Zum Minderheitenstatus der polnischsprachigen Migranten in Deutschland

Von Andrzej Kaluza (Darmstadt)

Zusammenfassung
Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag von 1991 sichert Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen und Angehörigen der Gruppe deutscher Staatsbürger mit polnischer Abstammung oder Bekenntnis zur polnischen Sprache, Kultur oder Tradition vergleichbare Rechte zu. Die etwa 300.000 polnischen Staatsbürger, die sich als Deutsche verstehen, werden nicht nur durch den bilateralen Vertrag, sondern auch durch den polnischen Gesetzgeber als Minderheit anerkannt und genießen dadurch bestimmte Förderrechte (Bildung, Kultur, Medien) von Seiten des Staates. Dagegen hat die polnischsprachige Gruppe in Deutschland formalrechtlich nicht den Status einer nationalen Minderheit, da sie nicht zu den traditionellen in Deutschland ansässigen Minderheiten zählt, sondern aus Migranten besteht. Vertreter der »Polonia«-Organisationen in Deutschland streben diesen Status dennoch an. Der Autor weist darauf hin, dass sowohl die historischen Argumente wie auch die Ausdifferenzierung der Selbstidentifikation der Angehörigen der polnischen Gruppe in Deutschland den Status einer nationalen Minderheit nicht begründen können, gleichwohl aus dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag einzulösende Verpflichtungen (z. B. Förderung des Polnischen als Muttersprache) bestehen.

Als 20 Jahre nach Abschluss des deutsch-polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 an der überwiegend positiven Bilanzierung gearbeitet wurde, rückte das Scheitern einer gemeinsamen Erklärung beider Staaten zur Lage der sog. »polnischen Gruppe/Minderheit« in Deutschland in den Vordergrund. Bereits seit Frühjahr 2010 waren drei Arbeitsgruppen beauftragt, Forderungen von Organisationen der »Polonia« in Deutschland zu identifizieren und Möglichkeiten ihrer Erfüllung zu überprüfen. Dass damals Vertreter dieser Verbände mit am Tisch saßen, werteten diese als ihren großen Erfolg. Bisher waren sie nämlich von den Behörden hinsichtlich ihrer Seriosität und Professionalität nicht selten mit Argwohn beäugt worden.

Die »Polonia«-Organisationen setzten sich gleich mehrere Ziele. Kurzfristig, im Vorfeld der Vertragsevaluierung, ging es um symbolische Politik: die Rehabilitierung der »Polonia«-Vertreter, die nach 1939 Repressalien des NS-Regimes ausgesetzt gewesen und in deutschen Konzentrationslagern als politische Gefangene misshandelt worden waren (etwa 1.200 Aktivisten hatten so ihr Leben verloren), die Entschädigung für das vom NS-Staat beschlagnahmte Vermögen der polnischen Organisationen (Banken, Gewerkschaftskassen, Schulen), die Stärkung der kulturellen und sprachlichen Identität der in Deutschland lebenden Polen durch mehr für diese Zwecke bereitgestellte Finanzmittel sowie die Einrichtung eines Verbindungsbüros der »Polonia«-Organisationen in Berlin, das die Aktivitäten der einzelnen Verbände koordinieren und unterstützen soll. Alle diese Forderungen wurden im Laufe der Gespräche von der deutschen Seite aufgegriffen; eine große, nicht nur symbolische Bedeutung hatte dabei die Entschließung des Bundestags vom 10. Juni 2011, in der all jene Punkte genannt sind (s. Quelle 1 im Anhang). Darüber hinaus wird in Bochum ein Dokumentationszentrum für die Geschichte der »Polonia« in Deutschland eingerichtet.

