Die polnische Außenpolitik im Schatten von Geschichte und Identität

Von Adam Balcer (Jan Nowak-Jeziorański-Kolleg für Osteuropa, Warschau)

Zusammenfassung
Die polnische Außenpolitik unterscheidet sich von der vieler anderer Länder durch ihre sehr starke Verflechtung mit der Geschichts- und Erinnerungspolitik sowie der Identitätspolitik. Dies tritt insbesondere in der polnischen Ostpolitik zutage, deren wichtigster Adressat die Ukraine ist. Ein wesentliches Merkmal ist die Bezugnahme auf die Kategorie »Zivilisation«, was die Wahrnehmung der äußeren Welt verengt. Um die von Geschichte und Identität geprägte Außenpolitik umzusetzen, wurde eine ausdifferenzierte institutionelle Infrastruktur aufgebaut. Die Vitalität dieser Politik wird dabei auch von der deutlichen Überrepräsentation von Historiker-Politikern in Positionen, die für die Gestaltung und Umsetzung der polnischen Außenpolitik verantwortlich sind, begünstigt. Hinzu kommt eine deutliche ideologische Einflussnahme durch Berufshistoriker in staatlichen Schlüsselinstitutionen.

Die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren in Polen stattgefundene zunehmende Verflechtung der Außenpolitik mit der Geschichts- und Identitätspolitik leitet sich aus der aktuell vorherrschenden ethnischen Ausprägung der polnischen nationalen Identität sowie dem Hauptnarrativ des historischen Gedächtnisses ab. Dieses fasst die Polen vor allem als ein Volk von Opfern und Helden auf. Die Verquickung von Geschichte, Identität und Außenpolitik zeigt sich besonders krass in der polnischen Ostpolitik, in der die Ukraine eine Schlüsselposition einnimmt. Diese Verflechtung ist eine gewichtige Belastung für die polnische Ostpolitik, denn sie wirkt wie eine Scheuklappe, die die Fähigkeit einschränkt, auf innovativere Art und Weise auf Osteuropa zu blicken. Das hat zur Folge, dass ein wichtiges Potential Polens ungenutzt bleibt. Diesen Stand der Dinge zu verändern, ist sehr schwierig, da wenig Selbstreflexion darüber besteht, dass es diese Scheuklappen gibt: Verbreitet ist die Meinung »die Polen kennen – im Unterschied zu den westeuropäischen Ländern – ganz Osteuropa, Russland inbegriffen, ganz hervorragend«. Zudem ist der kritische öffentliche Diskurs über die polnische nationale Identität und die historische Erinnerung beschränkt. Dieses Defizit betrifft wiederum auch die Reflexion der historischen Beziehungen der Polen zu den Nationen in Osteuropa. Leider ist in dieser Hinsicht nicht mit einer wirkungsvollen Reaktion linker und liberaler Kreise zu rechnen, da viele von ihnen in einer abgeschwächten Form das ethnisch begründete Identitätsnarrativ des Mainstreams, die These eines zivilisatorischen West-Ost-Gefälles sowie die Vision von Polen als Bollwerk des Westens teilen, sich dessen aber häufig nicht einmal bewusst sind.

