an Stelle des Kreuzes zu errichten, und zwar gleichfalls vor dem Präsidentenpalast. Die von der Präsidialadministration im Expresstempo am 12. August angebrachte Gedenktafel am Präsidentenpalast, die die Opfer der Smolensker Katastrophe und auch das Kreuz erwähnt, ist für PiS und die Verteidiger des Kreuzes keine angemessene Würdigung, zumal diese Aktion mit den Verteidigern des Kreuzes nicht abgestimmt wurde.
Der Streit um das Kreuz nahm also bisweilen groteske Züge an mit polemischen und scharfen Angriffen auf beiden Seiten. Dabei ging es nicht nur um das Gedenken an den tödlich verunglückten Präsidenten, sondern auch um die Verteidigung des Kreuzes als eines polnischen nationalen Symbols in einem öffentlichen Raum. Die katholische Kirche war dabei selbst gespalten. Erzbischof Józef Michalik aus Przemyśl, zugleich Vorsitzender der polnischen Bischofskonferenz, sprach davon, dass das Kreuz in politische Auseinandersetzungen hineingezogen worden sei, und auch der Krakauer Erzbischof Stanisław Dziwisz erklärte, dass das Kreuz nicht das Eigentum nur einer politischen Gruppe sei. Auch weitere Erzbischöfe wie Józef Życiński aus Lublin oder Kazimierz Nycz aus Warschau verurteilten die Ausnutzung des Kreuzes zu politischen Zwecken. Dementsprechend appellierte der Episkopat an die Verteidiger des Kreuzes, dessen Verlegung in die Kirche der Heiligen Anna zu gestatten. Allerdings war der Episkopat in dieser Frage geteilt. Der Danziger Erzbischof Sławoj Leszek Głódź erinnerte an die Notwendigkeit, ein würdiges nationales Denkmal zu errichten und Andrzej Dzięga, Erzbischof von Stettin-Cammin, warnte gar vor einer Entfernung des Kreuzes!
Schließlich nutze auch die polnische Linke, die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), die Situation und forderte vehement eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Dieses Vorgehen wurde von konservativen Publizisten als Gefahr des Zapaterismus beschrieben, ein Neologismus, der an den sozialistischen spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero anknüpft. Für Jarosław Kaczyński ist der Zapaterismus gleichbedeutend mit der Entfernung aller religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum. Er hatte Anfang August in einem Interview auf den Vorwurf des Chefredakteurs der Tageszeitung Rzeczpospolita, Paweł Lisicki, reagiert, der ihm und Präsident Komorowski vorgeworfen hatte, durch ihre Handlungen ihrerseits eine antichristliche Linke stark zu machen. Präsident Komorowski hat inzwischen auch zu verstehen gegeben, dass er sich für ein Denkmal einsetzen wird, wobei der genaue Platz noch geklärt werden müsse.
Die sehr scharfen Auseinandersetzungen sind allerdings nicht nur mit der politischen Konfrontation im Umfeld der Präsidentschaftswahlen zu erklären, sondern auch durch den Umstand, dass das Kreuz für viele Polen mit der polnischen Nation und damit auch mit ihren patriotischen Gefühlen verbunden ist, die sie durch die Entfernung des Kreuzes gefährdet sehen. Dabei zeichnen Umfragen ein differenziertes Bild des polnischen Patriotismus der letzten Jahre.
Kleine Heimat – was ist des Polen Vaterland?
Untersuchen des polnischen Soziologen Andrzej Szpociński belegen Veränderungen im Nationalgefühl der Polen und in ihrer Einstellung gegenüber der Vergangenheit. Ihm zufolge findet eine zunehmende Individualisierung der Vergangenheit statt, so dass kollektive Werte zugunsten persönlich-individueller Werte an Bedeutung verlieren würden. Zudem erfolge eine Privatisierung der Geschichte, wie er es nennt, d. h. mehr und mehr gerate die Geschichte kleinerer Gruppen, lokaler Gemeinschaften oder von Familien in den Fokus.
Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CBOS (Centrum Badania Opinii Społecznej – Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung) belegen passend dazu, dass die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, die anderen Umfragen zufolge den stärksten Beweis für den Patriotismus der Polen lieferten, unter den Geschehnissen, auf die die Polen stolz sind, allmählich hinter den Fall des Kommunismus, der Gewerkschaft Solidarność und der Wahl des Papstes Johannes Paul II. zurücktreten. Deutlich wird hier der Unterschied zwischen den Generationen. Auf die Frage, was unter Patriotismus zu verstehen sei, wird an erster Stelle sehr allgemein die Liebe zum Vaterland erwähnt. Religion wird nur von einem Prozent der Befragten dazu gerechnet, aber auch ein guter Bürger zu sein und das Recht zu achten, zählen für die Polen nur in verschwindendem Maße zum Patriotismus. Religiöser Kult um die Nation findet damit ebenso wenig einen deutlichen Niederschlag im patriotischen Denken wie ein wie auch immer gearteter Modernisierungspatriotismus.
Bei Umfragen zu den am meisten akzeptierten Werten kommt dem Patriotismus wie auch der Religion lediglich ein mittlerer Rang zu. Die Zeiten der Auseinandersetzungen gegen deutsche Besatzung und sowjetische Dominanz, die eine Mobilisierung nationaler und religiöser Werte erforderlich machten, gehören eben seit Jahrzehnten der Vergangenheit an.
An Bedeutung gewinnt demgegenüber der lokale Patriotismus, die Verbindung mit der »kleinen Heimat« (mała ojczyzna), ohne dass dieser Ort eine solch emotionale Aufladung erfährt wie das große Vaterland in Zeiten des Krieges. Es ist das private Vaterland, das dem ideellen Vaterland, um an eine Unterscheidung des polnischen Soziologen Stanisław Ossowski aus den 1960er Jahren anzuknüpfen, gegenwärtig den Rang abläuft – trotz der Auseinandersetzungen um das Kreuz vor dem Präsidentenpalast. Hier kann es wohl auch am ehesten zur Erneuerung von Gemeinschaft und Werten kommen, im lokalen Rahmen, wie es der amerikanische Moralphilosoph Alasdair MacIntyre, ein Vertreter des Republikanismus, fordert. Im Einklang mit dieser Entwicklung wird der polnische Patriotismus pluraler, bürgernäher und republikanischer. Was könnte besser in die polnischen Traditionen passen?