Allerdings ging es noch um ein weit wichtigeres Ziel, das nicht erreicht werden konnte und das letztlich zum Eklat führte: die Zuerkennung eines Minderheitenstatus für die polnische Gruppe in Deutschland. Mit dem »Status« wäre die »Asymmetrie in der Definition« beider Volksgruppen, wie sie im Vertrag vorgenommen wurde, vom Tisch, denn der Vertrag spricht nur von einer deutschen Minderheit in Polen, nicht aber von einer polnischen Minderheit in Deutschland, so die »Polonia«-Vertreter. Sie hofften auf eine definitorische Gleichstellung seitens der Vertragspartner und verwiesen auf verschiedene Argumente, die diese Forderung untermauern sollten. Nur dann, so ihre einhellige Meinung, könnten die erhobenen Ansprüche auf eine aktive Förderung der Kultur und Muttersprache der in Deutschland lebenden Polen rechtlich verankert und dadurch vor Gerichten einklagbar werden. Auf diese Weise hätte u. a. die ihrer Meinung nach »skandalöse« und »willkürliche« Vergabepraxis finanzieller Mittel der deutschen Behörden gegenüber den »Polonia«-Organisationen ein Ende. Die Erlangung des Minderheitenstatus müsste demnach eine ganz andere finanzielle Ausstattung der Organisationen nach sich ziehen, die der Stärkung der sprachlichen und kulturellen Identität von ca. 1–2 Mio. in Deutschland lebenden Polen (nach der Definition der »Polonia«-Vertreter) zugute käme. Die gegenwärtige Regelung, nach der von deutscher Seite eine Summe von etwa 1,2 Mio. Euro für muttersprachlichen Unterricht (vorwiegend in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) und etwa 300.000 Euro (vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien/BKM) zur Stärkung der kulturellen Identität zur Verfügung gestellt werden, wurde als viel zu niedrig abgelehnt. Zum Vergleich wies man dabei auf die in Polen lebenden Deutschen (ca. 200.000–300.000) hin, die für kulturelle Projekte, Sprachunterricht und Medien vom polnischen Staat Zuwendungen in Höhe von ca. 80 Mio. PLN (ca. 20 Mio. Euro) erhalten. So begann eine zermürbende und frustrierende Schlacht um den Minderheitenstatus.

Auf der Suche nach einem »verlorenen« Minderheitenstatus

Wie erwähnt, definiert der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag von 1991 nur die Deutschen in Polen als eine »nationale Minderheit«. Darüber hinaus kommen diese in den Genuss des 2005 in Polen beschlossenen Minderheitengesetzes, das ihnen positive Förderrechte gewährt (ähnlich wie auch anderen nationalen Minderheiten, etwa den Ukrainern oder den Litauern). Auf der anderen Seite spricht der Vertrag in Artikel 20 von »Personen deutscher Staatsangehörigkeit, die polnischer Abstammung sind oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur, Tradition bekennen«. In vielen Interpretationen wird daraus eine »faktische Gleichstellung« beider Gruppen abgeleitet; von den Vertretern der »Polonia« wird dies jedoch in Hinblick auf die ihrer Meinung nach nicht transparente Vergabepraxis der Mittel durch die deutsche Seite immer wieder in Zweifel gezogen.

Für die »Polonia«-Organisationen und die sie unterstützenden polnischen Politiker und Medien stand seit Beginn der Verhandlungen außer Diskussion, dass nur die »Wiedererlangung« des rechtlichen Minderheitenstatus der Polen in Deutschland eine Änderung der Lage bringen würde. Dabei wurde auf die Geschichte verwiesen, die Argumente für die gegenwärtigen Ansprüche liefern sollte. Laut diesen Auffassungen steht außer Zweifel, dass die Polen in Deutschland bereits vor dem Zweiten Weltkrieg den Status einer »nationalen Minderheit« genossen haben, der ihnen 1940 durch das nationalsozialistische Deutschland entzogen worden sei. Diese Argumentation, die auch von den Autoren eines vom polnischen Außenministerium in Auftrag gegebenen Gutachtens unterstützt wurde (in dem betreffenden Teil findet sich keine rechtsgeschichtliche Analyse des Sachverhalts, sondern nur eine einzige Feststellung: »Nach dem Ersten Weltkrieg saßen im Jahr 1922 Vertreter der polnischen Minderheit, die von der Weimarer Republik offiziell anerkannt wurde, in 283 Kommunalparlamenten.«), machten sich auch viele polnische Politiker, ja sogar polnische wie deutsche Medien zu eigen. Selbst die Analyse des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) »Zwischen zwei Welten« von Sebastian Nagel (2009), die im Auftrag des BKM entstand, spricht in dem Kontext vom »Entzug des bis dato staatlich anerkannten Minderheitenstatus«. Diese Behauptung ist jedoch nicht belegt.

Die historischen Ansprüche der »Polonia« auf den Minderheitenstatus scheinen bei näherem Hinsehen diffus. Die rechtliche Lage ist unsicher und erlaubt es nicht, Zuwendungsansprüche in der Gegenwart zu stellen.