Die am stärksten Geschädigten und die Heldenhaftesten

Die große Bedeutung der Geschichts- und Identitätspolitik für die polnische Außenpolitik ergibt sich aus der Prägung des polnischen historischen Gedächtnisses und der polnischen Identität. Joanna Konieczna-Sałamatin, Tomasz Stryjek und Natalia Otrishchenko, die vor einigen Jahren eine komplexe Untersuchung zum Thema polnisches und ukrainisches historisches Gedächtnis und Identität durchgeführt haben, stellen fest, dass »sich die Polen, wenn sie ihre Identifikation zum Ausdruck bringen wollen, […] häufiger, mit größerem emotionalem Engagement und unmissverständlicher auf historische Ereignisse aus der nationalen Geschichte beziehen, als das andere Nationen, zumindest in Mittel- und Osteuropa, tun.« Ein Beleg dafür ist den drei Wissenschaftlern zufolge der hohe Sättigungsgrad des öffentlichen Diskurses an Vergangenheitsbezügen sowie die Präsenz von historischen Themen in Medien aller Art. Ihre Untersuchungen zeigen auch, dass es in Polen eine große Unterstützung dafür gibt, Erinnerungspolitik als Instrument der internationalen Politik einzusetzen. Die Wissenschaftler sprechen hier von einer »tiefen Verankerung« der Identität der heute lebenden Polen in ihrer Geschichte. Sie leite sich daraus ab, wie die Polen ihre eigene Geschichte wahrnehmen – Geschichte als Grund stolz zu sein. In Befragungen, die das Meinungsforschungsinstitut CBOS vor knapp zehn Jahren durchgeführt hat, stimmten ca. 75 Prozent der Polen der Meinung zu, dass »die polnische Nation in ihrer Geschichte häufiger Unrecht erlitten hat als andere Nationen« sowie dass »die Polen stolz auf ihre Geschichte sein können, da sie edelmütiger als andere Nationen gehandelt haben«. Diese Einstellungen gehen mit einer sehr eingeschränkten Bereitschaft der deutlichen Mehrheit der Polen einher, die moralische Verantwortung für das von ihren Vorfahren an Vertretern anderer Nationen zugefügte Leid und verübte Straftaten anzunehmen.

Gleichzeitig zeigen weitere Untersuchungen von CBOS sowie anderen Meinungsforschungsinstituten wie IBRIS und Pew Research Center, dass sich in den letzten Jahren bei den Polen das Verständnis ihrer Identität v. a. als ethnische – und nicht als staatsbürgerliche – Identität verstärkt hat, mit negativer Einstellung gegenüber der Idee der Multikulturalität. Die Umfragen zeigen auch einen deutlichen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit, die sich gegen Migranten, v. a. gegen Muslime, People of Color und des Weiteren gegen Ukrainer, richtet (die Einstellung Letzteren gegenüber hat sich in den Jahren 2022/23, zu Anfang des russischen Angriffskrieges gegen das Land deutlich verbessert). Diese gesellschaftliche Stimmung und die Identitäts- und Geschichtspolitik der politischen Eliten bedingen sich gegenseitig, was zu einem deutlichen Anstieg der Unterstützung für die extreme Rechte sowie zu einer zunehmenden Identifikation mit dem Nationalismus in der weicheren Version des Mitte-rechts-Lagers führte. Diese gesellschaftlichen und politischen Trends fanden in den beiden Regierungsphasen von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), der »abgeschwächteren« Version der extremen Rechten, statt, die in den Jahren 2015–2023 die Regierung anführte. Der von ihr unterstützte Karol Nawrocki gewann im Juni 2025 im zweiten Wahlgang die Präsidentschaftswahlen, wobei im ersten Wahlgang die Kandidaten des rechten politischen Lagers (vom gemäßigten über den Mainstream bis zum extrem rechten Flügel) knapp 55 Prozent der Stimmen erlangten. Dieses politische Lager unterstützt entschieden die hier dargestellte Geschichtspolitik und bezeichnet sie als Politik des Stolzes. Sie schreibt sich in die gesellschaftliche Stimmung ein und erzeugt sie gleichzeitig mit.

Die polnische Vision der eigenen Vergangenheit

Die polnische Geschichts- und Identitätspolitik hat auch ein großes außenpolitisches Gewicht, denn sie betrifft die historischen Beziehungen zu anderen Nationen und wirkt sich auf die gegenwärtigen bilateralen Beziehungen aus, insbesondere zu Deutschland, Israel, Russland und der Ukraine. Berücksichtigt man die Anzahl der vom Sejm und Senat verabschiedeten Beschlüsse und Gesetze, der mit öffentlichen Geldern finanzierten Publikationen und Ausstellungen sowie Aussagen von Politikern in einflussreichen Positionen, muss man feststellen, dass die Ukraine der wichtigste Adressat der auf Geschichts- und Identitätspolitik gegründeten Außenpolitik Warschaus ist. Diese Situation ergibt sich aus der besonders komplizierten bilateralen Geschichte, die wesentliche Fundamente des polnischen historischen Gedächtnisses betrifft (dazu im Folgenden mehr), sowie aus der Anwesenheit einer umfangreichen ukrainischen Community (Migranten und Flüchtlinge) seit etwa zwanzig Jahren in Polen. Um die polnische Ukrainepolitik zu verstehen, muss sie in den größeren Kontext der polnischen historischen Wahrnehmung Osteuropas eingeordnet werden. Diese stützt sich (bewusst oder unbewusst) auf bestimmte Grundsätze, welche die polnische Geschichtsschreibung, Bildung sowie die Geschichtspolitik, auch in ihrer außenpolitischen Anwendung, dominieren.

Das Denken in den Kategorien der Zivilisation

Polen ist ein Land des Westens, der lateinischen Zivilisation, das auf einem höheren Niveau steht als der Osten und die östlichen Zivilisationen (das orthodoxe Byzanz, der Islam, Turan, die Nomaden der Eurasischen Steppe usw.). Daraus ergibt sich die historische zivilisatorische Mission Polens im Osten, die dem rechten politischen Lager zufolge mit einem Erfolg oder in der Deutung eines Teils der links und liberal eingestellten Kreise mit einer Niederlage endete. Die in Polen in den letzten Jahren zunehmende Popularität des Denkens in zivilisatorischen Kategorien findet sich in der sehr beunruhigenden Wiederanknüpfung polnischer Politiker und ihres intellektuellen Umfelds an die Zivilisationstheorie von Feliks Koneczny (1862–1949) wieder. Dessen Kenntnis anderer Kulturen war überwiegend sehr gering, seine Abneigung diesen gegenüber jedoch umso stärker. Koneczny hat die Zivilisationen hierarchisch eingeteilt und die These aufgestellt, dass die größte Gefahr für das lateinische Polen vonseiten der turanischen Zivilisation (Eurasische Steppe), der byzantinischen und der jüdischen Zivilisation ausgeht. Russen und Ukrainer (Kosaken) ordnete er der turanischen Zivilisation zu. Koneczny ist eine sehr wichtige Inspirationsquelle für den Historiker Andrzej Nowak, einen der wichtigsten Verfechter der Geschichtspolitik der PiS, andererseits aber auch für dessen Opponenten Jarosław Bratkiewicz, Direktor der Ost-Abteilung des Außenministeriums (2007–2010) und politischer Direktor des Außenministeriums (2010–2015). Er war einer der Hauptberater für Ostfragen von Außenminister Radosław Sikorski, der sich in den letzten Jahren für die Werbung für Bratkiewiczs Buch »Euroazjatyzm na wspak« einsetzte.

Polen als Bollwerk des Westens

Die These besagt, dass Polen seit Jahrhunderten die Freiheit des zivilisierten Westens/des lateinischen Europas vor dem Despotismus des barbarischen Ostens/Asiens/Russlands/Turans/Islams/Byzanz’ usw. verteidigt. Der Topos des Bollwerks wird vom Narrativ des polnischen Märtyrertums und Heroismus begleitet. Diese Selbstwahrnehmung wird von der Tatsache genährt, dass Polen an der Außengrenze der Europäischen Union und der NATO liegt. Radikal gestärkt wurde sie in den vergangenen Jahren durch den Vasallenstatus Belarus’ gegenüber Moskau, die Flüchtlings- und Migrationskrise an der polnisch-belarusischen Grenze und insbesondere durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Die Idealisierung der polnisch-litauischen Union (1385–1569) und der Ersten Republik Polen (1569–1795) sowie der polnischen Herrschaft/Präsenz in ihren Ostgebieten (seit 1340), den sogenannten Kresy