Auch wenn der Versailler Vertrag vom besiegten Deutschland allgemein Minderheitenschutz verlangte, hat die Weimarer Republik keine explizite Minderheitengesetzgebung auf den Weg gebracht. Im Juristendeutsch hießen die Vertreter der in Deutschland ansässigen Völker auch nicht Minderheiten, sondern »fremdsprachige Volksteile«. Die Weimarer Verfassung erwähnte sie in einem einzigen Artikel: »Die fremdsprachigen Volksteile des Reiches dürfen durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders im Gebrauch der Muttersprache beim Unterricht, sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden« (Art. 113), dem aber keine Ausführungsbestimmungen folgten. Folglich handelte es sich dabei um eine deklaratorische Absicht, wie sie in grundsätzlichen Rechtsakten wie Verfassungen üblich ist, nicht um ein unmittelbares Minderheitenrecht. Die negative Formulierung bringt einen allgemeinen Schutzgedanken zum Ausdruck, der besagt, dass der Staat zwar allgemeine Gruppenrechte gewähren, sich aber aus deren aktiver Gestaltung heraushalten soll. Vertreter national definierter Gruppen konnten sich auf diese Weise in der Weimarer Republik auf der Basis des allgemeinen Vereinsrechts autonom entwickeln; eine Verpflichtung des Staates, sie in ihren kulturellen Bedürfnissen zu fördern, resultierte daraus nicht. Dementsprechend deutlich sind die Worte von Jan Kaczmarek, dem Generalsekretär und Vordenker des Bundes der Polen in Deutschland, in seiner Zeitschrift »Kulturwehr« von 1929 zur deutschen Minderheitengesetzgebung: »Und eben das Fehlen von Ausführungsbestimmungen macht den Artikel (Art. 113 der Reichsverfassung – Anm. AK) leblos, macht ihn zum ›Fetzen Papier‹. Noch bedeutungsloser wird der Artikel durch seine negative Feststellung ›darf nicht beeinträchtigt werden‹ anstatt des unbedingt notwendigen ›muss gefördert werden‹.«

Nur auf dieser Rechtsgrundlage entstand 1922 der Bund der Polen, die bedeutendste polnische Organisation in der Zwischenkriegszeit, deren mitgliederstärkste Region der deutsche Teil Oberschlesiens war. Nach der Teilung Oberschlesiens im Jahre 1922 bestand dort laut einem zwischen Deutschland und Polen für 15 Jahre in Genf geschlossenen Vertrag ein garantiertes Minderheitenrecht, das auch staatliche Zuschüsse für den muttersprachlichen Unterricht vorsah. Dies wurde in der Praxis von der deutschen Seite nur zögerlich gewährt und galt eben nicht für ganz Deutschland.

In jüngster Zeit verweisen einige Diskussionsteilnehmer auf zwei Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialimus, die die Statusfrage untermauern sollen. Bevor der auf Gegenseitigkeit beruhende Minderheitenschutz in Oberschlesien mit dem Erlöschen des Genfer Vertrags 1937 außer Kraft gesetzt werden sollte, bemühten sich beide Regierungen um eine neue Regelung. Die Intention der deutschen Seite war es, auf diese Weise die Rechte der deutschen Gruppe in Polen (vor allem in Oberschlesien) zu garantieren. Das erklärt auch das aktive Bemühen der Nationalsozialisten um eine solche Vereinbarung mit Polen. Im Wortlaut der Übereinstimmenden Erklärung sucht man vergeblich nach Vereinbarungen, die eine aktive Förderung der polnischen Minderheit im nationalsozialistischen Deutschland bestätigen würden (s. Quelle 2). Auf einem anderen Blatt steht, dass diese Vereinbarung praktisch nicht in Kraft trat, ganz im Gegenteil, der Druck auf die polnischen Organisationen stieg kontinuierlich bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939.

Im Sommer 2010 verlangte der Berliner Anwalt Stefan Hambura in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, das formelle Verbot der polnischen Organisationen in Deutschland aus dem Jahr 1940 durch ein explizites Gesetz im Vorfeld des 20. Jahrestages des deutsch-polnischen Vertrags und des 70. Jahrestages des Weltkriegsausbruchs zurückzunehmen. Hambura verwies dabei auf eine »enorme symbolische Bedeutung« einer solchen Regelung. Er veröffentlichte eine bis dato kaum beachtete Verordnung (s. Quelle 3) vom 27. Februar 1940, die seiner Auffassung den Anspruch auf den Minderheitenstatus begründete. Die Veröffentlichung brachte die Diskussion – zumal unter einigen polnischen Politikern – neu ins Rollen. Abgesehen davon, dass das Hauptanliegen des Briefes ein rechtliches Eigentor war (das Bundesministerium der Justiz antwortete sinngemäß, dass alle Unrechtsakte des nationalsozialistischen Regimes mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 automatisch ungültig geworden sind, wenn sie inhaltlich im Widerspruch zum GG standen; die Aufhebung des Inhalts der besagten Regelung bedürfe also keines eigenen Aktes), fand sich darin auch kein Hinweis auf die rechtliche Aberkennung eines wie auch immer verbrieften Minderheitenstatus. Auch dieses Dokument spricht lediglich von »Organisationen der polnischen Volksgruppe«.

Die historischen Argumente sehen demnach dürftig aus: Außer einem allgemeinen Minderheitenschutz im Art. 113 der Reichsverfassung gab es in der Vorkriegszeit keine Rechtsakte, die den Polen in Deutschland den Status einer anerkannten Minderheit garantiert hätten. Die bloße Existenz von Organisationen darf hier nicht mit dem rechtlichen Status einer Volksgruppe verwechselt werden. Hinzu kommt, dass sich der Gedanke, eigene nationale Minderheiten aktiv in ihrer Identität zu fördern, erst nach dem Zweiten Weltkrieg völkerrechtlich durchgesetzt hatte.

Die Fixierung der »Polonia«-Organisationen auf die Statusfrage resultiert z. T. auch aus der Wahrnehmung der positiv formulierten Rechte der in Deutschland nach 1949 anerkannten nationalen Minderheiten, denn diese verpflichten den Staat (in der Regel die betroffenen Bundesländer), erhebliche finanzielle Zuschüsse zu gewähren, um die sprachliche und kulturelle Identität der Mitglieder dieser Gruppen zu fördern. In den Genuss dieser Mittel kommen aber ausschließlich Volksgruppen, die völkerrechtliche Kriterien erfüllen: Es handelt sich dabei um Gruppen von Menschen, die eine eigene nicht-deutsche Identität besitzen, gleichzeitig aber das Gebiet des deutschen Staates seit Generationen bewohnen. So haben z. B. die Dänen Minderheitenrechte, die ihnen ein deutsch-dänisches Abkommen von 1955 gewährt, die aber zumeist nur auf wenige Landkreise in Schleswig-Holstein beschränkt sind; ein aus Flensburg stammender Deutscher dänischer Herkunft kann dort einen dänischsprachigen Kindergarten für seine Nachkommen verlangen, nicht aber in Berlin. Ähnlich verhält es sich mit der Aufhebung der 5%-Hürde für politische Parteien, die für die Dänen nur in Schleswig-Holstein gilt.

Nach dieser Definition wären die Polen im Deutschland der Zwischenkriegszeit (insbesondere Oberschlesien) sicherlich auch als »Minderheit« zu fassen; die nach dem Krieg vorgenommenen Grenzänderungen schließen jedoch die territoriale Kontinuität, die damals gegeben war (Oberschlesien, Ostpreußen), aus. Da man annehmen muss, dass es die »Ruhr-Polen« nicht mehr als national definierte Gruppe gibt, gelten die nach 1945 aus Polen nach Deutschland eingewanderten Menschen hierzulande als Migranten. In der Frage des nationalen Minderheitenstatus, der bei den bilateralen Gesprächen 2010–2011 von »Polonia«-Organisationen (nicht von der polnischen Regierung!) gefordert wurde, konnten sich diese (trotz mehrerer »Versprecher« deutscher Politiker, die in der Öffentlichkeit von einer »polnischen Minderheit« sprachen) gegen die deutsche Rechtsauffassung demnach nicht durchsetzen. Dahinter standen neben den rechtlichen Gründen auch Befürchtungen, ein Präzedenzfall werde seitens zahlreicher Einwanderergruppen finanzielle Forderungen an den deutschen Staat hervorrufen. Übrigens gelten auch in anderen Ländern, in denen polnische Migranten leben, ähnliche Auffassungen: In keinem Land Westeuropas genießen eingewanderte Polen Minderheitenrechte, viele Länder (Frankreich, Großbritannien, USA) haben gar keine Minderheitengesetzgebung. Auch das Argument der »fehlenden Symmetrie« zieht in diesem Fall nicht, da Minderheiten objektiv vorhanden sind und nicht dadurch entstehen, dass ein anderer Staat (hier Polen) einem Teil seiner Bürger bestimmte Rechte gewährt. Die starke Fokussierung der Diskussion auf die Minderheitenfrage stellte sich als Sackgasse heraus.

Die polnische Gruppe in Deutschland – wen repräsentieren die »Polonia«-Organisationen?