Die Idealisierung gründet darauf, dass nicht einmal in eingeschränktem Maße die Bereitschaft besteht, die Theorie des Postkolonialismus auf das polnische Erbe in Osteuropa (die aufgebauten Hierarchien, die polnische wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Dominanz) anzuwenden. Hier lässt sich feststellen, dass viele polnische Historiker und Politiker sehr eindeutige und einfache Thesen zum Thema koloniale Imperien westeuropäischer Großmächte aufstellen, indem sie sie als Monolith auffassen – das Wissen über die Thematik ist offenkundig sehr gering. Andere intellektuelle Milieus lehnen jene Idealisierung ab, betrachten aber auch nicht ausreichend ihre negativen Aspekte. Beispielsweise stellt die sogenannte Volksgeschichte, die in links und liberal eingestellten Kreisen an Popularität gewinnt, das Leiden der Bauern ins Zentrum des Interesses, erkennt aber nicht deren ethnische und religiöse Differenzierung und das andere Ausmaß von Ausbeutung und Gewalt gegenüber den Ruthenen in den Gebieten der heutigen Ukraine. Andere Vertreter unterstreichen dagegen, dass sich die Probleme der Ersten Republik aus der »Orientalisierung« durch »östliche« Kulturen infolge der Herrschaft über die Ostgebiete ergeben hätten. Die Vollinvasion des totalitären Russlands in die Ukraine 2022 hat allein die Selbstwahrnehmung Polens als Land bestärkt, das »den Standard edelmütiger Freiheit und Toleranz verbreitete und zu einem Magnet wurde, der auch in den kommenden Jahrhunderten das multiethnische Mosaik der Eliten unserer Region aufrechterhält« wie es Außenminister Radosław Sikorski bereits 2008 beschrieben hatte. Der Polonozentrismus bei der Wahrnehmung der Ostgebiete der einstigen Republik erkennt nur oberflächlich die ethnische und religiöse Vielfalt dieser Gebiete an und marginalisiert das historische Gedächtnis der anderen Nationen, was heute deren gleichberechtigte Behandlung vonseiten Polens erschwert.

Die Ukraine – ein Fallstudium

Berücksichtigt man diesen östlichen Kontext des polnischen historischen Gedächtnisses, ist es kein Zufall, dass das Thema Wolhynien das zentrale Element der Geschichts-Identitätspolitik der polnischen Außenpolitik gegenüber der Ukraine wurde, also die von ukrainischen Nationalisten in den Jahren 1943–1945 in den südöstlichen Gebieten der Zweiten Republik Polen verübten Verbrechen an der polnischen Bevölkerung. Sie werden von Polen offiziell als Völkermord anerkannt, was Kyjiw entschieden ablehnt. Beschlüsse, Äußerungen von Politikern und Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Thema Wolhynien rufen regelmäßig Spannungen in den polnisch-ukrainischen Beziehungen hervor. Mit Sicherheit begünstigt die in der Ukraine gegenwärtig herrschende affirmative Einstellung zu den ukrainischen Nationalisten – die für die Verbrechen an den Polen verantwortlich waren – und ihre Deutung als Unabhängigkeitskämpfer für ihr Land eine Verhärtung des polnischen Standpunktes, allerdings lässt sich diese Frage nicht nur auf die in der Ukraine verlaufenden Prozesse einschränken. Festzustellen ist, dass das Thema Wolhynien generell das wichtigste Motiv im polnischen historischen Narrativ insgesamt ist. Es ist zudem eine Art Versicherungspolice gegen eine kritische Selbstreflexion über die Gestalt der polnischen Identität sowie des historischen Gedächtnisses in Bezug auf Polen in Osteuropa. Vielmehr sind verschiedene polnische negative Vorstellungen von den Ukrainern im Kontext von Wolhynien tief in den oben dargestellten Topoi verankert. Diesen Stereotypen zufolge gehören die Ukrainer zum Osten (den Turaniern, byzantinisch, postsowjetisch usw.), das heißt barbarisch, zurückgeblieben, undankbar gegenüber dem zivilisatorischen Fortschritt, der dank des westlichen Polens erreicht werden konnte.