Da die historischen Ansprüche nicht ganz überzeugen, bemühten sich Vertreter der »Polonia«, auch die hohe Zahl und die Aktivität der in Deutschland lebenden Polen als Argument für den Minderheitenstatus anzuführen. Hier ist wieder ein Rückgriff auf die oben genannte Definition im Vertrag von 1991 nützlich, da sie einen überwiegenden Teil der Migranten aus Polen, die heute deutsche Staatsbürger sind, umfasst. Es sind in der Regel Aussiedler und Spätaussiedler. Die meisten von ihnen haben Polen nach 1980 verlassen und besitzen heute de facto die doppelte (deutsche und polnische) Staatsbürgerschaft. Auswanderer, die das Land offiziell auf Antrag im Rahmen deutsch-polnischer Vereinbarungen (Familienzusammenführung) bis etwa 1982 verlassen haben, mussten dagegen bei der Ausreise auf ihre polnische Staatsbürgerschaft verzichten. In Deutschland leben heute aber auch ca. 400.000 Polen mit ausschließlich polnischem Pass. Sie sind von den Regelungen des Vertrags nicht direkt betroffen.

Den Löwenanteil der ca. 1,5 Mio. Menschen zählenden Gruppe stellen die Aussiedler bzw. die Spätaussiedler dar, die seit den 1950er Jahren in beide deutsche Staaten in der Regel freiwillig ausgewandert sind und ihre deutsche Volkszugehörigkeit in einem formellen Verfahren nachgewiesen haben. Darüber hinaus gehören dieser Gruppe polnische politische Emigranten aus der »Solidarność«-Zeit an (nach 1981 als anerkannte politische Flüchtlinge und De-facto-Flüchtlinge) sowie andere Personen aus Polen, die einen Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik erhalten und im Laufe der Zeit die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben (z. B. Ehepartner in binationalen Ehen).

Tatsächlich kamen die Migranten aus Polen nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in mehreren »Wellen«. Dabei muss man eine gewisse Zahl von Polen berücksichtigen, die sich 1945 im Zuge des Kriegsgeschehens (Zwangsarbeiter, KZ-Insassen, Soldaten der alliierten Armeen) in Deutschland befunden und später zu einem (kleinen) Teil sogar niedergelassen hat. Nach der Zeit von Flucht (1944–1945) und Vertreibung (1945–1947) blieben in Polen zunächst nur noch Gruppen von Deutschen sowie eine relativ große Gruppe von sog. »Autochthonen«, d. h. einer in der Regel zweisprachigen Grenzbevölkerung, Menschen, die nach Art. 116 GG weiterhin deutsche Staatsbürger waren, in der offiziellen polnischen Lesart aber gleichzeitig als »germanisierte« Polen aufgefasst wurden und den Anspruch Polens auf die sog. »Wiedergewonnenen Gebiete« untermauern sollten. Aus diesen Kreisen rekrutierten sich Aussiedler und Spätaussiedler. Zwischen 1950 und 1979 emigrierten so aus Polen im Zuge der humanitär begründeten »Familienzusammenführung« über 600.000 Menschen in beide deutsche Staaten, zwischen 1980 und 1999 waren es weitere 830.000 Personen, die meisten davon in den Jahren 1987 bis 1990. Sie alle wurden mit dem bestmöglichen Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik aufgenommen und nach kurzer Zeit eingebürgert. Dadurch ergaben sich für die Betroffenen weitgehende politische, aber auch soziale Rechte. Dazu zählten die Anerkennung der Berufsausbildung, der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt sowie eine großzügige Integration in die deutschen Sozialversicherungssysteme. Eine andere Situation erwartete alle diejenigen, die keine Ansprüche auf die deutsche Staatsbürgerschaft erheben konnten, sondern als Flüchtlinge und Asylbewerber kamen. Aber auch sie konnten nach 1990 ihren Aufenthaltsstatus festigen und in Deutschland bleiben, viele wurden deutsche Staatsbürger.

Bei näherer Betrachtung der großen Aussiedlergruppe finden sich jedoch gravierende Unterschiede: Während die meisten Aussiedler bis etwa 1985 zumindest teilweise noch deutsch sozialisiert waren und heute nur noch wenige Kontakte zu ihrer alten Heimat pflegen, waren unter den Ankömmlingen der späten 1980er Jahre viele junge Menschen, die ohne Deutschkenntnisse einreisten und meistens nur polnisch sozialisiert waren. Sie entwickelten verschiedene Anpassungsstrategien an die neue Umgebung; viele von ihnen wurden »unsichtbar«. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich heute Mitglieder und Vertreter der die polnische Identität betonenden »Polonia«-Organisationen.