Das polnische Parlament fasst jedes Jahr einen Beschluss zur Wolhynien-Frage (im Juli 2025 auch ein Gesetz – siehe Rubrik »Dokumentation«, Anm.d.Red.), was sich in puncto Häufigkeit nicht mit dem Gedenken anderer, oft wichtigerer historischer Ereignisse vergleichen lässt. Trotz der bestehenden starken politischen Polarisierung in Polen bildete sich bei der Frage des Gedenkens an Wolhynien ein sehr breiter politischer Konsens heraus, der auch das linksorientierte politische Lager umfasst. Die vom Sejm verabschiedeten Beschlüsse werden von Jahr zu Jahr dogmatischer und rigider (der polnische Standpunkt als einzige Wahrheit, keinerlei Wahrnehmung irgendwelcher positiver Aspekte, die sich in der heutigen Situation zwischen Russland und der Ukraine als Erbe aus dem ukrainischen Nationalismus bestimmen lassen könnten). Beispielsweise stellt der Beschluss aus dem Jahr 2024 fest, dass »in der Ukraine eine zunehmende Popularität der Bezugnahme auf die Organisation der Ukrainischen Nationalisten und die Ukrainische Aufstandsarmee zu beobachten ist, weshalb der Sejm der Republik Polen festhält, dass auf staatlicher Ebene angestrebt werden muss, solcherart Einstellungen zu eliminieren« und »jegliche Versuche, die Wahrheit über das Massaker von Wolhynien zu relativieren, sowie Lügen und Verfälschungen in der Diskussion über dieses Ereignisses verurteilt«. Die fundamentale Bedeutung des Topos Wolhynien, der sich auf den Gegensatz »polnisches Opfer – ukrainischer Verbrecher« stützt, erschwert in Polen die kritische Reflexion der eigenen Verantwortung für historisches Unrecht und Verbrechen an den Ukrainern und ihren ruthenischen Vorfahren sehr. Ohne eine solche Reflexion und gleichzeitig eine kritischere Einstellung auch der Ukrainer zum Erbe des ukrainischen Nationalismus ist es schwer vorstellbar, dass sich die bisherigen historischen Konflikte zwischen Kyjiw und Warschau abschwächen werden.

Allerdings betreffen diese Konflikte auch fundamentale Fragen der Sicherheit und Geopolitik. Vor einigen Jahren haben polnische Politiker, insbesondere aus dem stark rechts orientierten Lager, begonnen, die Anerkennung der Verbrechen von Wolhynien als Völkermord durch die Ukraine zur wichtigsten Bedingung dafür zu erklären, dass Warschau die Mitgliedschaft Kyjiws in der Europäischen Union und der NATO unterstützt. Tatsächlich geht es ihnen generell darum, dass die Ukrainer die polnische Perspektive auf ein Thema ihrer eigenen Geschichte übernehmen. Die Frage, die polnische Unterstützung für die Mitgliedschaft der Ukraine in den euroatlantischen Strukturen von der ukrainischen Abrechnung mit der Vergangenheit abhängig zu machen, wurde zu einem der wichtigsten Themen des polnischen Präsidentschaftswahlkampfes in den Jahren 2024–2025. Die harte Haltung der Mehrheit der polnischen politischen Eliten kann auf eine breite gesellschaftliche Unterstützung zählen. In einer Umfrage, die im Internetportal Wirtualna Polska Anfang 2025 veröffentlicht wurde, stimmten knapp 60 Prozent der Polen der Meinung zu »ich kann mir keinen Beitritt der Ukraine in die EU und die NATO vorstellen, bevor sie nicht mit der Vergangenheit, das heißt dem Verbrechen von Wolhynien, abgerechnet hat«. Nur 25 Prozent waren anderer Meinung.