Marek Wójcicki, der Chef des Bundes der Polen »Rodło«, bezeichnet den Großteil der Migranten aus Polen eindimensional als »Polen«. In einem Interview in der Tageszeitung »Die Welt« vom 12. Januar 2010 sagte er: »Ich bin als Aussiedler gekommen, ich war im Aussiedlerheim. Aber ich bin Pole. Das war eine schizophrene Zeit: Man musste sich als Deutscher ausgeben, damit man in den Westen kam. Ich denke, mindestens eine Million dieser Aussiedler fühlen sich als Polen.«

Diese Wahrnehmung teilen die Vertreter der »Polonia«-Organisationen mit konservativen Politikern sowie den Medien des nationalistischen politischen Spektrums in Polen, etwa aus dem Verlag von Pater Tadeusz Rydzyk (»Radio Maryja«, »Nasz Dziennik«, »Gazeta Polska«). Mit dem polnischen Anspruch auf die nationale Identität für die gesamte Gruppe (»bis zu 2 Mio.«) ist gleichzeitig der Vorwurf an den deutschen Staat verbunden, der angeblich durch entsprechende Vorenthaltung der Minderheitenrechte »bewusst die Assimilierung polnischer Migranten fördere«. Dabei wurden nicht nur Stimmen von politischen Hardlinern laut; in den Sog der Forderungen nach Unterlassung assimilatorischer Praktiken gerieten auch Politiker, die man sonst nicht der Panikmache verdächtigen würde. So behauptete etwa auch der damalige Chef der Auslandspolen-Vereinigung »Wspólnota Polska«, Maciej Płażyński, in einem Beitrag in der Tageszeitung »Rzeczpospolita«, dass die Polen in Deutschland einer Politik nach der Devise »ein Reich, ein Volk« ausgesetzt seien: »Da hat sich seit Bismarcks Zeiten nichts geändert!«

Nur selten kommt es den polnischen Beteiligten in den Sinn, dass sie öffentlich einen Etikettenschwindel für sich reklamieren und von dem deutschen Partner dessen nachträgliche Billigung verlangen. Sicherlich sind Nuancen in der Wahrnehmung der Identitäten innerhalb der heterogenen Gruppe der Migranten aus Polen in Deutschland wichtig (»hybride Identitäten«). Dennoch fällt es deutschen Politikern schwer zuzugeben, in der Einwanderungspolitik gegenüber Spätaussiedlern aus Polen Fehler gemacht zu haben. Andernfalls müsste es ja heißen, dass eine große Gruppe von damaligen Einwanderern bei den Anerkennungsverfahren gelogen hätte, um sich durch die (verhältnismäßig einfache) Einbeziehung in den Staatsverband und das Sozialsystem der Bundesrepublik politische und materielle Rechte zu erschleichen. Zu einfach scheint die Argumentation der »Polonia«-Aktivisten zu sein, man müsse diese Lage heute widerspruchslos akzeptieren. Diese Einstellung verkennt die emotionale und materielle Leistung der deutschen Politik wie der Gesellschaft, die jahrzehntelang die Einwanderung der »Deutschstämmigen« aus dem Osten als Folgen des Krieges akzeptierte. Nun stellen sich »Deutschstämmige« aber in der Rhetorik der »Polonia« als »Polnischstämmige« heraus. Ihre Vertreter verlangen so vom deutschen Staat, doppelt »bedient« zu werden: Zunächst hatte sich dieser verpflichtet, Deutschkurse für die Betroffenen zu organisieren, weil diese bei ihrer Einreise angaben, an der Weitergabe der deutschen Sprache innerhalb und außerhalb der Familie durch die Maßnahmen des (kommunistischen – im Sinne »deutschfeindlichen«) polnischen Staates behindert worden zu sein. Heute will man aber denselben Staat in die Pflicht nehmen, die Förderung der polnischen (Mutter)Sprache und Kultur für dieselben Menschen und/oder deren Nachkommen staatlich zu organisieren und zu finanzieren und dieses Recht als flächendeckend einklagbar zu definieren. Dieser Aspekt entkräftet den Vorwurf, die deutsche Seite mache sich in der Minderheitenfrage selbst zur »Geisel ihres Rechtsstandpunkts«; es erklärt auch ein wenig die deutsche Befindlichkeit, die offiziell nicht immer klar zum Ausdruck kommt.