Historiker-Politiker in Schlüsselpositionen

Insbesondere der Präsidentschaftskandidat Karol Nawrocki konnte sich die Welle der antiukrainischen Stimmung zunutze machen und gewann damit im Juni 2025 die Wahl. Der neue Präsident personifiziert die starke Position der Historiker in der polnischen politischen Elite. In den Jahren 2017–2021 war er Direktor des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig (Gdańsk), eines der größten Museen in Polen, und in den Jahren 2021–2025 Präses des Instituts für Nationales Gedenken (dazu im Folgenden mehr). Seine engsten Mitarbeiter aus diesen beiden Institutionen bilden den harten Kern des Präsidialamtes. Chef des Büros für Nationale Sicherheit wurde der Geschichtsprofessor Sławomir Cenckiewicz, von 2016–2023 Direktor des Historischen Büros der Streitkräfte. Symptomatisch ist es, dass im November 2024 auf dem von der PiS organisierten Zivilgesellschaftlichen Kongress der oben bereits genannte Historiker Andrzej Nowak offiziell verkündete, dass Karol Nawrocki der von der PiS unterstützte »Kandidat der Bürger« in den Präsidentschaftswahlen ist. Nowak stellte auch dessen Lebenslauf vor und bezog sich dabei häufig auf historische Ereignisse, wobei er Parallelen zwischen diesen und der aktuellen Situation Polens entwarf. Nowak wurde am selben Tag zum Vorsitzenden des Bürgerkomitees zur Unterstützung Nawrockis ernannt. Zurzeit ist Nowak gesellschaftlicher Berater des Präsidenten und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Instituts für Nationales Gedenken.

Diese dominierende Repräsentanz von Historikern in Schlüsselpositionen betrifft nicht nur die präsidiale Administration. Politiker mit akademischer historischer Ausbildung spielen seit Jahren eine wichtige Rolle in der polnischen politischen Elite und gestalten die polnische Außenpolitik mit (diese liegt im Verantwortungsbereich des Ministerpräsidenten, des Außenministers, des Verteidigungsministers, des Sejm und Senats, u. a. mit ihren Auswärtigen Ausschüssen). Die Überrepräsentation speist sich insbesondere aus der PiS. Einen Abschluss in den Geschichtswissenschaften besitzen der ehemalige Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (2017–2023), zurzeit Vizechef der PiS und Vorsitzender der Fraktion Europäische Konservative und Reformer im Europaparlament, sowie Mariusz Błaszczak, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident und Verteidigungsminister, jetzt Vizeparteichef und Fraktionsvorsitzender der PiS. Historiker nehmen auch in der aktuellen politischen Elite eine starke Position in außenpolitischen Ämtern ein. Ein Studium der Geschichtswissenschaft absolvierte Donald Tusk, Ministerpräsident und Parteichef der konservativ-liberalen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), der Partei, die aktuell die höchsten Umfragewerte verzeichnet. Historiker sind des Weiteren die Vorsitzenden der Auswärtigen Ausschüsse des Sejm, Paweł Kowal, ehemaliger Vizeaußenminister und Chef des Rates für die Zusammenarbeit mit der Ukraine, und des Senats, der frühere Außenminister Grzegorz Schetyna.