Dabei entsteht eine komplexe, ja schizophrene Situation: Der deutsch-polnische Vertrag meint zwar zwei verschiedene Gruppen von Menschen, die beim näheren Hinsehen aber austauschbar sind. Angehörige der deutschen Minderheit in Polen können – theoretisch wie praktisch – in die Bundesrepublik einreisen und hier in den Genuss der Regelungen für die polnischsprachige Gruppe kommen und umgekehrt: Deutsche Staatsbürger polnischer Herkunft können in Polen den Status eines Angehörigen der deutschen Minderheit für sich beanspruchen. Dies führt zu kuriosen Situationen: Während im Fussballbereich Wechselbeziehungen als Beispiele unproblematischer deutsch-polnischer Gegenwart aufgefasst werden (Lukas Podolski, Sebastian Boenisch, Eugen Polanski), wird andererseits die durch einen gewonnenen Prozess (bezüglich Eigentumsrückgabe) in ganz Polen bekannte Agnes Trawny in der polnischen öffentlichen Diskussion ausschließlich als »Deutsche« bezeichnet. Dabei müssten alle diejenigen, die von 2 Mio. Polen in Deutschland sprechen, Frau Trawny konsequenterweise als Polin betrachten, da sie vor einigen Jahrzehnten als Spätaussiedlerin nach Deutschland ging.

Bei aller Anspruchs- und Abwehrhaltung der offiziellen Gesprächspartner wird viel zu wenig auf die Betroffenen selbst geschaut. Nur ein kleiner Teil von ihnen ist überhaupt an der Arbeit der Organisationen der deutschen »Polonia« interessiert, geschweige denn aktiv. Die »Polonia« zählt zwar nach eigenen Angaben viele hundert Verbände, kann aber insgesamt nur auf wenige Mitglieder und Sympathisanten verweisen. Angesichts der ca. 1,5 Mio. Migranten aus Polen kann hier insgesamt nur von ein paar Hundert »Aktiven« in den Organisationen der »Polonia« gesprochen werden. Die früher dominierende Zerstrittenheit und die bis heute diffuse, da immer wieder die »Aufrechterhaltung der polnischen Identität« beschwörende Rhetorik ihrer Organisationen erschreckten viele, die ihr »Polnisch-Sein« auf eigene Art leben wollen.

Es bleibt noch einmal festzuhalten: Ein Großteil der Betroffenen ist an der politischen Tätigkeit der »Polonia« nicht interessiert; die stark deutsch sozialisierten Aussiedler haben bewusst ihre Brücken nach Polen abgebrochen, andere zeigen erfahrungsgemäß kein Interesse an deutsch-polnischen oder polnischen Belangen. Auch die viel beschworene »Generation Podolski« – die Kinder der in den 1970er und 1980er Jahren eingewanderten Aussiedler – erweist sich weitgehend als ein Phantom. Ihre Vertreter wuchsen zumeist ohne polnische Sprachkenntnisse auf und integrierten sich vollständig in die deutsche Gesellschaft; auf die wenigen Ausnahmen, die Menschen mit doppelter Identität, wird zwar in den Medien oft hingewiesen, ihre Zahl bleibt jedoch gering.

Zwar beklagen viele der betroffenen Spätaussiedler in Literatur, Lebensberichten und Interviews, dass sie sich nach der Ankunft in Deutschland einem enormen Anpassungsdruck ausgesetzt gefühlt hätten, den deutsche Behörden, die Schule oder Nachbarn auf sie ausübten. So haben sie es unterlassen, den polnischen Teil ihrer Biographie zu pflegen bzw. an ihre Kinder weiterzugeben. Diese Aussagen begründen u. a. die unter »Polonia«-Funktionären verbreitete These vom Interesse der deutschen Politik an der Assimilierung der polnischen Migranten. Bei näherer Betrachtung lassen sich die Ängste und Bedenken der Betroffenen zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Deutschland nicht direkt auf äußere Einwirkungen zurückführen. Sie waren sicher vorhanden, glichen aber mehr einem selbsterzeugten Druck, die bisherige Identität möglichst schnell zu verändern oder anzupassen (Name, Sprache, soziale Kontakte).

Der Glaube an die hohe Zahl der in Deutschland lebenden nationalbewussten »Polen« ist demnach seitens der »Polonia«-Funktionäre als Manipulation und seitens einiger polnischer Politiker bestenfalls als Naivität zu werten. Dabei ist es keineswegs klar, wen die »Polonia« eigentlich repräsentiert. Zum Vergleich: Auf eine viel breitere Basis können die über 7.000 Mitglieder der überall in Deutschland aktiven deutsch-polnischen Gesellschaften blicken, deren Landes- und Ortsverbände programmatisch dialogbetonte (deutsch-polnische, manchmal auch multikulturell definierte) Aktivitäten aufweisen. Angesichts der in die Millionen gehenden Zahl von Migranten aus Polen sind aber auch diese Gesellschaften eher eine Randerscheinung.

Wie geht es mit der »Polonia« weiter?

Aus heutiger Sicht kann durchaus von einem Erfolg der »Polonia«-Organisationen am Runden Tisch 2010–2011 gesprochen werden: Die von deutscher Seite unternommenen Schritte und zugesicherten Mittel werden die beschworene »Asymmetrie« im Umgang mit beiden Volksgruppen in beiden Ländern verringern. Auch die in der deutschen Politik zu spürende »neue Sensibilität« wird womöglich die Atmosphäre entspannen.

Die deutsche Seite kann ihrerseits einen Zeitplan entwickeln, wie und wann die angekündigten Maßnahmen für die polnische Gruppe realisiert werden. Von besonderer Brisanz sollten dabei die organisatorische Unterstützung und finanzielle Förderung des polnischen muttersprachlichen Unterrichts sein. Auf die Notwendigkeit eines größeren Engagements der deutschen Schulbehörden in diesem Bereich wies bereits vor Jahren der deutsch-polnische Gesprächskreis »Kopernikus-Gruppe« hin und zwar mit Blick auf das Erlernen des Polnischen als Mutter- und als Fremdsprache (s. Quelle 4). Heute steht die Forderung der »Polonia«-Organisationen im Raum, dass der Unterricht dann flächendeckend zu gewährleisten sei, wenn mindestens sieben Kinder an einer Schule dies verlangen. Die Gestaltung der Bildungsangebote obliegt hier den für Kultusaufgaben zuständigen Ländern, der Bund sollte die Sache jedoch als Priorität betrachten und die Länder finanziell unterstützen. Für den Anfang würde es sicherlich reichen, wenn in ausgewählten Schulen größerer Städte Polnisch als Muttersprache angeboten würde. Um die Kapazitäten zu nutzen und Synergieeffekte zu erzielen, sollte zugleich darüber nachgedacht werden, wie in den betroffenen Schulen/Städten Polnisch auch als Fremdsprache in den Fächerkanon der öffentlichen Schulen aufgenommen werden könnte (ein gymnasiales Lehrwerk wurde 2009 auf den Markt gebracht). Dies würde die Wahrnehmung der Sprache des Nachbarn erhöhen und ihre Anerkennung durch deutsche Schülerinnen und Schüler stärken. Hier sind mittlerweile auch erste Ergebnisse – etwa in Hessen – vorzuweisen.

In der Pflicht sind nun auch die »Polonia«-Aktivisten. Allerdings reicht es nicht, die Homepage einem »Lifting« zu unterziehen, um sich ein neues Image zu verpassen, denn hinter den Hochglanzbildern stehen immer noch oft die alten nationalbetonten Ideen. Es müssen neue Inhalte und gleichzeitig ein neues Bewusstsein geschaffen werden, die die Situation der in Deutschland lebenden »polnischen Gruppe« in moderneren Kategorien beschreiben. Mit der Aufwertung polnischen Lebens hierzulande, unterstrichen durch die Entschließung des Bundestags, kommt den Organisationen der »Polonia« eine neue Rolle zu – zu beweisen, dass (höhere) Finanzmittel nicht nur gefordert, sondern auch sinnvoll angelegt werden können. Bisher taten sich ihre Repräsentanten nicht mit Ideen hervor, die die »polnischen Massen« und die deutschen Zuwendungsgeber besonders beeindruckt hätten und gleichzeitig auch für die deutsche Mehrheitsgesellschaft attraktiv wären. Das müsste sich ändern, wollen die Organisationen der Polen in Deutschland glaubwürdig sein. Denn auch ohne den Minderheitenstatus kann man – das beweisen die nach Außen viel aktiveren deutsch-polnischen Gesellschaften – kulturell, gesellschaftlich und politisch etwas bewegen.

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Artikel

Zweieiige Zwillinge. PiS und Fidesz: Genotyp und Phänotyp

Von Kai-Olaf Lang
Die regierenden Parteien in Polen und Ungarn haben vieles gemeinsam. Beide streben einen neotraditionalistischen Umbau von Staat und Gesellschaft an. Demokratie verstehen sie als Mehrheitsherrschaft, das Mandat, das sie vom Volk an den Wahlurnen erhalten haben, soll nicht durch „checks and balances“ beschränkt werden. In der EU setzen PiS und Fidesz auf die Sicherung und den Ausbau nationalstaatlicher Hoheitsbereiche. Aufgrund außen- und europapolitischer Differenzen – insbesondere in der Sicherheits- und Russlandpolitik – ist allerdings keine nationalkonservative Achse in Ostmitteleuropa entstanden. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

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