Die institutionelle Infrastruktur

Die auf der Geschichts-Identitätspolitik gründende Außenpolitik Polens besitzt dank einer soliden institutionellen Basis ein großes Entwicklungspotential. Ein lang bewährtes Instrument der polnischen Kultur und Geschichte stellen die Polnischen Institute dar, die dem Außenministerium unterstellt sind. Ihr in den Statuten festgelegtes Ziel ist die Public Diplomacy und kulturelle Diplomatie, das heißt die Kommunikation des polnischen Staates mit den Gesellschaften anderer Länder. Mit den Polnischen Instituten im Ausland arbeiten inländische Kulturinstitutionen zusammen, die in ihre Statuten die internationale Zusammenarbeit aufgenommen haben. Dazu gehören u. a. das Adam-Mickiewicz-Institut, das Buchinstitut, das Theaterinstitut, das Nationale Frédéric-Chopin-Institut und das Polnische Institut für Filmkunst. Zurzeit sind weltweit 25 Institute aktiv, der bei weitem größte Teil in Europa und hier mit deutlicher Mehrheit in der Europäischen Union. Viele von ihnen wurden in den letzten 25 Jahren gegründet.

In dieser Zeit entstand auch eine Reihe neuer öffentlicher Einrichtungen, die sich der Geschichte widmen und ebenfalls im Ausland kulturelle und Public Diplomacy betreiben. Das unbestritten wichtigste von ihnen ist das bereits genannte Institut für Nationales Gedenken, das im Jahr 2000 seine Tätigkeit aufnahm. Es umfasst Organe und Strukturen in den Aufgabenfeldern Forschung, Bildung, Schutz des nationalen Erbes (Archive, Museen, Bibliotheken), Ermittlungsverfahren, Überprüfung von Geheimdiensttätigkeiten in der Zeit der Volksrepublik Polen, Recherche, Gedenken und Veröffentlichungen. Nachdem die PiS 2015 die Regierungsverantwortung übernommen hatte, wurden das Budget des Instituts und die Zahl seiner Mitarbeiter deutlich angehoben. Im Jahr 2025 umfasst sein Haushalt 140 Mio. Euro. Seit dem Jahr 2000 stieg er um das siebeneinhalbfache, also deutlich schneller als das Bruttoinlandsprodukt Polens. Zurzeit beschäftigt das Institut knapp 2.500 Personen. Die Leitung (die Mehrheit des Wissenschaftlichen Beirates des Instituts) steht dem neuen Staatpräsidenten ideologisch nahe.

Im Jahr 2006 wurde das Museum der Geschichte Polens gegründet. Vom Zeitpunkt der Gründung bis zum Ende der Bauarbeiten im Jahr 2023 vergingen 17 Jahre und die Kosten der Realisierung des Projekts beliefen sich (zusammen mit der ständigen Ausstellung) auf ca. 300 Mio. Euro. Es ist das teuerste Museum in der Geschichte Polens. Im Jahr 2008 wurde wiederum das Museum des Zweiten Weltkrieges gegründet. Sein Bau im Wert von mehr als 100 Mio. Euro wurde 2017 fertiggestellt, zwei Jahre nach dem Regierungsantritt der PiS. Die Regierung akzeptierte viele Bestandteile der Ausstellung nicht und tauschte außerdem die Leitung aus, was einen ernsten juristischen und politischen Konflikt auslöste. Die jüngste Einrichtung unter den neuen bedeutenden Institutionen, die sich mit der polnischen Geschichts-Identitätspolitik befassen, wurde 2017, bereits unter der PiS, gegründet – das Witold-Pilecki-Institut für Solidarität und Tapferkeit. Seit 2019 ist eine Zweigstelle in Berlin tätig. Im Zeitraum von sechs Jahren (2018–2024) erhielt es insgesamt mehr als 160 Mio. Euro. Im Jahr 2025 rief die Geschichtspolitik gegenüber Deutschland einen Konflikt im Institut hervor, der mit dem Austausch der Leitung beendet wurde.

Politik auf Steroiden

Die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Trends in Polen legen nahe, dass der deutliche Rechtsruck der polnischen Gesellschaft eine Entwicklung ist, die zunehmen und sich in den kommenden Parlamentswahlen im Jahr 2027 niederschlagen wird oder sogar früher im Falle vorgezogener Neuwahlen. In den kommenden Jahren ist eine weitere mehrprozentige Zunahme der Unterstützung für die extreme Rechte und der Rückgang kleinerer Mitte-rechts bis linker Gruppierungen bis unter die Fünf-Prozent-Hürde möglich. Ein solches zukünftiges rechtskonservatives bis äußerst rechtes Parlament wird höchstwahrscheinlich eine Regierung hervorbringen, die eine an der Geschichts-Identitätspolitik orientierte Außenpolitik auf einem bisher nicht bekannten Niveau betreibt (»Politik auf Steroiden«), mit Hilfe deutlich höherer finanzieller Unterstützung für die kulturelle und Public Diplomacy im Ausland sowie einer radikal durchsetzungsstarken legislativen Aktivität (Beschlüsse und Gesetze) auf dem Feld der auf andere Staaten ausgerichteten Erinnerungspolitik. Die Hauptadressaten dieses neuen Kurses werden die Ukraine und Deutschland sein. Im Falle der Ukraine wird man sich darauf einstellen müssen, dass Polen nach den Wahlen als Bedingung für den Beitritt der Ukraine zur NATO und zur EU die Abrechnung Kyjiws mit der Vergangenheit stellt, was die Übernahme der polnischen Geschichtsversion bedeuten wird.

Eine Ankündigung künftiger Probleme ist das von Präsident Nawrocki Ende September 2025 in den Sejm eingebrachte Gesetz, das die Ideologie der ukrainischen Nationalisten für illegal erklärt und sie mit dem Nationalsozialismus und Kommunismus gleichsetzt. Das Gesetz kann dank der Unterstützung eines Teils der Mitte-rechts orientierten Abgeordneten der Regierungskoalition sowie Stimmenthaltungen eine Mehrheit bekommen. Sein Inkrafttreten wird mit Sicherheit zu einer ernsten Krise in den bilateralen Beziehungen zwischen Kyjiw und Warschau führen. Die Ukraine hat bereits eine adäquate Reaktion auf eine solche mögliche Entscheidung angekündigt. Natürlich wäre die fundamentale Bedrohung für die Sicherheit Polens vonseiten Russlands ein wichtiger Aspekt, der den negativen Einfluss der Geschichtspolitik beider Länder auf die bilaterale Zusammenarbeit mäßigen könnte. Allerdings kann es sein, dass das große Potential, das in dieser Zusammenarbeit steckt, nicht genutzt wird, wenn die polnische Außenpolitik dauerhaft in den Schatten der Geschichte eintaucht und zur Geisel der fehlenden selbstkritischen Reflexion über die eigene Vergangenheit, das historische Gedächtnis und die eigene Identität wird.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Zum Weiterlesen

Analyse

Der Blick der Polen und der Ukrainer über ihre gemeinsame Grenze hinweg

Von Łukasz Wenerski
Seit den ersten Tagen der Proteste in der Ukraine haben sich polnische Politiker, Medien und gewöhnliche Bürger zugunsten einer friedlichen Lösung des Konflikts beim östlichen Nachbarn engagiert. Die polnischen Reaktionen auf die Situation in der Ukraine gehen jedoch weit über die Aktivitäten der politisch Verantwortlichen oder die Berichterstattung der Medien hinaus. Eine Antwort auf die Rechtsbeugung beim östlichen Nachbarn waren und sind Hunderte Aktionen von Bürgern und Nichtregierungsorganisationen, die mit den prodemokratischen Aktionen der Ukrainer sympathisieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was die polnische und die ukrainische Gesellschaft verbindet, wie sie sich wahrnehmen und welchen Platz sie für einander in Europa sehen. Diesen Fragen ging das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) in repräsentativen Befragungen von Polen und Ukrainern im Juli und August 2013 nach. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS